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Wenn von Frauen im Jazz die Rede ist, denken viele zuerst an Sängerinnen. Aber auch Instrumentalistinnen prägen zunehmend die Sprache des Jazz, verändern seine Ästhetik, fokussieren seine Sensibilität und erweitern seine Ausdruckskraft.

Jazz ist weiblich (2)

Sie heißt wirklich wie die blondierte Sängerin, die mit „Fever“ ihren großen Hit hatte. Doch die Cellistin Peggy Lee ist rund 45 Jahre jünger, Kanadierin, Improvisatorin und Komponistin. Angefangen hat sie klassisch, dann entdeckte sie den freien Jazz, lernte den Schlagzeuger Dylan van der Schyff kennen und wurde zu einem Aktivposten der kreativen Szene von Vancouver. Das Ausdrucksspektrum ihres Cellos reicht vom Romantischen bis zum Klirrgeräusch. Mit ihrem Oktett erkundet sie unbekannte Stimmungen, Klangfarben und Abläufe, die wie mysteriöse Traumszenen anmuten. Ein Kritiker sprach von „wilder Extravaganz, sphärischer Dekonstruktion, futuristischer Gruppendynamik“. CD-Tipp: „New Code“ (Drip Audio, 2008).

Peggy Lee
„Klassik ist ein gutes Training“
(2010)

Lebst du schon immer in Kanada?

Peggy Lee: Fast immer. Als Kind war ich ein Jahr mit meiner Familie in Tansania. Und mit Anfang 20 studierte ich ein paar Jahre lang Cello in Atlanta, Georgia. Meine Eltern sind beide in Kanada geboren. Mein Vater ist chinesischer Abstammung, meine Mutter hat englische Vorfahren.

Ist die ganze Familie musikalisch?

Musik war bei uns in der Tat immer sehr wichtig, obwohl meine Eltern kein Instrument spielen. Es gab auch großartige Musikangebote von der Schule, was dazu führte, dass drei von uns vier Kindern professionelle Musiker wurden. Meine Eltern haben mich immer unterstützt, gleichgültig, in welche Richtung mich die Musik auch geführt hat.

Das Violoncello ist im Jazz und in der improvisierten Musik ein seltenes Instrument. Ist das ein Handicap oder ein Vorteil?

Sicherlich haben sich mir einige enorme Möglichkeiten eröffnet, nur weil ich Cello spiele. Am Anfang waren es wohl tatsächlich weniger meine improvisatorischen Fähigkeiten als vielmehr mein Instrument, das mir einen Platz in der kreativen Musikgemeinschaft von Vancouver eroberte. Das Instrument – und meine Begierde zu lernen.

Worin liegen die Stärken des Cellos in der kreativen Musik?

Das Cello ist einfach vielseitig, daher kann es auf ganz verschiedene Weise innerhalb einer Improvisation agieren: unterstützend, solistisch, kolorierend, rhythmisch und so weiter. Das Publikum hat weniger vorgefertigte Erwartungen an die Rolle, die das Cello spielt.

Bei der Beschreibung deiner eigenen Musik fallen mir Worte ein wie „fließend“ und „sonor“. Beide Worte passen aber auch gut zum Spiel des Cellos. Hat dein Instrument deine musikalische Vision geprägt?

Möglicherweise. Allerdings finde ich, dass ich fürs Cello oder für Streicher allgemein nicht besonders gut schreibe. Ich glaube, ich habe ein gutes Gefühl für Blechbläser. Meine Cello-Parts sind gewöhnlich das Letzte, woran ich denke, und wahrscheinlich auch das Schwächste.

Du und Dylan, ihr habt auch Kinder zusammen. Wie alt sind sie?

Sie sind 12 und 9. Und sie kommen neuerdings auch zu unseren Gigs, was sehr schön ist. Sie unterstützen uns sehr! Ich glaube, dass die beiden in einigen Jahren eine recht gute Rhythmusgruppe bilden werden.

Wie schwer ist es, eine gute Musikerin zu sein und gleichzeitig eine gute Mutter? Wie machst du das?

Nun, ich könnte mir gar kein anderes Leben vorstellen. Aber es ist tatsächlich viel einfacher geworden, seitdem die beiden Kids älter und selbstständiger sind. Natürlich gibt es bei uns keinen wirklich geregelten Alltag, denn meine Arbeit ist vielseitig und wechselhaft. Wenn ein Konzert näher rückt, habe ich vielleicht eine intensive Probezeit. Ich spiele auch im Orchester der Oper, da gibt es Phasen, in denen mich das sehr beschäftigt. Grundsätzlich versuche ich mich am Cello technisch fit zu halten, indem ich täglich Bach spiele. Und ich versuche, regelmäßig zu komponieren, indem ich einfach zum Spaß Projekte starte – für mich und ein paar Musiker, mit denen ich gerne spiele.

Arbeitest oder probst du auch mit Dylan zusammen?

Wir arbeiten nicht mehr so viel zusammen wie früher. Und wir üben praktisch nie zusammen. Dylan ist überhaupt kein Fan vom Üben!

Gibt es grundsätzliche Unterschiede in der Art, wie Frauen und Männer mit Musik umgehen?

Das glaube ich nicht. Wenn ich improvisiere, vergesse ich, ob die anderen Musiker Männer oder Frauen sind. In der Pause allerdings kann das Gespräch verschiedene Richtungen nehmen, je nachdem...

Vancouver scheint ein besonderer Ort für improvisierte Musik zu sein. Kann man in der Szene dort überleben, ohne jemals außerhalb der Stadt aufzutreten?

Jetzt, da hier überall die Zuschüsse gekürzt werden, wird es schwerer, nur von lokalen Auftritten zu leben. Das Besondere an Vancouver ist eben, dass das Touren sehr teuer ist, wenn man von so einem entlegenen Ort startet.

Warum ist die Szene von Vancouver so speziell? Liegt es am Festival oder vielleicht am Klima?

Sicherlich ist das Festival etwas Besonderes und wird auch so wahrgenommen. Unser Klima ist mild, aber wir haben auch viel Regen, was nicht alle Leute leicht ertragen können. Aber an einem sonnigen Tag ist die Landschaft mit den Bergen und dem Meer einfach umwerfend!

Welche Rolle spielst du als Musikerin in der Vancouver-Szene?

Ich gebe keinen formellen Unterricht. Aber als klassisch ausgebildete Musikerin, die sich in andere Gebiete vorwagt, versuche ich immer, für Diskussionen über Grenzüberschreitungen offen zu sein. Ich gehe manchmal auch in die Schulen und demonstriere meinen Zugang zum Instrument. Natürlich ist es immer am besten, wenn die Leute einfach ins Konzert kommen und selbst die Musik auschecken.

Kanada scheint ein Herz für kreative Musik zu haben...

Das ist mir noch nicht aufgefallen. Kreative Musik ist hier eine Marginalie wie überall sonst auch.

Was sind deine wichtigsten Projekte zurzeit?

An eigenen Projekten gibt es die Peggy Lee Band, die bis jetzt vier Alben veröffentlicht hat, und ein neueres Projekt, das „Film in Music“ heißt. Die Idee hinter dieser Gruppe ist es, das „Dramatische“, das in der improvisierten Musik immer steckt, herauszustellen und zu betonen. Beide Ensembles sind achtköpfig, also nicht wirklich tourgeeignet, was sehr schade ist. Neuerdings schreibe ich auch viele Songs zusammen mit ein paar Freunden: Wir nennen uns Daisy Brittle, man kann uns auf MySpace begutachten. Daneben gibt es das Gravitas Quartet von Wayne Horvitz, eine ganz besondere Band, wir spielen weiterhin gelegentlich zusammen. Dann: Talking Pictures, eine Band, mit der ich seit meinen Anfängen als Improvisatorin arbeite. Die Band hat gerade eine CD auf Songlines herausgebracht – mit Wayne Horvitz und Robin Holcomb. Eine langjährige musikalische Verbindung habe ich auch mit dem Gitarristen Tony Wilson, da kommt jetzt eine kleine Kanada-Tour. Und schließlich gibt es eine neue Band des Gitarristen Gordon Grdina: mit großartigen Streichern wie Eyvind Kang und Jesse Zubot, wir gehen im Frühjahr auf Tour.

Ich höre sehr gerne deine Alben mit Dave Douglas, „Bow River Falls“ und „Mountain Passages“. Wie kamen sie zustande?

Einer der schönen Aspekte des Vancouver Jazz Festivals ist, dass dort lokale Musiker mit Gastmusikern spielen können. Eine dieser Gelegenheiten war ein Konzert mit Dave Douglas, Louis Sclavis, Dylan und mir. Es machte Riesenspaß und so sorgte Dave dafür, dass wir uns alle beim Jazz-Workshop in Banff wieder trafen – und ein Album aufnehmen konnten, „Bow River Falls“. Leider hat die Band seitdem nie mehr zusammen gespielt. Die Gruppe, die „Mountain Passages“ aufnahm, kam dagegen bei einer großartigen Tour in den Dolomiten zustande. Dave hatte den Auftrag, Musik zu schreiben, die an entlegenen Bergpässen gespielt werden sollte. Ein Jahr später haben wir die Musik dann aufgenommen.

Du spielst auch immer noch klassische und Neue Musik...

Ja, ich spiele hier in der Oper, die vier Produktionen im Jahr herausbringt. Und ich arbeite in einem Ensemble für Neue Musik. Es heißt Standing Waves und erteilt auch Kompositionsaufträge. Und ich spiele in einem Streichquartett namens Microcosmos, unser Repertoire ist Musik der letzten 100 Jahre.

Wie ergänzen sich diese Aktivitäten mit der improvisierten Musik, die du machst?

Komponierte Musik zu spielen ist ein gutes Training für meine Cello-Technik. Und ich bekomme ständig Anregungen, wie man eine Komposition noch angehen könnte. Es hängt also alles mit meiner kreativen Musik zusammen.

© 2010, 2012 Hans-Jürgen Schaal


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