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Seit der Jahrtausendwende sorgt die Frau aus Boden in Nordschweden für immer mehr Aufsehen – kreuz und quer durch Europa und rund um den Globus. Schon jetzt hat Karin Hammars fantasievolles Spiel unser Bild der Jazzposaune ein wenig verändert. Denn in den Händen der großen Blonden verliert dieses Instrument alles Schwerfällige und Stereotype, wird zur Stimme einer weit ausholenden Melodik, einer hypnotisch wirkenden Melancholie, einer groovenden Entdeckungslust und eines virtuosen Flows. Namhafte Weggenossen und renommierte Auszeichnungen begleiten Karin Hammars erstaunliche Erfolgsspur.

Karin Hammar
„Du musst dein Ich ausblenden“
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

*****

Die Posaune ist nicht gerade ein typisches Mädchen-Instrument. Verlangt sie nicht viel Körperkraft?

Karin Hammar: Die richtige Technik ist entscheidend. Erst mal lernst du die Atemtechnik und die hat sehr wenig mit deiner Körpergröße zu tun. Es geht da mehr darum, das zu nutzen, was dir zur Verfügung steht. Aber natürlich ist die Posaune ein körperliches Instrument. Wenn du ausgeruht bist und in guter Kondition, ist es leichter, das Horn zu halten und richtig zu atmen. Wenn ich müde bin und wenig Energie habe, schlägt sich das sofort im Spiel nieder.

Deine schöne Altstimme lässt vermuten, dass du eine natürliche Vorliebe für den Klang und die Tonlage der Posaune hast.

Danke! Ja, meine Stimme liegt genau im mittelhohen Register der Posaune. Ich „höre“ die Musik in dieser Tonlage, wenn ich komponiere.

Wie fanden deine Freundinnen und Freunde das, als du im Teenager-Alter anfingst, dich für Jazz und die Posaune zu interessieren?

Da müsstest du wohl sie fragen. Natürlich war ich ein bisschen anders, weil ich mich so sehr auf ein Instrument fixiert habe, und ich war auch sehr, sehr groß gewachsen. Aber ich habe mich nie abgelehnt oder gemobbt gefühlt. Ich war gut in der Schule und in allen Sportarten, daher bekam ich da keine Probleme. Unsere ganze Familie galt in unserer Kleinstadt als „die Kulturfreaks“ und als nicht ganz normal.

Wie wichtig war deine Schwester Mimmi für deine Entwicklung?

Persönlich sehr wichtig, musikalisch vielleicht nicht so sehr. Wir waren schon immer verwandte Seelen und verstanden uns nie besser als heute. Ich frage sie in vielen Dingen um Rat.

Wie wichtig war für dich als Jugendliche die Erfahrung, Jazz live zu hören, etwa von der Norrbotten Big Band?

Das war extrem wichtig. Bei der Big Band erlebte ich große Posaunensolisten wie Mikael Råberg und Nils Landgren. Und der Lead-Posaunist, PO Svanström, war viele Jahre lang mein Lehrer, wofür ich sehr dankbar bin. Dass ich Vollzeit-Jazzmusikerin sein wollte, ergab sich aber erst am Royal College in Stockholm, so mit 19, 20 Jahren. Bis dahin war ich in einer Klassik-Ausbildung und wollte eigentlich nur Posaune spielen, egal in welchem Stil. Erst in meinen frühen Zwanzigern habe ich gemerkt, dass ich nichts anderes tun will als Musik machen, vor allem Jazz.

Wer außer J.J. Johnson und Kai Winding sind deine persönlichen Helden auf der Posaune?

Meine Nummer eins ist Frank Rosolino, weil er über die Posaune hinausgeht und einfach seine Gefühle spielt. Bei J.J. ist die melodische Erfindungskraft absolut herausragend. Auch Bob Brookmeyer war ein König des melodischen Spiels.

Mich beeindruckt die Qualität deiner Soli, deine Flexibilität in Rhythmus und Phrasierung, der dynamische Aufbau. Jazzposaunisten sind ja oft ein wenig langweilig, weil sie sich an kleinen Intervallen und gleichförmigen Rhythmen festbeißen. Wie bist du zu so einer großartigen Improvisatorin geworden?

Wow, das sind große Worte, danke! Ich glaube, es geht vor allem darum, das, was du in dir selbst hörst, durchs Horn nach draußen zu bringen. Mein Ziel ist es, mich am Instrument so frei wie möglich zu fühlen, so dass es zu einem Teil von dir wird und nicht ein Hindernis. Dafür muss man sehr, sehr viel Zeit mit dem Instrument verbringen. Die besten Spieler üben viele Stunden täglich.

Nils Landgren gilt als dein Mentor. Wie hat er dich beeinflusst: ästhetisch, technisch, als Person?

In jeder Hinsicht! Nils ist ein wichtiger Grund dafür, dass meine Generation und die folgenden Generationen Posaune spielen. Er hat die Posaune in den Achtzigern in Schweden zu einem coolen Instrument gemacht. Und er inspiriert mich noch immer jedes Mal, wenn ich ihn höre oder mit ihm spiele. Technisch macht er Sachen auf der Posaune, die niemand sonst kann. Persönlich hat er mir so viele Ratschläge gegeben – nicht nur zur Musik, sondern auch zum Bandleader-Sein, zu Plattenlabels, wie man mit Clubs, Agenten, Medien umgeht... Es ist ja Wildnis da draußen! Wenn es nur ums Musikmachen ginge, das wäre einfach...

Wie Nils Landgren magst du es gerne groovy und swingend. Wie wichtig sind dir konventionelle Jazz-Tugenden?

Sie sind mir sehr wichtig, denn sie sind die Basis – aber dann auch wieder nicht so wichtig. Wenn ich etwas schreibe, versuche ich einfach nur, dem treu zu bleiben, was ich selbst ausdrücken will. Aber ich liebe natürlich die Standards.

Welche Bedeutung hatte die klassische Posaunen-Ausbildung für dich?

Sie war absolut essentiell. Ich übe jeden Tag klassische Technik und ich empfehle allen jungen Posaunisten, klassische Musik zu studieren. Als Posaunen-Profi musst du auf jeden Fall auch ein guter Notenleser sein.

In deinen Workshops sprichst du auch über Lampenfieber und mentale Stärke. Kennst du so etwas wie Bühnenangst?

Ja, immer mal wieder. Als ich jünger war, hatte ich auf der Bühne manchmal Migräneattacken. Und ich kapierte rasch, dass das einfach Lampenfieber in konzentrierter Form war. Ich arbeite mit mentalem Training dagegen an, indem ich mir zum Beispiel die ideale Spielsituation vorstelle, so wie sich ein Athlet vor dem Start seinen Lauf vergegenwärtigt. Ich bin auch viele Jahre in Therapien gegangen, die mir halfen, Selbstvertrauen aufzubauen. Um auch in Stresssituationen relaxt und freudig zu musizieren, musst du das, was du bist, von dem trennen, was du gerade tust. Wir Musiker tendieren leider dazu, unser Selbstwertgefühl mit der Qualität unseres Spiels zu verwechseln. Aber wenn du dein Ich ausblendest und einfach nur in der Musik bist, verliert sich alle Angst.

Auf welchen deiner Preise bist du besonders stolz?

Einmal auf den Alice Babs Award (2004), weil ich die erste Preisträgerin überhaupt war – bei so vielen großen Kollegen! Und dann auf den SKAP Award (2009), weil das ein Kompositions-Preis ist, vergeben von anderen Komponisten.

Du schreibst faszinierende Stücke, eigenwillig, oft sehr eindringlich. Wie erfindest du deine Melodien?

Entweder beim freien Spielen auf der Posaune oder beim Singen. Oder ich finde beim Herumprobieren auf dem Klavier eine coole harmonische Verbindung oder eine Basslinie. Das ist ganz verschieden, aber meist fängt es mit einer Melodie beim Posaunenspielen an. Wenn du sie dann harmonisierst, kann allerdings vieles passieren. Zum Beispiel kann eine Rhythmusfigur auftauchen und die Stimmung des Songs völlig verändern.

Du hast mit Carla Bley, Maria Schneider, Ingrid Jensen, Eva Kruse und vielen anderen Kolleginnen gearbeitet. Bringen Frauen eine neue Sensibilität in den Jazz?

Ich denke da nicht in Kategorien wie „männlich“ und „weiblich“. Aber ich hoffe, dass wir für junge Musikerinnen Vorbilder abgeben, die sie zum Durchhalten inspirieren. In der Praxis haben Bands, die aus Männern und Frauen bestehen, definitiv ein besseres soziales Klima. Meine männlichen Kollegen freuen sich wirklich über jede Frau in der Band. Sie haben es satt, immer nur mit Männern unterwegs zu sein.

Jazz war nach dem II. Weltkrieg in Schweden enorm populär. Wie sieht es heute aus?

Ich glaube, die Schweden hatten damals mentale Reserven für den Jazz frei, weil sie kein zerstörtes Land aufzubauen hatten. Heute ist es ein Teufelskreis: Wenn du nicht bekannt bist, können die schwedischen Clubs dich nicht buchen, und wenn du nicht gebucht wirst, wirst du nicht bekannt. Die Clubs wollen Standard-Repertoire und keine Original-Stücke. Ich wünschte, es gäbe mehr alternative Szenen in Schweden, denn es gibt so viele kreative Musiker. Wenn du ohne Bezahlung spielst, kannst du allerdings jeden Abend auftreten.

© 2012, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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