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Notstand im Staat New York
Das Woodstock-Festival von 1969
(2016)

Von Hans-Jürgen Schaal

Newport war anders: ein mondänes, strahlendes Hafenstädtchen, Ankerplatz der Millionärs-Yachten, Sommerfrische der Prominenz, Rückzugsort der US-Präsidenten, ein immerblauer Himmel. Beim sommerlichen Jazzfestival schlenderte dort die High Society im weißen Poloshirt oder im schicken Kleidchen über gepflegten Rasen. Miles Davis hatte dort seinen kühlen Durchbruch mit der gestopften Trompete, Duke Ellington sein großes Comeback, Jazz war nobel in den Fünfzigern. Immerhin: 1960 wurde es sogar in Newport ein wenig unruhig. Es kam zu Ausschreitungen, die Polizei griff ein, das Festival wurde abgebrochen und fürs Folgejahr abgesagt. Die „Newport Rebels“ starteten ein Gegenfest am Cliff Walk – so begann das neue Jahrzehnt. Es endete mit Woodstock und einer halben Million „Hippies“ auf einer Kuhweide, die sich rasch in eine gewaltige Schlammpfütze und Müllhalde verwandelte. Nothing but fun and music.

Woodstock war eine Katastrophe. Die Veranstalter hatten mit rund 50.000 Besuchern gerechnet – aber zwanzig mal so viele machten sich auf den Weg, etwa die Hälfte davon kam an. Natürlich brach der Verkehr zusammen, natürlich fielen die Zäune. Die Musiker mussten eingeflogen werden mit Hubschraubern. Es gab nicht genug Toiletten, nicht genug Nahrung, nicht genug Wasser. Hier lernten die Besucher schnell, dass man Geld nicht essen kann: Woodstock wurde zum Notstandsgebiet, ein improvisierter Slum, ein Lehrfall für alle späteren Festivalmacher. Das besorgte Bürgertum musste Hilfsaktionen organisieren, um die amerikanische Hippie-Generation vor dem Elend zu retten. Fürsorgliche Eltern beteiligten sich bei der Anlieferung von Verpflegung und trockener Kleidung für ihre Friedenskinder. Selbst die US Army war zur Stelle und flog ein Ärzteteam ein, während Country Joe McDonald über das Sterben in Vietnam spottete und Jimi Hendrix den Heldentod an der Gitarre mimte.

Nichts half gegen den Regen. Freitag: Regengüsse. Samstag: Regengüsse. Sonntag: Gewitterregen und Sturm. Immer wieder wurde das Programm unterbrochen und zog sich deshalb ewig hin, jeweils bis weit nach Sonnenaufgang. Es gab Schlammrutsch-Wettbewerbe und kollektive Wetterappelle: „No rain!“ Sogar Verschwörungstheorien machten die Runde: Friedensfeindliche Flugzeuge sollen es gewesen sein, die die Wolken zum Regnen brachten. Aber vielleicht hatte man in Woodstock einfach nur zu oft das neue Zeitalter verkündet. Das Zeitalter des nassen Wassermanns.

Trotz aller Unbill: Woodstock blieb friedlich. Essen und Wasser drohten zwar auszugehen, nicht aber das ruhig stellende Dope, auch nicht bei den Musikern. Joan Baez war schwanger, alle anderen waren stoned, bekifft oder „in psychedelischem Zustand“. Eine große süßliche Wolke hing über der Milchfarmweide von Max Yasgur. Viele Besucher fantasierten dummes Zeug zusammen, fanden alles Mögliche „groovy“ und machten die Wiese zur Bühne ihrer Selbstdarstellung. Ein paar hundert mussten wegen Drogenproblemen medizinisch behandelt werden, aber es war nicht einmal jeder Tausendste.

Wer das Chaos von Woodstock aushielt, ohne zu rauchen, war wohl schlicht und einfach dies: brav, geduldig, angepasst. Selbst die Polizei attestierte den Besuchern, dass sie anständige amerikanische Bürger seien – von ihrer Haar- und Kleidertracht einmal abgesehen. Die angeblichen „Freaks“ standen an den Telefonen an, um folgsam ihre Eltern anzurufen. Das Paar, das ahnungslos auf dem Cover des Woodstock-Albums landete, stammte ganz aus der Nähe. Eine angehende Krankenschwester und ein Collegestudent, seit drei Monaten zusammen. Zwei Jahre später heirateten sie, bekamen zwei Söhne, wurden zusammen alt. Typische Woodstock-Freaks.

Übrigens sprach auf dem Festival niemand von „Woodstock“, warum auch? Der Ort Woodstock lag rund 70 Kilometer entfernt. Genau dort hatte Mike Lang, ein 24-jähriger Wuschelkopf und Motorradfahrer, sein Musikstudio. Er war der Initiator des Festivals, daher sollte es ursprünglich in der Nähe des Ortes Woodstock stattfinden und wurde später unter diesem Namen vermarktet. Mike Lang organisierte die Musikaufnahmen auf der Bühne und sicherte sich die Rechte daran. Auf diesem Pfund errichtete er später eine große Konzertagentur und arbeitete mit den Erfolgreichsten: Madonna, Prince, Shakira, Springsteen...

Es ging also um Geld. Das Hippiefest von Bethel (so hieß der nächste Ort) war keineswegs eine antikapitalistische Oase hinter grünen Hügeln. Die 32 auftretenden Bands bekamen ordentliche Gagen – Jefferson Airplane übrigens zehnmal so viel wie Santana, Jimi Hendrix sogar 40-mal so viel. Dabei spielte Jimi erst am Montagmorgen vor einer schon halb entvölkerten Wiese, die nun wie eine Mülldeponie aussah. Ob die Rechnung der Veranstalter aufgehen würde, wusste damals keiner – zumal die Zäune früh gefallen waren und der Festivalbesuch damit kostenlos wurde. Die Händler und Bauern ringsum machten das Geschäft ihres Lebens. Dennoch gab es später rund 80 Prozesse gegen die Festivalmacher – wegen zertrampelter Wiesen, verhinderter Transporte, verdorbener Heuernten. Die Bürger von Bethel feuerten ihren Ortsvorsteher und beschlossen Verordnungen gegen künftige Massenereignisse. Es floss eine Menge Entschädigungsgeld nach dem Hippiefest – es kam vor allem aus den Umsätzen des Albums und des Films.

Drei Tage lang war die Hippie-Wiese bei Bethel die zweitgrößte Stadt im Staat New York. Ein Menschenmeer bis zum Horizont – für viele auftretende Musiker ein Schock. Sechsmal hätte diese Menge die Münchner Allianz Arena gefüllt. Wie magnetisch angezogen waren sie alle zum Festival gepilgert, auf der Suche nach der Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Wer diese versammelte Masse sah, war sofort und unwiderruflich von der historischen Bedeutung des Ereignisses überzeugt. Der Mythos Woodstock war schon geboren, bevor die Musik losging.

© 2016, 2018 Hans-Jürgen Schaal


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