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Hundertmal totgesagt, erlebten ProgRock und ProgMetal in den Nullerjahren ein neues Hoch. Das ließ die Bands sogar an die ewige Jugend glauben – und an die Endlosschleife der Ziffer 8: „Octane“, „Octavarium“, „Octahedron“.

Achtung, die Achte!
ProgRocker feiern ihre Ausdauer
(2011)

Von Hans-Jürgen Schaal

In der Geschichte der klassischen Sinfonie spielt die Neun eine markante Rolle. Beethoven überschritt mit seiner 9. Sinfonie die 60-Minuten-Marke und machte sie dank des Schiller-Chors zum großen humanitären Bekenntnis. Bruckner wollte es ihm gleichtun, träumte von einer Neunten als „Monumentalkrönung“ der Gattung, starb aber über dem Mammutprojekt. Schubert schrieb ebenfalls keine Neunte mehr, auch Hartmann starb nach seiner 8. Sinfonie, Pettersson erkrankte nach seiner Neunten lebensgefährlich. Mahler fürchtete die Klippe der Neunten sogar so sehr, dass er gleichzeitig vorsichtshalber schon mal eine Zehnte entwarf. Dvorák erklärte sein sinfonisches Schaffen mit der Neunten für beendet, Schostakowitsch schrieb eine bescheidene und Henze eine tief pessimistische „Anti-Neunte“. Die Neun ist eine Wegmarke, ein Wendepunkt. Triumph oder Katastrophe.

Was für die Sinfoniker die Neunte ist, scheint im aktuellen ProgRock die Achte zu sein. Die Acht ist eine magische Zahl, ein Lebens-Einschnitt, ein Glücksbringer. In vielen Kulturen symbolisiert das Achteck (Oktogon) höhere Ideen, das Göttliche, das gute Schicksal, auch den Geist der Wissenschaft. Der Turm der Winde in Athen ist achteckig gebaut, ebenso der Felsendom in Jerusalem, der Dom in Aachen, das Castel del Monte in Apulien. Die Acht, die geschlossene Schleife, steht – gekippt – für die Unendlichkeit. Und sie erlaubt viele Assoziationen: zu chemischen C8-Verbindungen, zur Oktave in der Musik oder zum Oktaeder, der Doppelpyramide. Spock’s Beard setzten eine Benzin-Zapfsäule mit einer „8“ aufs Cover ihres achten Studioalbums und nannten es „Octane“. Dream Theater wollten ihres eigentlich „Octave“ taufen, entschieden sich aber – wegen Spock’s Beard – für „Octavarium“ und spielten in den Booklet-Illustrationen mit vielen Bezügen zur Acht (Oktave, Oktogon, Octopus, Spinne...). The Mars Volta gaben bereits ihrem fünften Studioalbum den Glücksnamen „Octahedron“ (Oktaeder): Ob der Titel nur auf die acht Stücke der CD anspielt oder ob man einfach das Live-Album „Scabdates“ und die beiden EPs mitgezählt hat, bleibt unklar. Klar ist: Die Acht ist die Überlebenszahl des ProgRock. Die Acht steht für die Ewigkeit.

Als Spock’s Beard 2002 ihren Oberguru Neal Morse ziehen lassen mussten, drohte das Ende. Doch unverhofft setzte die Trennung verborgene Talente frei, nicht nur bei Neals jüngerem Bruder Alan, dem Gitarrenhexer: Drummer Nick D’Virgilio entpuppte sich als faszinierend vielseitiger Rock-Vokalist, Keyboarder Ryo Okumoto durfte endlich auch an Piano und Synthie glänzen, Bassist Nick Meros entdeckte Songwriter-Qualitäten. „Octane“ (Inside Out 693723 013022) ist das zweite Album der neuen Ära, der ProgRock-Kraftstoff sprudelt, die Ideen-Zapfsäule trotzt mutig der kalifornischen Wüste, das Album endet mit einem unermüdlichen Trucker-Song. Zwar zeigt man eine neue Lust an einfachen Rocksongs und Balladen, bleibt aber weiter unberechenbar: Kleine Kammermusik-Einlagen à la Gentle Giant wechseln mit Gothic-Abgründen, ein Touch von Country steht neben elektronischen Beatsounds, die singende Säge und das Theremin treffen auf Streicher- und Bläserzusätze. Auch Mellotron-Intermezzi, fragile jazzige Momente, Playback-Chöre, ein Western-Scat und dicht geschichtetes Rock-Pathos dürfen nicht fehlen. Aus den Balladen ragen „She Is Everything“ und die Falsett-Orgie „Watching The Tide“ heraus. Fetzig-metallig mit Bassgalopp, heftigem Sprechgesang und Black-Sabbath-Schauern: „Surfing Down The Avalanche“. Die instrumentale Paradenummer mit perkussiv-psychedelischem Mittelteil: „NWC“. Ein Wechselbad aus polyphoner Etüde, Metal-Hardcore und Sunshine-Musik: „The Planet’s Hum“. Auch die Bonus-CD der Special Edition lohnt: mit einem manisch-schrägen Jazzsong („Game Face“) und einem straighten Rocker („Broken Promise Land“). Die Acht öffnet Perspektiven auf viele Zukünfte.

Das bewährte Gegenstück zu Spock’s Beards kalifornischem Eklektizismus bildet die New Yorker Kampftruppe Dream Theater – die Pioniere der ProgMetal-Bewegung seit ihrer Bandgründung 1985. Noch immer klingt die Formation so, wie man es von ehemaligen Berklee-Studenten erwartet: technisch sensationell, aber musikalisch nüchtern bis zur Humorlosigkeit. Während andere die unregelmäßigen Metren lieber im organischen Fluss verstecken, demonstrieren die New Yorker Spitzentechniker genüsslich ihre Frickelkünste und begeistern damit alle Nachwuchsmusiker: „Octavarium“ (Atlantic 7567-83793-2) von 2005 enthält acht solche glanzpolierte Meisterstückchen in acht verschiedenen Tonarten. Abwechslung auf höchstem Niveau ist dabei natürlich garantiert: Dem Riffrocker „The Root Of All Evil“ folgt eine Ballade mit Streichquartett – und an das virtuose, mit barockalen Geschwindläufen gespickte „Never Enough“ schließt sich eine 10-minütige Verarbeitung der 9/11-Ereignisse an – mit Orchesterpathos und heftigen Stilbrüchen. Fürs kreatürliche Element ist wieder Sänger James LaBrie zuständig, der den meist minimalistischen, kurzphrasigen Vokalparts unermüdlich seinen eigenen, lapidaren Tonfall abtrotzt. Am Ende liefert das 24-minütige Titelstück den Höhepunkt des Albums: eine komplexe „Suite“ mit ständigen Verbeugungen vor den Heroen des ProgRock-Fachs – Pink Floyd machen den Anfang. Dazu gehören bukolische Momente von Querflöte und akustischer Gitarre, rockjazzige Bass/Drums-Grooves mit Synthie-Solo und schließlich ein längerer Ausflug ins Frickel-Paradies mit einander jagenden Rhythmuswechseln und gestaffelten Hummelflügen unter Anleitung der Geschwaderführer John Petrucci (Gitarre) und Mike Portnoy (Drums). Eine gewaltige Hommage an die vielfarbige ProgRock-Tradition!

Aus dem Süden kommen The Mars Volta, genauer gesagt: aus Texas – mit Latino-Wurzeln, die nach Mexiko und Puerto Rico reichen. Nach ihrem Full-Speed-Heavy-Metal-Fetzer-Album „The Bedlam In Goliath“ von 2008 bildet „Octahedron“ (Warner Brothers 519384-2) das sanfte, balladenhafte Gegenstück: Die Band nennt ihre CD ein (vom Temperament her) relativ „akustisches Album“, sogar eine „Pop-Platte“. In der Tat verzaubert uns der Sänger und Texter Cedric Bixler-Zavala mit ausschwingenden Falsett-Melodien und sirenenhaften Ohrwurm-Chorrefrains, die für sich genommen wenig Rockiges an sich haben. Allerdings sind diese surrealistischen Gesänge so tief eingebettet in Gitarrengebirge und Schlagzeuggewitter und Mellotron-Stürme, dass das Ganze nie naiv oder sentimental rüberkommt. Vor allem Mastermind Omar Rodriguez-Lopez und Ex-Chili-Pepper John Frusciante erzeugen auf ihren Gitarren einen Hexenkessel aus flirrenden Soundmalereien und psychedelischem Jazzrock, einen wildbunten, brodelnden Dalí-Klangtraum. Zwei, drei kräftig rockende Stücke durchbrechen das sinnlich aufgeheizte Balladentempo, etwa das komplexe „Cotopaxi“ mit Wechseln zwischen 4/4- und 5/4-Takten und der verfremdete Shuffle-Song „Luciforms“. Dank professionell verzerrter und verfremdeter Sounds klingt The Mars Volta einmal mehr, als seien die Gitarren gerade am Durchschmoren und die Mikrofone am Schmelzen. Das erweicht sogar die versteinerte Seele eines alten Musikkritikers.

© 2011, 2017 Hans-Jürgen Schaal


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