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Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

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Vom Hören (14)

Dank des Handys ist unser Bedürfnis nach Kommunikation um etwa 500 Prozent gestiegen. Kaum verlassen wir das Haus oder das Flugzeug, müssen wir auch schon telefonieren. Selbst elementare Ortsbestimmungen sind in unserem Leben zu essentiellen Mitteilungen gesteigert. „Hallo? Ja, grüß dich, ich bin’s. Ich, der Marco. Was? Ich verstehe dich so schlecht! Wo ich bin? In der S-Bahn. Gerade eingestiegen. Was? Kurz vorm Hauptbahnhof. Und du? Wo bist du? Was? Nein, wo du bist! Wo?“ Mobiles Telefonieren ist zum Volkssport geworden, weil es keine zusätzliche Zeit kostet. Zu Hause kann man telefonieren, während man am Computer schreibt, Kaffee trinkt, kocht, fernsieht, in der Badewanne sitzt. Mit einem Handy kann man sogar telefonieren, während man im Café oder Zugabteil hockt, im Riesenrad eine Runde dreht, auf Berge steigt, joggt oder Auto fährt. Aber fährt man nebenbei Auto? Nein, man telefoniert nebenbei.

Hören darf nicht stören

Bei allem, was wir tun, macht das Ohr nie Pause. Es arbeitet ständig, sichert die Kommunikation, die emotionale Balance, das Einvernehmen mit der Welt. Weil unsere Zeit aber immer knapper wird, muss das Ohr immer mehr Informationen verarbeiten. Anstatt beim Frühstück die Zeitung aufzuschlagen, hören wir politische Kommentare im Radio, während wir mit dem Auto in die Arbeit fahren. Anstatt uns gemütlich in ein Buch zu versenken, hören wir Literatur von Hörbüchern, während wir das Abendessen kochen. Günter Grass’ neuester Aufsatz steht noch nicht in der „Zeit“, da kann man ihn schon herunterladen, als MP3-Sounddatei, vom Verfasser gelesen. Uns informieren Computerstimmen aus dem Telefon, Lautsprecher im Bahnhof, am Flughafen und im Supermarkt. Und wenn wir einmal gar nichts hören sollen – nichts, was uns vom Einkaufen, Konsumieren oder Entspannen ablenken könnte –, dann bekommen wir die Ohren verklebt mit musikalischer Parfümseife. Das ist die westliche Variante meditativer Versenkung.

Unser gestresstes Ohr entspannt, sobald die Musik einsetzt. Mit der Verbreitung von Telefon und Radio, mit der Verdichtung gehörter Verbalinformation, war die Erfindung der Muzak (1934!) daher eine psychosoziale Notwendigkeit. Nur das Ohr, das sich regelmäßig erholt, funktioniert problemlos nebenher. Hören darf nicht stören ­– und Musik darf keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Sie strengt sonst an und kostet Zeit. Ein ewig gleicher Refrain echot im Ohr, wenn der Medien-Säugling vom Tralala eingelullt wird. Daher ist der Nebenbei-Hörer der wichtigste Musikkonsument: Seine Musik-Begeisterung gilt nicht der Klang-Organisation, sondern der Erlösung vom Informationsstrom. Musik wird zur Wunderheilung.

Wir wissen es: Hörbuch-Konsumenten sind schlechte Leser. Sie sind aber auch schlechte Hörer, denn sie hören immer nur nebenbei. Es sei denn, sie wären sehbehindert wie Art Tatum, der Jazzpianist, der Münzen an ihrem Klang erkannte und trotz Blindheit liebend gern am Steuer eines fahrenden Autos saß. Im Guinness-Buch ist sogar ein Geschwindigkeits-Weltrekord blinder Autofahrer gelistet. Technisch wäre ein Vehikel denkbar, das alle relevanten visuellen Informationen für den Fahrer in akustische Signale umsetzt: Er könnte seinen Wagen dann komplett nach Gehör steuern. Ein Sehender mit Hörkompetenz könnte beim Fahren auch noch entspannt Urlaubsfotos anschauen. Ganz nebenbei. Nur telefonieren könnte er halt nicht mehr.

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