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Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

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Vom Hören (4)

Ein in Musikerkreisen beliebtes Klischee besagt, das Schreiben über Musik sei so inadäquat wie das Tanzen über Architektur. In einem Buchmagazin war kürzlich sogar zu lesen, die einzig wahren Kritiker seien die Literaturrezensenten, denn – so die Begründung – sie bewegten sich im gleichen Medium wie ihr Objekt: in der Sprache. Nach solcher Logik müssten die Musikkritiker ihre Meinung also musizierend ausdrücken. Und natürlich tun sie das auch: Was sind Beethovens Diabelli-Variationen, John Coltranes "My Favorite Things" oder Spooky Tooths "I Am The Walrus" anderes als souveräne Musikrezensionen? Die Sache ist nur: Literaturkritiker zum Beispiel werden sie nicht verstehen. Deshalb sage ich: Der Musikkritiker ist der wahre Kritiker. Er unternimmt den selbstlosen Versuch, die Welt der Klänge sogar tauben Papiertigern zu übersetzen.

Herbe Litschi-Kanten

Behindert wird der Musikkritiker lediglich durch die mangelnde Ausrüstung unserer Sprache. Da haben die Kollegen vom Literaturfach wohl ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Die kennen zwar das Wort "Klangfarben", aber wären völlig überfordert, wenn wir von ockerroten oder mambagrünen Klängen sprächen. Dabei gibt es genügend Synästhetiker unter den Komponisten – etwa Olivier Messiaen und Michael Torke –, die sich hier um Aufklärung für Laien bemühen. Bei ihnen kann jeder nachlesen, dass E-Dur von einem leuchtenden, kräftigen Grün ist, wogegen C-Dur purpurrot und D-Dur blau erstrahlt. Töne in höheren Lagen sind oft bergkristallen oder zitronengelb, in tieferen dagegen eher kupferrot mit goldenem Glanz, aber das weiß man ja. Und das Des (Db) ist bekanntlich "orange mit blassgelben, roten und goldenen Streifen" (Messiaen). Unsere Musikkritiken könnten so viel bunter sein, wenn die Leser so weit wären.

Vielleicht hilft ihnen eine andere Metaphorik weiter, zum Beispiel die des Gourmets? Schließlich spricht der Common Sense doch so gerne vom Musik-Geschmack. Aber wer kann mir noch folgen, wenn ich den Sound von Joe Hendersons Saxofon einmal richtig mit Hingabe verkoste, diese holzige Preiselbeer-Note mit dem pfeffrigen Grasaroma und den herben Litschi-Kanten im Abgang? Und was ist mit dem Tastsinn? Sollte das Publikums-Empfinden bei "hartem" Rock und "softem" Jazz stehen geblieben sein? Was ist mit spitzen Trompetennadeln, flaumiger Flötenwatte, seidigem Klarinettenfell und holzwarmen Waldhornzapfen? Man kann die Musik auch als ein vielschichtiges Bauwerk beschreiben: Da gibt es kontrapunktische Strukturen, harmonische Gebäude, Klangtürme, Walls of Sound. Doch was können wir über diese Architektur schon sagen, das die Welt versteht? Hören Sie in der Musik Querschiff und Rundbogenfries, Blendarkade und Strebepfeiler, Ziergiebel, Kranzgesims und Lanzettfenster? Können Sie folgen, wenn von der Archivolte, dem Kreuzgewölbe oder der Halbkuppel unseres Klangbaus die Rede ist?

Eines weiß ich: Musik ist die mutigste Architektur, die ätherischste Poesie, die raffinierteste Gaumenfreude, die profundeste Philosophie. Alles erfahrbar in den abstrakten Geschmacksfarbformen des Hörens. Wer solche Klangarchitektur betanzen und solche Musikschattierungen beschreiben könnte, der wäre der echte, wahre, einzige Kritiker.

© 2003, 2008 Hans-Jürgen Schaal

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