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Eigentlich sollte unser Autor für uns ein Akkordeon auseinandernehmen. Aber wer leiht schon einem handwerklich völlig unbegabten Journalisten ein Instrument, damit der sich daran vergreift? Also machte sich Hans-Jürgen Schaal auf die Suche nach Menschen, die bereits ein Akkordeon von innen gesehen haben. Und er stieß dabei auf die Geschichte von Takumi Ozawa, dem Soldaten, der das Kriegsende verpasste.

Der Soldat und das Akkordeon
Eine Erzählung aus dem Pazifik
(2009)

Von Hans-Jürgen Schaal

Plötzlich ging es ganz schnell. Er sah, wie sie die Gefangenen über den Strand trieben, sie mit ihren Maschinenpistolen vor sich her schoben, ins Boot schubsten, zum Hinknien zwangen, die Hände über dem Kopf. Ein paar laute Befehle wurden gebrüllt, letzte Blicke ins Dickicht geworfen, Takumi duckte sich noch tiefer und vergaß beinahe zu atmen. Dann wurden die Seile gelöst, das Boot tuckerte los, wurde rasch kleiner. So etwa war es oder vielleicht auch nicht. Als er später befragt wurde, erinnerte er sich nicht mehr ganz genau.

Besser erinnerte er sich an die erste Zeit danach, als er sich nicht aus seinem Versteck traute. Waren sie wirklich weg? Würden sie wiederkommen? Wurde die Insel beobachtet? Takumi hungerte, nachts fror er. Gegen seinen Durst leckte er Tau von den Blättern. Erst nach drei, vier Tagen, so sagte er später, sei er hervorgekrochen, schwach vor Hunger und Angst. Alles war ruhig bis auf die Vögel, die meckernden wilden Ziegen, das nie ermüdende Meer. Er schlich zurück zum letzten Unterstand im Wald, einem besseren Erdloch, auf der Suche nach Brauchbarem. Er fand wenig, aß Beeren und Blätter. Später wagte er sich auf den Strand hinaus, wo die Amerikaner gelagert hatten. Die Toten waren alle verscharrt. Nur ein kleiner Haufen Unrat zeugte von den Besuchern, eine zerrissene Stoffplane, leere Konservenbüchsen, rostige Metallstangen, Munitionshülsen, eine angekokelte Holzkiste. Takumi schlich zurück ins Dickicht, begann sein Überleben zu planen. Er würde seinen Posten halten für den Kaiser.

Erst nach Wochen hat er es entdeckt. Er war zum Strand zurückgekehrt, sorgloser geworden. Inzwischen kannte er Aguijan, seine kleine Insel, kannte ihre Mulden und Felsen, die Bäume, Hühner und Fledermäuse und die kleinen, launischen Sickerquellen. Noch einmal suchte er den Strand ab. Als er die kleine Holzkiste hochhob, erschrak er: Sie bewegte sich und machte ein keuchendes Geräusch. Tatsächlich bestand sie aus zwei Teilen, kaum zusammengehalten von pergamentartigem, zerfetztem Stoff. Er fand am Holz Lackreste, verkohlte Stellen, eine gebrochene Knopfleiste. Im unteren Teil klapperte eine Art Klaviatur. Takumi erkannte, was er vor sich hatte: Etwas Ähnliches hatte er einmal als Kind gesehen, auf Besuch beim Onkel in Yokohama. Er merkte, wie ihm vor Aufregung das Blut in den Kopf schoss. Es war ein Musikinstrument.

Mit Holz umgehen, das konnte Takumi, und er hatte Zeit. Leider wusste er nicht das Geringste darüber, wie ein Akkordeon funktioniert. Wo kamen die Töne her, wie wurden sie zum Klingen gebracht? Um das kaputte Instrument zu reparieren, musste er es erst einmal auseinandernehmen und untersuchen. Er baute sich eine kleine Werkstatt, die ihn vor den tropischen Regengüssen schützen sollte, trug Metall- und Holzteile zusammen, die er als Werkzeug benutzen konnte, und machte sich daran, das Instrument zu zerlegen. Da er nicht wusste, wie die einzelnen Teile heißen, gab er ihnen eigene Namen: Die Stimmstöcke nannte er „das Herz“, den Balg „die Lunge“, das Gehäuse mit der Klaviatur „das Gehirn“ oder „den Kopf“ und die Bassseite „die Füße“.

Im „Herzen“ des Instruments war nicht allzu viel zerstört: Einige Zungen fehlten, ein paar der kleinen Holzkammern waren gebrochen. Takumi vermutete, dass für jeden Ton eine eigene Zunge mit einer Luftkammer gebraucht wurde. Diese Luftkammern waren relativ leicht zu restaurieren, die dafür nötigen Holzstückchen bearbeitete er mit Steinen und Metallteilen. Schwieriger wurde der Ersatz der fehlenden Metallzungen. Eine Art Bambusholz erwies sich schließlich als brauchbares Material, aber was die Tonhöhen betrifft, blieben die Zungen für Takumi ein Glücksspiel. Die Befestigung der Zungenhalter an den Kammern erfolgte mit kleinen Metallstäbchen oder Drähten, die er ins Holz trieb. Manchmal musste er abdichten, dafür eignete sich getrocknete Ziegenhaut, wie er sie auch für die Ventile benutzte.

Im „Kopf“ des Instruments fehlten einige der Klaviertasten, die – das wusste Takumi – das Allerwichtigste beim Akkordeonspielen sind. Es war verhältnismäßig einfach, aber doch sehr zeitaufwändig, die fehlenden Tasten aus Baumholz zu schnitzen und so lange zu bearbeiten, bis sie genau passten. Bei der Holzbeschaffung fürchtete Takumi vor allem die Begegnung mit Baumnattern; erst nach Jahren war er überzeugt davon, dass die Insel wirklich schlangenfrei war. Der Mechanismus, der von den Tasten zu den Ventilen der Luftkammern führt, war zum Glück noch so weit erhalten, dass sich Takumi den Rest erschließen konnte. Dennoch war dieser Teil der Reparatur der aufwändigste, da er das geeignete Werkzeug immer erst erfinden musste. So wuchs parallel zur Reparatur sein Werkzeugvorrat.

Die „Füße“ des Instruments boten neue Herausforderungen. Statt Klaviertasten galt es hier Knopftasten zu restaurieren; die fehlenden Zungen mussten deutlich größer sein als im „Kopf“; das „Fuß“-Gehäuse verlangte zudem umfangreiche Ausbesserungen. Die Bassmechanik selbst flickte Takumi dagegen nur notdürftig, weil ihm das Verständnis für ihre Funktionsweise fehlte.

Zuletzt musste er die Teile des Instruments zusammenfügen. Die aneinanderhängenden Luftkammern ließen sich ohne weiteres ins „Kopf“- und „Fuß“-Gehäuse einpassen, aber der Balg, der beide Teile verbindet, war schlimm zerfetzt. Es dauerte Monate, bis Takumi einige brauchbare Ziegenhäute beisammen hatte, denn als Ziegenjäger besaß er wenig Talent. Bei der Fältelung musste er mit klammerartigen Teilen aus Holz und Metall nachhelfen.

Als das Instrument endlich fertig war – mitten in der zweiten Regenzeit auf der Insel –, traute sich Takumi zunächst nicht, es auszuprobieren. Als er es schließlich doch tat, war er von der ungewohnten „Stimme“ in seiner kleinen Wildnis überwältigt. Erst nach einigen Tagen machte sich die Enttäuschung breit: Der Klang war dünn und hohl, manche Töne sogar besonders unrein und pfeifend, der Balg verlor zu viel Luft, die Ventile waren undicht, die Zungenplatten klapperten, die Tasten auch. Wochenlang besserte er nach, hämmerte am Resonanzboden, versuchte die Registervorrichtungen zu begreifen und tauschte Zungen und Ventile aus. Er arbeitete wie ein Besessener, vergaß oft zu essen und zu trinken. Am Ende klang das Instrument etwas voller, aber nicht wirklich gut. Das Spielen – oder was er so nannte – machte keine rechte Freude, so sehr er auch dazu Grimassen schnitt. Das Basteln war besser für ihn.

Beim Nachbessern hatte Takumi so viele Teile ausgewechselt, dass sie beinahe für ein neues Instrument reichten. Er legte sie in Gruppen zusammen, um sie zu schätzen. Insgesamt bräuchte er etwa 40 Tasten und das Dreifache an Knöpfen. Ebenso viele Zungen, Luftkammern, Klappen, Ventile. Er würde noch viel schnitzen und schneiden müssen, monatelang. Er würde aus dem Kopf arbeiten, die Größe der Zungen nach Gefühl anlegen, sein ganz eigenes Instrument bauen – ohne diese dumme Bassmechanik. Es würde anders werden, besser natürlich, japanischer. Ein Instrument des Kaisers. Am besten, er fing sofort damit an.

Beinahe zwölf Jahre verbrachte der Soldat Takumi Ozawa allein auf der Insel Aguijan. Als man ihn fand – ein amerikanisches Forschungsboot lief die Insel an –, war er halb verwildert und kaum noch seiner Muttersprache mächtig. Er trug Ziegenfell und Farnblätter am braunen, dürren Körper, wirkte scheu und ängstlich, stotterte wirres Zeug und erwartete offenbar, jeden Augenblick exekutiert zu werden. Er hatte keine Ahnung, dass der Krieg seit über zehn Jahren vorbei war.

In einer Art Unterstand, der sich mehrere Meter hinzog, dort, wo der Regenwald am dichtesten war, fanden die Forscher ein restauriertes amerikanisches Akkordeon, das sogar irgendwie funktionierte. Dahinter stapelten sich weitere Akkordeons, insgesamt siebzehn Stück. Eines sah seltsamer und fantastischer aus als das andere. Aus manchen konnte man Töne hervorbringen, aus anderen nicht. Bei manchen ließen sich nicht einmal die Tasten drücken, eines hatte über 300 Knöpfe, eines gar keinen Balg. Takumi nannte sie seine Kinder. Als er begriff, dass man ihm nichts tun wollte, bestand er darauf, dass alle siebzehn Instrumente ins Boot geladen wurden. Der Insel schenkte er keinen Blick mehr.

© 2009, 2022 Hans-Jürgen Schaal

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