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Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

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Vom Hören (17)

Fred, ein Bekannter von mir, hat ein Problem: Er schläft bei Musik immer ein. Eben noch hellwach und redselig, verfällt er sofort in Schlummer, sobald im Konzertsaal, im Jazzclub oder aus dem heimischen CD-Player Musik erklingt. Nichts weckt ihn dann mehr auf, kein Schlagzeugsolo und keine Koloraturarie. Fred kann sich gegen das Einschlafen partout nicht wehren – dabei interessiert ihn doch eigentlich die Musik – und er leidet unter seiner Schwäche. „Bin ich moralisch verwerflich?“, fragte er mich kürzlich nach dem zweiten Bier. „Ein Hörkrüppel? Ein Kunstbanause? Ein Mensch zweiten Grades?“ – „Nichts da“, sagte ich, „du beherrschst vielmehr eine enorm wichtige Kulturtechnik. Und wahrscheinlich bist du auch der bessere Musikhörer als ich.“ – „Wie das?“, fragte er überrascht. Und dann erklärte ich es ihm.

Schlafen mit Musik

„Jeder von uns kennt Einschlaf-Schwierigkeiten – etwa am Vorabend von Prüfungen, von Flugreisen, der eigenen Hochzeit oder aus allgemein nervösen Gründen. Dann liegt man wach, wälzt sich herum, denkt an dieses und jenes – und immer wieder daran, dass man eben nicht einschlafen kann. Die Volksweisheit empfiehlt: Schäfchen zählen! Aber kennst du irgendjemanden, bei dem das funktioniert? Siehst du! Aber ich kenne jemanden: den Boierer Sepp. Der schläft noch bei Gewitter und Sturm seelenruhig ein, draußen auf dem Feld bei seiner Herde. Er hat mir auch erklärt, wie das geht: ‚I siek mei Schofherdn vor mir bei gschlossnen Augn. D’Erna mitm kaputtn Ohr, ihr Kloans, die andern Kloanen, dös mitm schworzn Fläck, dös wo im Hörbschd krank gwean is, dia zwoa Grauen... und scho schlof i.’

Du merkst: Der Boierer Sepp zählt seine Schafe nicht einfach, sondern er erstellt ein differenziertes, konkretes, plastisches Inventar. Das könnten wir beide natürlich nur, wenn wir wie der Sepp mit genug Schafen persönlich bekannt wären. Was ich mir aber vom Boierer Sepp abgeschaut habe, das ist das Prinzip, die Methode: Wenn ich mal nicht sofort einschlafen kann, fange ich an, den Katalog meines Lieblingslabels zu memorieren, Platte für Platte. Oder sämtliche Bände meines mittleren Bücherregals. Oder die Namen aller meiner Großtanten. Das funktioniert deshalb, weil ich mit konkreten Assoziationen meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen kann: Ich denke an die Musiker, die auf den Platten spielen, an die Farbe und Größe meiner Bücher, an die Geschenke, die ich meinen Großtanten rausgeleiert habe. Und bevor ich überhaupt bei Tante Emmi angekommen bin, schlafe ich schon tief und fest. Weil ich einfach vor Begeisterung über die Details völlig vergessen habe, dass ich die ganze Zeit da liege und auf den Schlaf warte.“

„Einschlaf-Schwierigkeiten sind jetzt nicht so mein Problem“, meinte Fred skeptisch, als das vierte Bier kam. „Richtig“, sagte ich, „weil du nämlich die Boierer-Technik schon anwendest. Du hörst Musik so, wie der Sepp in Gedanken seine Schafherde durchgeht. Viele wälzen sich im Konzert nur in ihrem Sitz hin und her, denken an dieses und jenes, lassen die Gedanken schweifen, kriegen nichts mit und langweilen sich mit sich selber. Du dagegen hörst plastisch, konkret, individuell, übersetzt dir das musikalische Geschehen ins Bildliche oder was auch immer, assoziierst Formen und Abläufe, vergisst dich selber in der Musik. Deine Rezeptionsfantasie“ – so ein Wort wie "Rezeptionsfantasie" fällt einem nur beim vierten Bier ein – „geht dann fließend über in Traumbilder. Und wenn du beim Schlussapplaus aufwachst, hast du die Musik vielleicht genauer gehört als ich, weißt es bloß nicht mehr.“ – „Dann bist du also der Kunstbanause von uns beiden?“, fragte Fred und grinste. Ich beeilte mich zu sagen: „Ach, weißt du, ich schlafe schon auch manchmal ein bei Musik.“ – „Aber nach mir!“, trumpfte er auf, „immer nach mir!“

© 2007 Hans-Jürgen Schaal

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