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Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

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Vom Hören (7)

Wenn ich das Wort "sentimental" höre, denke ich immer an meine alte Tante Minna selig. Im Grunde war sie ja ein harter Brocken, meine Tante, vom Leben gestählt, von der Mallorca-Sonne gegerbt, von Aquavit desinfiziert und von Verlusten geschmirgelt. Aber tief in ihrem rätselhaften Inneren köchelte irgendwo ein sentimentaler Kern vor sich hin, der bei Gelegenheit eruptiv an die Oberfläche schwappte. Eine solche Gelegenheit war zum Beispiel die Erinnerung an ihre legendäre Reise ins Engadin. Das Wetter: "ein Gedicht!" Das Essen: "ein Gedicht!" Die Landschaft: "ein Gedicht!" Das Hotel: "ein Gedicht!" Immer wieder diese hilflose Rührung, sobald einer auch nur "Engadin" sagte. Schade, dass Tante Minna keinen Sinn für Lyrik hatte. Wie oft hätte sie da rufen können: "Ein Gedicht!"

Das sentimentalische Hören

Tante Minna hat André Rieu nicht mehr erlebt. Ich bin sicher, ihr warmer Sentimentalitäts-Brei wäre wieder herausgekocht aus ihr. Rieus Publikum besteht aus Tausenden von Tante Minnas – aus Leuten, die, wie Rieu selbst sagt, "noch nie eine Geige gesehen haben", aber von der tiefen Wahrheit durchdrungen sind, dass André Rieu einer der größten lebenden Geiger sein muss. Ein Genie ist er auf jeden Fall: Hat er doch die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass sich die Musik von Johann Strauß und Franz Lehár "durch eine extreme Volksnähe" auszeichnet. Also spielt er alle diese Melodien, die alle Minnas dieser Welt in ihrer hilflosen Rührung "Stück für Stück mitsummen" können. Von seiner Website spricht der RTL-Paganini sogar geradezu in Tante Minnas versteckt brodelndes Herz: "Denkst du oft voller Verlangen und Heimweh an die TV-Aufnahmen in Cortona im letzten Jahr zurück?" Fehlt nur noch, dass er "Engadin" sagt.

Seine Liebe zur Musik beschreibt der Clayderman der Geige mit höchst originellen Worten: "Eines steht fest: Mein Leben ist die Musik. Musik ist für mich eins der wichtigsten Dinge. Ein Leben ohne Musik wäre für mich etwas Unerträgliches. Sie ist aber auch etwas sehr Schönes, nicht wahr?" Da nickt Tante Minna ergriffen und muss sich ein erstes kleines Tränchen verdrücken. Ein einziges Mal tat André Rieu einen Fehltritt, als er sagte: "Mein Traum ist es, die gesamte klassische Musik einem breiten Publikum zugänglich zu machen." Man stelle sich das vor: Schönberg im Musikantenstadl! Einige besorgte Stadtväter reagierten sofort und erteilten ihm Auftrittsverbot, zum Beispiel in der Bielefelder Seidenstickerhalle. Da machte Rieu dann doch lieber einen Rückzieher: Das Mitschunkeln funktioniert bei Walzern, Märschen und Musicalmelodien sowieso besser.

Kennen Sie eigentlich den Film "Die Geschichte vom weinenden Kamel"? Da weigert sich eine mongolische Kamelmutter, ihr Neugeborenes anzunehmen und zu säugen. Bevor es verhungert, holen die Kamelbauern lieber einen studierten Musiker und der geigt dem Kamel was, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Das Tier – seine Mundhaltung erinnert stark an meine alte Tante Minna – vergisst darüber seine verhärtete Seele, die Tränen brechen aus ihm heraus und es lässt sein Junges nach Lust und Laune saugen. Könnte das Muttertier sprechen, stammelte es vielleicht: "Ein Gedicht!" Die Musik ist aber auch etwas sehr Schönes, nicht wahr? Merke: Eine schluchzende Geige bringt jedes Kamel zum Heulen.

© 2004, 2008 Hans-Jürgen Schaal

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