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Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

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Vom Hören (16)

Was mich am Hörbuch am meisten stört, ist sein Name. Der Vorläufer des Hörbuchs war die Sprechplatte, und das war tatsächlich eine Platte, auf der gesprochen wurde. Doch falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Das Hörbuch ist gar kein Buch! Es ist im Normalfall eine CD, DVD, MP3-Datei oder Bandkassette mit gesprochenem Text. Abstrakt formuliert: ein Hör-Medium, das ein Lese-Medium ersetzen kann oder soll oder wird. Aber genau das möchten die Literaturmenschen, die Hörbücher produzieren, natürlich nicht zugeben. Denn Bücher sind Kultur, CDs sind ja nur Unterhaltung. Die Verlagsbranche ist unser Bildungsgewissen, die Musikbranche unsere Skandalchronik. Schlimm genug, dass Hörbücher – trotz dieses kulturbeflissenen Namens – mit dem vollen Mehrwertsteuersatz belastet sind, genauso wie profane Musik-CDs. Dabei hatten wir doch gelernt: Harry Potter ist Literatur, also Hochkultur, also mehrwertsteuerermäßigt. György Ligeti ist Musik, also schlichte Unterhaltung, also voll besteuert. Klare Sache.

Die Grammatik des Buchhörens

Ein „Hörbuch“ könnte ja auch ein Buch sein, das zum Hören anleitet. Oder ein Buch, bei dem es was zu hören gibt. Stellen Sie sich vor: Im Flugzeug sitzend, 10.000 Meter über Grund, eingesperrt in eine stickige Luftkonserve mit Turbinenbeschallung, beginnen Sie einen idyllischen Entwicklungsroman aus dem 19. Jahrhundert zu lesen – und dann, zur Beschreibung des taufrischen Ostersonntagmorgens von 1869 am Chiemsee, erklänge aus dem geöffneten Buchdeckel das passende Vogelgezwitscher! Das wäre schön! Doch aus wie vielen Büchern versuchte ich schon Töne herauszuschütteln – immer vergeblich! Selbst dem Hören innig verbundenen Titeln war nie der leiseste musikalische Klang zu entnehmen, und wenn man sie noch so entschlossen ans Ohr presste: nicht Thomas Manns Musikerroman „Doktor Faustus“ (sowohl gebunden wie broschiert), nicht John Clellon Holmes’ Jazzroman „The Horn“ (englisch und deutsch), nicht mal Metzlers Komponistenlexikon oder dem städtischen Telefonbuch! Wahrscheinlich gibt es gar keine Bücher zum Hören.

Das so genannte Hörbuch, das habe ich inzwischen gelernt, ist kein dem Hören dienendes oder mit dem Hören befasstes Buch, sondern ein Nicht-Buch (auf Buchhändlerdeutsch: ein Non-Book), das lediglich den zum Hören gebrachten Inhalt eines tatsächlichen Buches liefert. Natürlich wurde das Wort „Hörbuch“ in einem Buchverlag erfunden, von Kulturmenschen, die die CD-Branche verachten. Dafür lieben sie die deutsche Sprache, und Liebe kann leicht in Perversion umschlagen. Denn wären alle zusammengesetzten Wörter im Deutschen nach der Regel des Wortes „Hörbuch“ gebildet, wäre der Müllmann kein Mann, der dem Müll dient oder mit ihm zu tun hat, sondern lediglich der zum Müll gebrachte Inhalt eines Mannes. Oder nehmen wir ein dem „Hörbuch“ sehr ähnliches Wort: die Lesebrille. Sie dürfte dann keine Brille mehr sein, die dem Lesen dient, sondern wäre ein zum Lesen gebrachter Brilleninhalt. Praktisch eine ins Lese-Medium übersetzte Brille. Vielleicht die Buchstaben-Essenz einer Brille. B-r-i-l-l-e.

Ich sehe nur zwei Lösungen. Entweder: Wir benennen das Hörbuch um in Lese-CD, Literatur-DVD oder marketinggriffig in LitDisc. Oder: Wir übernehmen die neuen Grammatikregeln der Büchermenschen, die eben keine Hörmenschen sind und kein Ohr haben für falsche Sprachklänge. Dann machen wir aus dem Müllmann regelgerecht eine Humankraftentmüllung. Ähnliche Innovationen – wie Humankapital oder Wohlstandsmüll – wurden bereits mit dem Titel des „Unworts des Jahres“ gewürdigt. Bei diesem Sprachschlager-Grand-Prix sind laut Satzung startberechtigt: „einzelne Wörter oder Formulierungen aus der aktuellen öffentlichen Kommunikation, welche die Erfordernisse sachlicher Angemessenheit deutlich verfehlen“. Wann bewirbt sich das „Hörbuch“?

© 2006 Hans-Jürgen Schaal

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