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Inhaltsverzeichnis:
1. (0000)
2. Auf Beutejagd (2002)
3. Die Stereo-Verseuchung (2002)
4. Der Ohrenmensch (2003)
5. Herbe Litschi-Kanten (2003)
6. Ministeriale Hör-Arbeit (2003)
7. Schöner hören (2003)
8. Das sentimentalische Hören (2004)
9. Das kannibalische Hören (2004)
10. Das Unter-Wasser-Hören (2004)
11. Das therapeutische Hören (2004)
12. Embryo-Träume (2005)
13. Mars macht mobil (2005)
14. Herr Schall (2005)
15. Hören darf nicht stören (2005)
16. Avantgarde entdecken (2006)
17. Die Grammatik des Buchhörens (2006)
18. Schlafen mit Musik (2007)

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Vom Hören (11)

Kürzlich hat man’s wieder gelesen: Wassily-Kandinsky- und Max-Ernst-Ausstellungen brechen Besucherrekorde, werden um weitere vier Wochen verlängert, gehen auf Welttournee. Es ist bekannt, dass Kandinsky seinerzeit eine große Nähe zur Musik des Zeitgenossen Arnold Schönberg empfand und die Publikation von dessen Schriften, Kompositionen und Bildern unterstützte. Die beiden verstanden sich geradezu als Waffenbrüder, als Parallel-Entwickler, als wechselseitige Inspiratoren, als Maler-Komponisten des Abstrakten. Aber wer hätte je von einem achtwöchigen Schönberg-Festival gehört, das Besucherrekorde brach? Die Wahrheit ist: Schönbergs expressionistische Musik füllt kaum mal einen Abend lang einen großen Konzertsaal. Während Kandinsky das Auge lockt, belästigt Schönberg das Ohr.

Embryo-Träume

Das Hören ist unser empfindlichster, differenziertester Wahrnehmungssinn. Im Gegensatz zum aggressiven, spähenden, erobernden Auge gilt das Ohr als rezeptiv und sensibel. Die Gegenstände des Sehens und Hörens verhalten sich dazu umgekehrt reziprok: Das ruhende Bild wartet geduldig, bis es vom imperialistischen Auge ent-deckt wird; die stürmische Musik hingegen bläst zum sofortigen Angriff aufs schutzlose Ohr. Auch ein revolutionäres, gegenstandsloses Kandinsky-Gemälde ist ja im Grunde ein stilles, unaufdringliches Wesen: Es hängt an der Museumswand, ruft nicht nach dir, bewirft dich nicht mit Tomaten, winkt dich nicht mal zu sich. Du kannst es ansehen oder es bleiben lassen, jederzeit die Augen schließen oder sie abwenden, jederzeit weitergehen zum nächsten Bild oder in die Cafeteria. Das Schönberg-Streichquartett dagegen drängt sich auf: Es hat eine Ausdehnung in der Zeit und bestimmt damit die Dauer deiner Konfrontation. Du hast keine Ohrenlider, dich davor zu schützen. Du bist zu gut erzogen, um dir die Ohren zuzuhalten oder aus dem Konzert zu stürmen. Musik ist generell eine Zumutung.

Das Hören ist auch unser frühester, unser ursprünglichster Wahrnehmungssinn. Schon in der 24. Schwangerschaftswoche ist das Hörorgan des Ungeborenen fertig ausgebildet. Was das Kind im Mutterleib hört – gedämpfte Stimmen, sanftes Geblubber –, vermittelt ihm Sicherheit. Alles, was die Sicherheit stört – alles Laute, Schrille, nicht Einordenbare –, ist potenzielle Gefahr; darin sind sich Embryos, Dschungelbewohner und Smooth-Jazz-Hörer völlig einig. Das Ohr ist auf Balance, Entspannung und kommunikative Signale geeicht. Es ist ein Warnorgan. Bei einem Erdbeben, beim Rascheln eines Raubtiers, bei einer Polizeisirene, einem klingelnden Handy, bei Schönbergs Streichquartett oder Mingus’ kollektiven Improvisationen schlägt es Alarm.

Das Kind im Mutterleib hat die Augen noch geschlossen. Was es zu sehen glaubt – bunte Kreise, fröhliche Farben –, unterscheidet sich nicht so sehr von Kandinskys Bildern. Diese embryonale Lust an Flächen und Formen bleibt, wenn die Kinder mit Fingerfarben spielen oder sich zu Mediendesignern entwickeln. Im Grunde sehnen wir uns einfach zurück in die Geborgenheit der Fruchtblase, des Embryo-Whirlpools. Augen zu, bunte Träume und nur noch Geblubber um uns herum. Das ist auch die Wunschvorstellung jedes Urlaubers: ein großartiges, vielfarbiges Panorama, begleitet nur vom Rauschen des Meeres. Das Ohr ist nicht dazu gemacht, neue Terrains zu erobern. Das muss es erst lernen. Auch Hörschulen helfen da nicht.

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