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Handwerk ist das eine: Das lernen Jazzmusiker von Grund auf. Das andere ist Intuition, Fantasie, Originalität: Das kann man nicht lernen. Und manchmal bremst gerade das handwerkliche Können den Fluss der Fantasie: weil man sich nicht vorstellen kann, dass es auch anders ginge. Warum nicht unbelastet an eine Sache herangehen, ohne Regeln, ohne Bücher? Auch an den Jazz. Liebe Jazzpuristen und Jazzpolizisten, ihr müsst jetzt leider mal draußen bleiben!

Jazz neben dem Jazz
Popmusiker auf Abwegen
(2008)

Von Hans-Jürgen Schaal

Schuster, bleib bei deinem Leisten! So hieß es früher. Doch die Zeiten strenger Zunftordnung sind zum Glück vorbei. Heute, in der Ära alternativen Handwerks, beruflicher Mobilität und professioneller Hobbys, darf sich unser guter Schuster ruhig zwischendurch auch als Couturier oder Coiffeur versuchen. Oder einfach mal an einem Pferdeschuh. Selbst wenn das dabei entstehende Hufeisen nicht ganz zünftig ist und weder Pferd noch Reiter passen sollte, kann man es ja immer noch poppig bunt anmalen und stolz über den Hauseingang hängen. Da macht es dann manche Freude und bringt vielleicht sogar Glück ins Haus.

Ganz ähnlich ist es, wenn Popmusiker sich zwischendurch jazzig betätigen. Natürlich haben sie nicht das Real Book drauf und keine Aebersold-Licks geübt, können die Rhythm-Changes nicht im Schlaf und haben keinen Dunst vom bitonalen Improvisieren in Dorisch-F. Aber statt zünftiger Bodenständigkeit besitzen sie poppig bunte Ideen, bringen zusammen, was nicht zusammengehört, und schaffen mit Spaß und Mutwillen einen Jazz, der nicht aus der 52. Straße kommt, sondern aus einem Paralleluniversum. Die Preisjurys der Jazzprofessoren werden sie damit nicht überzeugen, aber sie bringen Freude und Glück in unser Leben.

Wie zum Beispiel Joni Mitchell, die Großmutter des Songwriter-Pop. In einer Umbruchphase ihres Lebens begegnete die damals 35-Jährige dem 20 Jahre älteren Charles Mingus. Der schwarze Jazzbassist und Bandleader war schon todkrank und auf den Rollstuhl angewiesen, aber immer noch zu Experimenten aufgelegt und schrieb der Sängerin sechs Stücke auf den Leib. Für ihr Album „Mingus“ hat Joni Mitchell drei davon betextet – „A Chair In The Sky“, „Sweet Sucker Dance“ und „The Dry Cleaner From Des Moines“ –, dazu den großen Mingus-Klassiker „Goodbye Pork Pie Hat“. Zwei eigene Songs hat sie noch ergänzt, den zweiten – „God Must Be A Boogie Man“ – erst nach Mingus’ Tod, inspiriert von seinem autobiografisch getönten Buch „Beneath The Underdog“. Auf der Suche nach dem richtigen Weg, Mingus für sich selbst umzusetzen, hat die Sängerin in der Vorbereitung des Albums ein ganzes Kontingent Jazzmusiker verschlissen, darunter Gerry Mulligan und John McLaughlin. Am Ende blieben übrig: Wayne Shorter mit ein paar fast körperlosen Sopransax-Einsprengseln, Herbie Hancock mit genial leichtsinnig hingeworfenen Fender-Rhodes-Klängen, Jaco Pastorius mit seinem emanzipiert herumstreunenden E-Bass, der hinter vielen Masken versteckt Mingus zelebriert, sowie drei Perkussionisten. Natürlich ist Joni Mitchells Album kein erkennungsdienstlich beglaubigter Jazz, eher Jonzz oder Mitchellmingism. Das Jazzige darin bleibt eine abenteuerlustige Geste. Im Mittelpunkt aber steht Jonis Stimme, dieses ätherisch auffahrende, gebrochen abstürzende, nie zähmbare, nie berechenbare Beschwörungs-Organ. Dazu kommt – in Mitchells eigenen Stücken – ihre akustische Gitarre, wild und heftig wie nie und zweifellos hier von John McLaughlin inspiriert. Ein gemeinsam mit Mingus dahingeträllertes Fragment über „I’s a-Muggin’“ verrät, dass der Bassist und die Sängerin auf jeden Fall Spaß miteinander hatten. Und das ist am Ende nicht wenig.

Eines der verrücktesten Hühner im amerikanischen Pop-Stall ist Michelle Shocked, eine aufmüpfige Punkerin mit Folk-Country-Hintergrund und einer unvergesslichen stimmlichen Attitüde irgendwo zwischen Engel und Göre, Hure und Heiliger. Die Mischung aus politischer Provokation, rockender Anarchie und texanischem Lagerfeuer gewann auf ihrem Album „Captain Swing“ sogar noch eine weitere Facette dazu: den Jazz. Aber was heißt Jazz? Natürlich geht es drunter und drüber bei ihr in einem garantiert unpuristischen Gemenge aus Boogie-Rhythmen, Django-Reinhardt-Geschrubbe, Swing-Bläsersätzen, New-Orleans-Mambo, heißem Saxophon, elektrischem Blues, 20er-Jahre-Nostalgie, Rock’n’Roll und Dixieland. Bei der ausgewiesenen Polit-Aktivistin aus Texas werden diese Jazz-Aromen zum emotionalen Gleitmittel für einige der besten Songtexte, die je über Beziehungen, moderne Zivilisation und die Ausbeutung von Erde und Mensch geschrieben wurden. „Swing is a feeling“ lautet das Motto. So was erhält sicherlich nicht das Placet der Jazzpolizei, hat aber mit dem ungebärdigen, lebensfrohen, widerspenstigen Geist des Jazz wahrscheinlich mehr zu tun als irgendein vorschriftsmäßig modulierter Substitutionsakkord im Jazz-Seminar. Neben den 10 Titeln der Original-LP von 1989 bietet die CD-Edition von 2003 noch 17 (!) weitere Beweise für die Befreiungskraft von Captain Swing: Demoversionen mit Swing-Fiddle, Live-Auftritte in Newport, Chicago oder London und obskures Privatmaterial.

Als unerschrockener Archäologe der Americana hat der Gitarrist und Sänger Ry Cooder schon beinahe alles bis auf die Wurzeln freigelegt, was zwischen Kuba und Hawaii so klingt und singt. Aber nicht nur das: Er hat auch verschiedene Roots miteinander verknotet, fremde Triebe direkt aufgepfropft und wilde Hybridisierungen vorgenommen. Besonders schön gelang ihm das auf dem Album „Jazz“: Da entwirft er ein Ganzes aus Widersprüchen und Randerscheinungen und völlig ohne den Anspruch, authentisch zu sein. Mit verschiedenen Besetzungen – von der Bottleneck-Gitarre über die Brassband (mit Cimbalom und Harmonium) bis hin zur 20er-Jahre-Jazzband und zum Gospel-Vokalquartett – beschwört er eine quicklebendige Vergangenheit, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Jelly Roll Mortons hispanisierter Ragtime steht da neben den alten Spirituals, Vaudeville neben Chicago-Jazz. Eine klingende Wurzelbehandlung, fantasievoll und souverän, und dabei große, völlig unangestrengte Musik. Prominente Hilfe kommt von Earl Hines, Red Callender und anderen echten Jazzern, aber auch von klassischen Musikern wie dem Saxophonprofessor Harvey Pittel. Am allerschönsten: die schlagzeuglosen, fast kammermusikalischen Quintett-Bearbeitungen von Bix’ „In A Mist“ und „Davenport Blues“ mit einem Altsax à la Trumbauer und modernistischen Vibraphon-Zusätzen. Die Geschichte des Jazz, ganz neu erfunden.

Dick Tracy ist eine Detektivfigur aus den 1930er-Jahren, die es 60 Jahre später zur Oscar-prämierten Verfilmung brachte. So wie die bunt-plakative Kunstwelt der Comics da zur Projektionsfläche für Hollywood-Träume wird, ist auch die Musik im Film eine historisch gebrochene Fiktion. Stephen Sondheim, einst Librettist der „West Side Story“, schrieb die Bühnenballaden im Stil der frühen Swingzeit, Westcoast-Legenden wie Bob Cooper, Abe Most oder John Guerin spielten die Arrangements ein und Fräulein Ciccione – besser bekannt als Madonna – gab die blondgelockte Versuchung mit einem Touch von „Blue Velvet“. Doch damit nicht genug: Madonna ließ sich von dem Film zu einem ganzen Album inspirieren, „I’m Breathless“, für das sie mit ihrem Keyboarder Patrick Leonard eine Reihe weiterer guter Songs mit antikem Jazzflair erfand. Zum Beispiel den gepiepsten Mambo „I’m Going Bananas“ oder den sentimental-parodistischen Cabaret-Song „Cry Baby“ mit Umptah-Piano, gestopftem Blech und heulender Klarinette. Weitere Titel wie „Hanky Panky“ und „Back In Business“ (mit einem heißen Saxsolo von Jeff Clayton, Chef des Clayton-Hamilton-Orchesters) erinnern mehr an den Acid Jazz von Matt Bianco oder Vaya Con Dios. Am Ende kippt das Album zwar in den um 1990 aktuellen Disco-Sound um, aber bis dahin ist es die reine Freude: Madonna entpuppt sich als Meisterin jeder psychologischen und stimmlichen Nuance und ist einfach die weltweit beste unter allen fiktiven Jazzsängerinnen.

Ende der Siebzigerjahre war die Band Blondie das Aushängeschild der New Yorker New-Wave-Szene. Frontfrau Deborah Harry erreichte mit ihrem kindlich-verruchten Stimmorgan auch damals schon vereinzelt Jazzer-Ohren; heute sind Blondie-Hits wie „Heart Of Glass“ endgültig im Jazz-Repertoire angekommen. Wäre es Debbie Harry jemals eingefallen, eine Jazzband zu gründen, wäre es wohl ein Ensemble wie die Jazz Passengers geworden: virtuos und krachig, unkonventionell und bühnenwirksam – eine Art „Blondie in Jazz“. Doch die Jazz Passengers mussten nicht von ihr gegründet werden: Es gab sie schon seit Mitte der Achtzigerjahre, hervorgegangen aus den Lounge Lizards, die wiederum in ihren Anfängen der New Wave ganz nah standen. Und eben diese Jazz Passengers rund um den Saxophonisten Roy Nathanson erkoren sich für das Album „Individually Twisted“ eben jene Deborah Harry als Bandsängerin: Denn wer sonst könnte so schräg-geniale, fast kabarettistische Original-Songs wie „Maybe I’m Lost“, „Pork Chop“, „Olé“ oder „Imitation Of A Kiss“ mit dieser reifen, heiseren Mädchen-Autorität rüberbringen? Auch das gründlich dekonstruierte „Li’l Darlin’“ oder das Duett mit Elvis Costello in „Don’cha Go ’Way Mad“ (beide Stücke stammen aus dem Count-Basie-Repertoire) werden bei Debbie Harry zu zeit- und kategorienlosen Songfeinheiten. Bunt bemalte Hufeisen eines Hobby-Schmieds. „The Tide Is High“, der einstige Reggae-Hit von Blondie, nun aber mit echter Geige, klingt da vollends, als wäre er für die rumpelig-rauen Jazz Passengers geschrieben.

© 2008, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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