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Vom Hören (1)
Die Wissenschaften vom Menschen tendieren derzeit zu evolutionsbiologischen Erklärungen. Auch das seltsame Verhalten der Geschlechter wird immer öfter auf Konstanten zurückgeführt, die aus prähistorischer Höhlenzeit kommen. Jahrmillionen lang waren die Männer nämlich verbohrte Beutejäger, die Frauen plappernde Nesthüter. Das klingt schlicht, erklärt aber so ziemlich alles, nicht wahr? Zum Beispiel die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Gehirnaufbau, im Sprechverhalten, in der sensorischen Wahrnehmung, im Abstraktionsvermögen, im Verhältnis zum Sex. Und natürlich auch - im Musikhören.
Auf Beutejagd
Über 90 Prozent aller Musikkritiker, Komponisten, Jazzfans, Plattensammler und improvisierenden Instrumentalisten sind männlich. Wenn sich diese Verrückten auf Musik einlassen, dann ganz und gar. Die Welt um sie herum existiert in diesen Momenten nicht mehr. Wenn sie Musik hören, gibt es nur eines: die Deutung des Gehörten. Diese Männer unterscheiden zwischen Führungs- und Begleitstimme, Oboe und Englischhorn, Kontrapunkt und Homophonie, Intervall und Akkord. Sie erkennen Solisten an ihrem Spiel, zählen das Metrum aus, schubladisieren Epochen, Stile und Rhythmen. Musik ist für diese Verrückten eine Art klingende Architektur, ein akustisches Schachspiel, eine aurale Mathematik. Sie werden dann wieder zu Beutejägern, die konzentriert und stumm in die Nacht lauschen. Sie erkennen Geräusche und Bewegungen, schätzen Entfernungen und Geschwindigkeiten, entwerfen ein Bild des Raums. Dasselbe machen Navigatoren und Fußballspieler.
Die wenigsten Frauen lassen sich auf diese Weise auf Musik ein. Wo Männer stumm reden, wollen Frauen laut denken: Zuhören allein wird ihnen schnell langweilig. Doch solange sich eine Frau ungestört in Worten verströmen kann, ist alles okay. Während sie spricht, hat sie ihre Antennen nämlich voll ausgefahren, hört sich und anderen zu, empfängt emotionale Signale und Stimmungsumschwünge, sichert ihre Umgebung, hat den Herd und die Kinder im Blick, sorgt für Normalität. Einer allgemeinen Beobachtung zufolge können Frauen gleichzeitig Wäsche bügeln, fernsehen, telefonieren und noch eine Ultralight-Zigarette rauchen. Musik ist da nur ein peripheres Element, das sich einpassen muss und nichts kaputt machen darf. Frauen unterscheiden allenfalls zwischen tanzbarer und nicht tanzbarer Musik. Oder zwischen Musik vor und Musik nach dem Sex. Gefragt, was Musik sei, geben sie Antworten wie: „Das sind organische, blumenartige Dinge, die im Bauch vibrieren.“
Weil sich immer mehr Männer zu Frauenverstehern entwickeln, gibt es die Lounge-Musik. Das ist Musik zum Kuscheln und Rumfläzen und Weghören. Eine unauffällige Klangtapete im Hintergrund des Raums. Eine angenehme Vibration zum Im-Sitzen-Tanzen, zum Sofa-Surfen, zum prä- oder postkoitalen Nichtstun. Da können Frauen unbesorgt weiterplappern und Männer sind nicht abgelenkt durch aurale Architektur. Die wirklich fetten Beutetiere sind ohnehin vom Aussterben bedroht.
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