NEWS





Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

Spezial
Nur auf hjs-jazz.de!

Vom Hören (15)

Von einem wahren Musikfreund darf man heute erwarten, dass er Mozart nicht mehr für den Gipfelpunkt der Musikentwicklung hält und dass er klanglich Komplexeres kennt als den Tristan-Akkord. Mit anderen Worten: Seine musikalische Auffassungsgabe darf über die Ära, als Fahrradpedal und Verbrennungsmotor erfunden wurden, mutig hinaus in Richtung Gegenwart drängen. Unser Musikfreund muss ja nicht gleich Adornos Forderung gehorchen, dass man sich der zeitgenössischen Musik nur mit aufgeschlagener Partitur nähern und dabei stets der Beziehung des Werks zum historischen Stand des Materials bewusst zu sein habe – nein, das wollen wir ihm dann doch nicht zumuten. Säßen im Avantgarde-Konzert nur die Hand voll Adornos unseres Erdballs, wäre der musikalische Fortschritt wohl durch keine Subvention mehr zu retten. Doch welche Attraktionen könnten einen normalen Menschen, einen Sub-Adorno, zur Neuen Musik locken?

Avantgarde entdecken

Attraktion eins: Musik ist Sinnlichkeit. Uns gefällt es, den Geschmack einer unbekannten exotischen Frucht zu erforschen, den Duft einer neuen Geliebten zu atmen oder über den sanft-rauen Stoff eines frisch gekauften Kleidungsstücks zu streichen. Genauso kann uns auch eine neuartige Klangfärbung gefallen, zum Beispiel eine Mixtur aus gestopfter Ventilposaune, elektrisch verstärkter Bratsche und stufenlos verstellbarem Haartrockner. Oder das sanfte Geblubber eines Synthesizers, basierend auf dem gesampleten Geräusch einer zerspringenden Glasflasche. Avantgarde ist der Lockruf von Freiheit und Abenteuer.

Attraktion zwei: Musik ist Ordnung. Und Ordnung imponiert uns desto mehr, je größer die Unordnung ist, die von ihr bezwungen wird. Postmoderne Gemischtmaterialien-Architektur, die Quanten- und Dark-Matter-Physik oder gar ein aufgeräumtes Kinderzimmer sind echte Triumphe des Ordnungswillens über die Allgegenwart des Chaos. Hier kann auch die zeitgenössische Musik punkten: Wer zerbröckelte tonale Bezüge und zerfaserte Zählzeiten in etwas halbwegs Schlüssig-Stringentes zu zwingen versteht, konkurriert erfolgreich mit jeder Notfallverordnung der U-Bahn-Betriebe.

Attraktion drei: Musik ist Leistung, wetten dass? Niemanden bewundern wir mehr als den innovativen Leistungssportler von heute, der 50 Reisklöße in 2 Minuten verdrücken, 20 Oldtimer-Motoren am Geräusch unterscheiden oder 1 Liter Sperma pro Tag absondern kann. Die musikalischen Entsprechungen dazu sind: 200 Noten in einem einzigen Takt, Intervalle über fünf Oktaven oder ein über 3 Minuten ausgehaltener Tubaton. So was imponiert.

Natürlich kann es für unseren Musikfreund noch andere Gründe geben, ein Avantgarde-Konzert zu besuchen. Zum Beispiel die Blondine in der ersten Reihe der zweiten Geige oder auch der kalifornische Chablis im Foyer. Aber das ist letztlich Geschmackssache, also zufällig. Halten wir uns an das Verlässliche, die Musik: Ein Avantgarde-Werk wie „17 Evaluationen für Picasso“ mit seinem klangabenteuerlichen Trio pentatonisch gestimmter Küchenrührgeräte, der durch tibetanische Meditationszirkel formal bezwungenen Endlosmetrik und den für das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmbaren Rekordtonhöhen auf der abgesägten Piccoloflöte musste einfach ein Erfolg werden. Sinnliche Ersterfahrung, Sieg des Ordnungsprinzips und physische Höchstleistung verbinden sich hier auf vorbildliche Weise. Mein Rat daher an alle zeitgenössischen Komponisten, die wirklich Erfolg haben wollen: Nur ja nicht mit gewöhnlichen Geigen ohne sportliche Anstrengung ein gewöhnliches Chaos produzieren!

© 2006 Hans-Jürgen Schaal

Zurück zum Inhaltsverzeichnis


Bild

01.05.2024
Jazz-Rezensionen im Mai: MATHEI FLOREA, CHRISTIAN MARIEN, SUSANNE ALT, TON, CÉLINE VOCCIA, MORITZ STAHL, JOHN SURMAN, CHARLES LLOYD (alle: Jazzthetik), LUZIA VON WYL, LASSY-ESKOLA, I AM THREE, ROGER KINTOPF (alle: Fidelity)

10.04.2024
Neue Jazz-Rezensionen im April: QUINTET WEST, EMILE PARISIEN, JOHANNES BIGGE, SUN ARK, MARY HALVORSON, FRANK WINGOLD, SANDRO ROY (alle: Jazz thing bzw. jazzthing.de)

08.04.2024
Aktuelle Artikel über SHORTY ROGERS (Brawoo), KRAUTROCK (Neue Musikzeitung) und den KEMPTENER JAZZFRÜHLING (Brawoo)

30.03.2024
Neues zur Klassik: BEETHOVENs Opus 133, der Komponist ISANG YUN, Alben mit Werken von LOUIS WAYNE BALLARD und französischer Musik für ZWEI PIANOS sowie ein BACH-Roman von ANNA ENQUIST (alle: Fidelity 172)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de