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John Coltrane machte das Kaminfeger-Lied „Chim Chim Cheree“ zur modalen Free-Hymne, Miles Davis ließ sich von Schneewittchen inspirieren, Louis Armstrong war Walt Disneys persönlicher Freund. Disneyland ist Jazz Country.

Jazz in Disneyland
Schneewittchen lernt swingen
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

Nur zehn Jahre nach Einführung des Tonfilms (1927) präsentierte Walt Disney seinen ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm: „Schneewittchen“ (Snow White and the Seven Dwarfs, 83 Min.). Spätestens da wurde deutlich, dass Zeichentrickfilme auch große Musikfilme sind: Es ist die Musik, die den gezeichneten Aktionen Kraft und Leben gibt und den zweidimensionalen Figuren die nötige Gefühlstiefe. Unter Studiomusikern hieß das Spielen zu Filmaktionen schon bald „Mickey Mousing“. Disneys dritter Langfilm, „Fantasia“ (1940), war sogar eine brillante Hommage an die klassische Musik – von Bach bis Strawinsky. Und für die Songs in seinen Filmen engagierte Disney immer die besten Songschreiber Hollywoods, Texter wie Bob Hilliard, Ray Gilbert und Ned Washington, Komponisten wie Allie Wrubel, Leigh Harline und Sammy Fain. Jazzfans kennen diese Namen von den Autoren-Credits zahlloser Jazzplatten.

Die Songs, die diese Leute für Disneys Filme schrieben, sind um nichts schlechter. Das brachte den Pianisten Dave Brubeck auf eine Idee: „Ich habe gerade die Kinder durch Disneyland geführt“, erklärte er seinem Produzenten 1957, „und da fiel mir ein, dass wir ja verschiedene Stücke aus Disney-Filmen im Programm haben.“ So entstand das Konzept für Dave Digs Disney – das erste Jazzalbum, das sich ausschließlich Zeichentrick-Songs widmet. Die acht Melodien aus „Schneewittchen“ (1937), „Pinocchio“ (1940), „Cinderella“ (1950) und „Alice im Wunderland“ (1951) erweisen sich als ideale Steilvorlagen für den luftigen Cool-Jazz-Stil des Brubeck-Quartetts. Joe Morello lässt die Jazzbesen tanzen, Dave Brubeck blockt die Klavier-Akkorde, Paul Desmonds Altsaxofon flattert hinaus in Fantasieräume. Zwei Jahre vor ihrem großen Welthit „Take Five“ jonglieren die Brubeck-Mannen bereits lustvoll mit metrischen Kontrasten und improvisierten Kontrapunkten. Höhepunkt des Albums ist Schneewittchens Walzer-Arie „Some Day My Prince Will Come“, die hier unvermutet in bluesige Abgründe blickt. Das beeindruckte damals viele Jazzkollegen, darunter Bill Evans, Miles Davis und Oscar Peterson: Sie nahmen das Stück in den Folgejahren ins Programm und machten es vollends zum Jazz-Standard.

Einen seiner größten Erfolge hatte Disney 1964 mit dem – von menschlichen Darstellern gespielten – Märchen-Film-Musical „Mary Poppins“. Die Songs darin stammen von den Sherman-Brüdern (Richard und Robert), die später auch das „Dschungelbuch“ oder die „Aristocats“ versorgen sollten und außerhalb des Disney-Imperiums ebenfalls mit guten Songs glänzten („You’re Sixteen“, „Chitty Chitty Bang Bang“). Eine Woche nach dem US-Kinostart des Films nahm das Orchester von Duke Ellington bereits das Tribut-Album Mary Poppins auf: zwölf kompakte, originell instrumentierte Nummern in Single-Länge. Das Team Ellington/Strayhorn arbeitete damals unter Hochdruck und in Höchstform: „Die Tinte der Noten war noch feucht, wenn wir aufnahmen“, erzählt der Ellington-Posaunist Buster Cooper. Schiefgehen konnte nicht viel bei solchen Songs („A Spoonful Of Sugar“, „Chim Chim Cheree“, „Supercalifragilistic...“) und solchen Solisten – allen voran der seidenweich schwärmende Johnny Hodges und der elfenhaft launische Paul Gonsalves. Knapp, humorvoll, dynamisch: Die farbenreichen Arrangements lassen an die gefeierte „Far East Suite“ denken, die zwei Jahre später entstand.

In den Disney-Studios liebte man den Jazz. Eine der führenden Dixieland-Bands Amerikas, die Firehouse Five, bestand tatsächlich aus Disney-Zeichnern. Für Zeichentrickfiguren wie King Louie („Dschungelbuch“) und Scat Cat („Aristocats“) stand kein Geringerer als Louis Armstrong Pate, der die akustische Realisierung aber nicht übernehmen konnte. (Er wurde durch Louis Prima bzw. Scatman Crothers würdig vertreten.) Immerhin kam 1968 ein Disney-Tributalbum mit Armstrong zustande: Disney Songs The Satchmo Way“. Niemand hätte die Lebensfreude und das Charisma solcher Songs wie „Zip-A-Dee-Doo-Dah“ oder „Bibbidi-Bobbidi-Boo“ authentischer verkörpern können als der 67-jährige Vater des Scat-Gesangs, der gute, alte Satch mit der Reibeisenstimme. Auch ein paar Takte aus seiner Trompete sind zu hören, obwohl ihm das Spielen vom Arzt bereits verboten war. Leider bewegen sich die kommerziellen Arrangements – imitierter Dixieland, Streicher, Chor – nahe am Kitsch. Aber das vergisst man, wenn sich Armstrong in den Dschungelbären Baloo verwandelt oder den Song „When You Wish Upon A Star“ auf eine Art hinräuspert, die an sein legendäres „What A Wonderful World“ erinnert. Satchmo soll auf immer unvergessen sein!

© 2012, 2016 Hans-Jürgen Schaal


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