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Longtrack

Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.

Genesis: Supper's Ready (1972)

Von Adrian Teufelhart

„Foxtrot“, das vierte Album von Genesis, war ihr bis dahin erfolgreichstes: Goldstatus in Großbritannien, Nummer eins in Italien. Die Platte lieferte einen kleinen Radiohit („Watcher Of The Skies“), ein dystopisches Songdrama („Get ’Em Out By Friday“) und natürlich „Supper’s Ready“ – das längste und vielfältigste Stück, das Genesis je aufgenommen haben. Mit 23 Minuten Umfang füllt es fast die gesamte B-Seite des Originalalbums und enthält in komprimierter Form den kompletten Soundkosmos der frühen Genesis. Laut ihrem Keyboarder Tony Banks bietet „Supper’s Ready“ das kompositorisch Beste, was sie bis dahin vorgelegt hatten.

Der Longtrack „Supper’s Ready“ besteht aus sieben Episoden zwischen einer und fünf Minuten Länge. Jede dieser Episoden lässt sich als embryonaler Song begreifen, wobei der eine oder andere von der Band sogar gelegentlich als eigenständiges Stück aufgeführt wurde. Dennoch klingt „Supper’s Ready“ nicht wie eine bloße Songreihung. Dafür sorgen organisch wirkende Übergänge, verbindende Instrumentalpassagen und immer wieder Rückgriffe auf Melodien aus vorangegangenen Episoden. Musikologen wollen sogar einen sonatenähnlichen Gesamtaufbau erkannt haben. Nur vor der vierten Episode („How Dare I Be So Beautiful?“) gibt es in der Studiofassung eine deutlich hörbare Blende. Die Brüche vor, nach und innerhalb der fünften Episode („Willow Farm“) empfindet man dagegen als passende Stilmittel.

Der wohl typischste der frühen Genesis-Sounds eröffnet die Song-Suite: Mehrere verstärkte 12-String-Gitarren spielen verschränkte lyrische Arpeggien, die allmählich durch die Harmonien wandern, dazu erklingen Peter Gabriels sanft-melodischer Gesang sowie klangliche Sahnetupfer von Keyboards, Flöte, Cello, Triangel usw. In der zweiten Episode steigt die Dynamik an, in der dritten erreicht sie das Genesis-Maximum mit rockenden Riffs und Gitarrensolo. Der Höhepunkt des Longtracks ist dann die flotte Episode 5, „Willow Farm“ – ein bizarr-absurder Song mit stampfenden Music-Hall-Anklängen und britischem Wort-Nonsens. Besonders stolz ist die Band aber auf die anschließende „Apocalypse In 9/8“. Hier improvisiert die Orgel metrisch frei über ein störrisches Ostinato (2+2+2+3 Achtelnoten).

Wie meist bei Genesis verwenden die Songtexte Elemente aus antiken Mythen, biblischen Stoffen, britischen Legenden und englischen Sprichwörtern. Peter Gabriel, der Texter, verstand „Supper’s Ready“ als ein visionäres Stationendrama zweier Liebender, was sich dem Hörer aber nicht unbedingt erschließt. Gerade die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der Songs gibt „Supper’s Ready“ seinen surrealen Reiz.

Erschienen in: Fidelity 24 (2016)
© 2016, 2019 Hans-Jürgen Schaal


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