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Ihr Tonumfang ist der größte aller Blasinstrumente und theoretisch nach oben unbegrenzt. Ihre Dynamik reicht von ppp bis fff, ihr Klangverhalten umfasst mehrere Persönlichkeiten zwischen mysteriös und schrill. Vor allem aber ist die Klarinette eines: ein ewiger Patient.

Das unmögliche Instrument
Wie die Klarinette wurde, was sie ist
(2010)

Von Hans-Jürgen Schaal

Weit über Nürnberg hinaus genoss Johann Christoph Denner den Ruf, einer der besten Instrumentenbauer zu sein. Vor allem die neuen Instrumente aus Frankreich, den zierlichen Hautbois, der schnell den alten Pommer verdrängt hatte, und die flûte à bec, die Schnabelflöte, baute keiner weit und breit so kunstreich wie er. Denner hätte zufrieden sein können, doch er war ehrgeizig: Ob es wohl möglich wäre, fragte er sich, dem Chalumeau, diesem alten, einfachen Volksinstrument mit Anschlagzunge, ebenfalls eine zeitgemäße Gestalt zu geben, sodass die Herren Compositeure sich seiner genauso annähmen wie der Oboe und der Blockflöte? Das Problem beim Chalumeau war der geringe Tonumfang, der gerade mal die Oktave erreichte – eindeutig zu wenig für anspruchsvolle Musikwerke. Denner begann zu basteln: Er nahm eine Blockflöte, applizierte ihr ein einfaches Rohrblatt, bohrte zusätzliche Tonlöcher, die über Hebel zu bedienen waren – und hatte Erfolg damit. Tonsetzer wie Telemann und Graupner verlangten in ihren Partituren bald diesen neuen Chalumeau.

Doch Denner war nicht zufrieden. Er und sein Sohn experimentierten weiter, gaben dem Chalumeau Birne (Mundstück) und Stürze (Schallbecher) und veränderten Länge und Form der Röhre. Mithilfe eines besonderen Tonlochs gelang es Denner schließlich, dass man das Instrument überblasen konnte: Das war bei der Oboe das Geheimnis ihres Erfolgs gewesen. Doch dummerweise sprang Denners Instrument beim Überblasen nicht in die Oktave, sondern in die Duodezime, die Quint über der Oktave. Denner kannte noch nicht den Begriff der geschlossenen Röhre, aber das Prinzip war ihm wohl von der gedackten Orgelpfeife her vertraut: Das enge zylindrische Rohr seines neuen Instruments in Verbindung mit dem besonderen Mundstück lässt die Schallwelle im Rohr hin- und zurückwandern. Der Grundton klingt daher eine Oktave tiefer als erwartet und die Schwingung ist nicht halbierbar, sondern springt beim Überblasen gleich in den 3. Partialton, den 2. Oberton.

Und damit fingen die Probleme an. Wenn die erste Lage eineinhalb Oktaven umfasst, brauchte das Instrument nicht 11 Tonschritte, sondern 18, also mehrere zusätzliche Tonlöcher – und wie sollte man das Spiel darauf mit nur 10 Fingern bewältigen? Schlimmer noch: Beim Überblasen in die Duodezime entsprachen die Tonlochabstände nicht mehr der temperierten Stimmung – das Instrument klang falsch und verstimmt. Ein Irrweg, eine Sackgasse, eine Fehlgeburt? Es gab kein Zurück: Komponisten wie Vivaldi und Händel stürzten sich geradezu auf Denners Erfindung, die 1732 den Namen „Klarinette“ (kleine Clarin-Trompete) erhielt – wegen des klaren, durchdringenden Tons des Überblasregisters. Tonumfang, Dynamik, Klangflexibilität machten das Instrument bald unverzichtbar. Mozart erklärte den Erfolg der Klarinette mit ihrer Nähe zur menschlichen Stimme. Zu seiner Zeit hatte sie bereits fünf Zusatzklappen.

200 Jahre lang waren die Instrumentebauer damit beschäftigt, dieses wundervolle, unmögliche Instrument zu retten – seine Fehler zu korrigieren, seine Unzulänglichkeiten auszutricksen. Man hat den Tonumfang der Klarinette erweitert, Klang und Intonation verbessert und ihre virtuose Spielbarkeit erleichtert. Man hat zusätzliche Löcher gebohrt, ständig neue Klappen, Hebel, Rollen, Federn und Ringe angebracht. Man fand Lösungen, Teillösungen, Hilfslösungen und viele Kompromisse. Letztlich liegt es am Spieler, die Defizite des Instruments durch Ansatz und Tongebung auszugleichen. In den Worten des berühmten klassischen Klarinettisten Jack Brymer (1915-2003): „Die Fähigkeit, Klarinette zu spielen, ist die Fähigkeit, die Unvollkommenheiten des Instruments zu überwinden.“

Ein Jahrhundert nach Denner räumte ein gewisser Iwan Müller aus Reval mit einigen Kompromissen auf. Er veränderte das Klarinettenblatt, führte die Blattschraube ein sowie „erhabene“ Ringe um die Grifflöcher. Vor allem ging es ihm um die Tonreinheit des Instruments: Müller berechnete die akustisch korrekte Platzierung aller Tonlöcher für alle Register und kam zu dem Schluss, dass er 13 Klappen benötigte. Da der Hebeldruck nicht immer ausreichte, um die Klappen fest zu schließen, erfand er dafür die Löffelklappe mit luftdichtem Lederpolster. Am Konservatorium in Paris verweigerte man ihm dennoch die Anerkennung, denn Konservatorien denken natürlich konservativ. Müllers chromatische Klarinette empfand man dort als Bedrohung des Charakters der einzelnen Tonarten und damit als Angriff auf die Klarinetten-Familie. Die Müller-Klarinette blieb eine deutsche Angelegenheit.

30 Jahre später entschied man in Paris anders, aber diesmal waren die Erfinder auch Franzosen. Der Virtuose Hyacinthe Klosé und der Instrumentebauer Louis-Auguste Buffet entwickelten um 1840 eine „clarinette à anneaux mobiles“ mit 17 Klappen. Sie griffen bei der Verbesserung der Intonation auf die Prinzipien der Böhm-Flöte zurück, adaptierten deren Klappen- und Hebelsystem und führten bei der Klarinette die Ringklappe ein, die die Fingerkuppe „vergrößert“, um größere Löcher zu schließen, und gleichzeitig eine zweite Klappe an anderer Stelle bewegen kann. Klosé waren aber auch spieltechnische Erleichterungen wichtig: die Reduzierung von Gabelgriffen, die Entlastung der kleinen Finger, Alternativgriffe für schnelle Läufe. Als Klarinettenprofessor am Pariser Konservatorium hatte Klosé genug Einfluss, um das Instrument durchzusetzen, und lieferte seinen Studenten auch gleich Lehrwerk und spezifische Kompositionen für die neuartige Grifftechnik. Erst die deutsche Firma Mollenhauer taufte Klosés Erfindung 20 Jahre später „Böhm-Klarinette“.

Der Belgier Eugène Albert hat sich einige bautechnische Elemente der Böhm-Klarinette ausgeliehen und damit um 1860 die deutsche Müller-Klarinette verbessert. Zweifellos war Alberts Instrument intonationsgenauer als die Böhm-Klarinette seiner Zeit. Als in den USA 1865 die Sklaverei abgeschafft wurde und Afroamerikaner gebrauchte Armee-Instrumente erwerben konnten, war die Albert-Klarinette der Standard – und wurde zum Instrument des New-Orleans-Jazz. Alle frühen Jazzklarinettisten – Sidney Bechet, Barney Bigard, Johnny Dodds, Edmond Hall, Jimmie Noone und Dutzende anderer – spielten die Albert-Klarinette. Sie schätzten ihren vollen, runden Klang und die Biegsamkeit der Töne. Raymond Burke (1904-1986) sagte: „Ich habe nie Böhm-System gespielt. Ich frage mich, wozu sie das überhaupt bauen. Wozu all die Tasten und ein halbes Dutzend Alternativen, um einen Ton hervorzubringen? Je weniger Tasten und Löcher, desto besser!“ Selbst Woody Allen spielt heute in seiner Dixie-Band Albert-Klarinette – zwecks größerer Authentizität: „Die Grifftechnik muss wohl die Phrasierung beeinflussen.“ Auch in der türkischen und Klezmer-Musik hat sich das Albert-System erhalten.

Die letzten größeren Neuerungen am deutschen System entwickelte um 1890 der Klarinettist Oskar Oehler, ein Gründungsmitglied der Berliner Philharmoniker. Ihm ging es bei seiner 22-Klappen-Klarinette vor allem um eine klangliche Verbesserung: Die Idee für die Oehler-Mechanik kam ihm im Wirtshaus nach dem dritten Bier. Auch viele andere ingeniöse Instrumentebauer und Virtuosen haben an der Klarinette mitgebastelt, um einige ihrer Unvollkommenheiten zu korrigieren. Hier sind nur ein paar der wichtigsten Namen: Adolphe Sax (Ringklappen), Carl Baermann (Doppelhebel), Joseph Tyler (Cis-Patent), Robert Stark (Trillerklappe), Pupo Pupeschi (Mechanik) oder Rosario Mazzeo (Ringhebel). Neben der Böhm-Klarinette gibt es auch die Voll-Böhm, neben der Oehler-Klarinette auch die Voll-Oehler. Der Klarinetten-Historiker kennt außerdem die Reform-Boehm von Wurlitzer, die weiterentwickelte Böhm von Antonio Romero y Andía (28 Löcher, neue Griffhaltung), die Patentklarinette von Heckel, die Deutsche Normalklarinette von Mollenhauer, die Wiener Klarinette, die Baermann-Ottensteiner oder die Schmidt-Kolbe. Klarinettenbau ist eine schwierige Wissenschaft.

Bis heute ungeschlichtet ist der Streit zwischen Böhm-System und deutschem System. Die Böhm klingt schärfer, heller, vielfältiger, begünstigt das Vibrato, die Virtuosität, die schnellen Läufe, die Eleganz und den Geldbeutel. Die Oehler oder Albert klingt wärmer, dunkler, obertonärmer, begünstigt die Tonbeugung und das Glissando, verlangt Gabelgriffe, Zungen- und Fingertricks. Trotz seines Vornamens ist ausgerechnet der Dixieland-Bläser Albert Nicholas (1900-1973) – anders als seine Kollegen – seiner Albert-Klarinette einst untreu geworden: „Sie musste überholt werden und ich ließ sie dafür nach Frankreich schicken. Ich musste mich in der Zwischenzeit mit einer Böhm behelfen und als die Albert wiederkam, hatte ich die Griffe vergessen...“

© 2010, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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