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Was ist leichter: Einen Sack Flöhe hüten oder 57 Jazzmusiker zu einem Gruppenfoto zusammenstellen? Jazz an einem Sommermorgen in Harlem 1958. Übrigens: Nach dem Fototermin zogen sie scharenweise und plaudernd los Richtung Minton’s Playhouse, 8 Straßen weiter.

How ya been, baby?
Wie 57 Jazzmusiker auf ein Foto kamen
(2006)

Von Hans-Jürgen Schaal

Irgendwann setzt sich Count Basie hin, auf den Randstein des Gehsteigs. Er hat genug vom Herumstehen, der Tag wird noch lang und heiß und der Count ist viel zu warm angezogen: dunkler Anzug, Krawatte, Einstecktuch, Hut. Gleich hocken sich einige schwarze Jungs neben ihn, als Erster: Taft Jordan Jr. Sein Vater, der Swingtrompeter, hat ihn an diesem Morgen einfach mitgenommen zu dem seltsamen Fototermin. Der kleinere Junge neben ihm mit dem rasierten Kopf wohnt hier irgendwo; er pufft und knufft Taft die ganze Zeit und hält nicht still. Count Basie spielt inzwischen mit seinem Hut. Einer der Jungs klaut ihn ihm, der Count holt ihn sich wieder. Links und rechts und oben an den Fenstern stehen die Spielkameraden und Geschwister der Jungs. Zurufe und Geschrei gehen hin und her.

Alles beginnt in der Grafikabteilung des Magazins „Esquire“. Man will dem Chef, einem Jazzfan, eine besondere Freude machen: Wie wäre es mit einem ganzen Heft nur über Jazz? Robert Benton, der 25-jährige Art Director und spätere Filmregisseur und Drehbuchschreiber, hätte gern ein großes Foto in der Heftmitte, zum Ausklappen. Er zieht seinen Kollegen Art Kane hinzu, der etwas von Fotografie versteht, obwohl er noch kein Profi-Knipser ist. Was hältst du von vier Jazzgiganten auf einem Foto, so der Vorschlag. Und auf jeden Fall mit Charlie Parker dabei! Charlie Parker?, fragt Kane. Der ist doch seit drei Jahren tot. Kane hat eine bessere Idee: Nicht vier Jazzmusiker, sondern so viele wie möglich sollen auf das Bild. Ein Fotostudio hat er freilich nicht. Also bringt er Harlem ins Gespräch, die Hochburg des Jazz: ein Gruppenbild vor einem typischen Brownstone-Haus in Harlem. Kane bestimmt das Haus: Nummer 17 in der 126. Straße. Er legt den Tag fest: den 12. August 1958. Die Uhrzeit: 10 Uhr morgens. Etwa eine Woche vorher bittet man die Plattenlabels und die Journalisten, alle erreichbaren Jazzmusiker New Yorks zu informieren.

Marian Margaret Turner stammt aus Windsor in England. Bei der Truppenbetreuung lernte die Pianistin 1944 in Belgien den Trompeter Jimmy McPartland kennen, einen der legendären Chicago-Musiker aus der Austin High School Gang. Als seine Ehefrau kam sie 1946 in die USA. Seit Jahren leitet Marian McPartland hier ihr eigenes Jazztrio im Hickory House in der 52. Straße. Von dem anstehenden Fototermin erfährt sie durch Nat Hentoff, den Jazz-Journalisten. Am Morgen des Termins versucht sie allerdings vergeblich, ihren Mann Jimmy aus dem Bett zu kriegen: Der rollt sich einfach wieder zurück auf die Seite und brummt, es sei viel zu früh. „Wenn ich gewusst hätte, dass es eine historisch so bedeutsame Sache würde, hätte ich ihn unter seiner Decke herausgezogen.“ Sie macht sich allein auf den Weg in die 126. Straße – im knallgelben schulterfreien Sommerkleid.

Keiner weiß so recht, was ihn erwartet. Ein Fototermin – mit wem und wofür? Von den Initiatoren kommen keine Informationen, von den Musikern keine Zusagen. Manche gehen nur hin aus Neugierde darauf, welcher Kollege wohl sonst noch so früh schon das Haus verlässt. „Ich glaubte nicht, dass überhaupt irgendwer kommen würde“, erinnert sich später Gerry Mulligan. Sie sind ja alle Nachtkreaturen: Die meisten spielen bis in den frühen Morgen und stehen erst am Nachmittag auf, wenn der Hunger sie weckt. Viele kennen den hellen Vormittag gar nicht. Mancher hat vergessen, dass es ein 10 Uhr am Morgen überhaupt gibt.

Thelonious Monk informiert man über seine Plattenfirma, Riverside Records. Der Saxofonist Gigi Gryce, ein Vertrauter des Pianisten, erscheint morgens beim Label und fährt mit, um den etwas schwierigen Kollegen abzuholen. 70 Minuten lang wartet man bei laufender Taxiuhr vor Monks Haus auf der Westside. Schließlich erscheint Monk im schicken dunkelgelben Sportjackett, mit Sonnenbrille und grauem Hut. Keine Erklärung, keine Entschuldigung. Auf der Fahrt in die 126. Straße spricht er nur mit Gryce. Der erfährt, dass Monk sich wegen der Wahl der richtigen Garderobe verspätet hat. Monk wollte sichergehen, dass er auch in einer Menschengruppe richtig zur Geltung käme. Er hatte verschiedene Kombinationen ausprobiert und verworfen. Eine Stunde lang.

Nacheinander trudeln die Musiker ein. Zu Fuß, mit der Subway, mit dem Cab. Viele haben sich lange nicht gesehen, andere treffen einander zum ersten Mal, alle haben sich viel zu erzählen. „Hey baby, how ya doin? How ya been? Long time no see.“ Die Musiker tummeln sich auf dem Gehsteig, begrüßen ihre Freunde, Idole und Protegés, sprechen, lachen. Viele kleine Geschichten laufen da ab. Der redselige und witzige Dizzy Gillespie steht lange bei Marian McPartland und Marylou Williams, raucht und plaudert. Dann albert er auf der Treppe von Haus Nr. 19 mit Kindern herum. Milt Hinton, der Bassist, hat seinen Fotoapparat und eine 8-mm-Filmkamera dabei, eilt hierhin und dorthin und drückt sie auch anderen mal in die Hand: „Einfach auf diesen Knopf drücken!“ In der Nachbarschaft ist man angesichts der spontanen Versammlung ratlos und staunt. Neugierig kommen immer mehr Kinder hinzu.

Art Kane, der Fotograf, hat die Situation nie unter Kontrolle. „Sie beschäftigten sich mit allem und jedem, nur nicht mit diesem idiotischen Jüngling auf der anderen Straßenseite“, erinnert er sich. „Ich habe mich nie so allein gefühlt in meinem Leben.“ Vergeblich bemüht er sich, die Musiker auf die Stufen vor Haus Nr. 17 hinaufzudirigieren. Er rollt eine Ausgabe der New York Times zu einer Art Megafon zusammen und ruft immer wieder über die Straße hinüber: „Please!!! Please!!!“ Aussichtslos. „Als würde man ein Baby darum bitten, mit einem zu sprechen.“ Hilfe hat er kaum: Sein Assistent weiß nicht mal, wie man einen Film einlegt.

Eine Zeit lang stehen die Pianisten in einer Gruppe beieinander. Auch die beiden Vokalisten, Maxine Sullivan – im gemusterten Kleid und mit leuchtend roter Handtasche – und Jimmy Rushing, haben sich viel zu sagen. Die Schlagzeuger, oft Einzelgänger in ihren Bands, rotten sich zusammen: Zutty Singleton, Sonny Greer, Jo Jones, Gene Krupa, Osie Johnson, George Wettling. Um Wettling wiederum scharen sich die alten Chicagoer Freunde: Max Kaminsky, Bud Freeman, Pee Wee Russell. Letzterer fachsimpelt gleichzeitig mit dem Klarinetten-Kollegen Buster Bailey. Auch einige Trompeter stehen beieinander: Rex Stewart, Roy Eldridge, Dizzy Gillespie. Stewart hat sogar sein Instrument dabei und verblüfft die Straßenjungs mit seinen Zauberklängen. Einer der Jungen darf es auch mal versuchen und bekommt keinen Ton heraus. Nur zäh und fast widerwillig bewegen sich die Grüppchen Richtung Treppe.

Mancher fühlt sich, überwältigt von der versammelten, geballten Jazz-Autorität, ein wenig als Außenseiter. Der Drummer Eddie Locke zum Beispiel, der bislang noch nie in New York gespielt hat, sieht seinen Job darin, für Jo Jones die Trommeln zu tragen. Ziemlich verloren steht auch Horace Silver da ¬– in einem viel zu großen Sakko und umgeben von seinen Idolen, denen er – wie er findet – alle seine Ideen schuldet. Selbst Sonny Rollins ist ein wenig eingeschüchtert und muss daran denken, wie er als Kind um Coleman Hawkins’ Autogramm bat. Tenorsaxofonist Benny Golson fühlt sich fremd: „Als ich hinkam, fragte ich mich, warum ich dort war. Ich war ein Nobody. Ich glaube, ich kannte da nur vier Leute: Dizzy Gillespie, mit dem ich gerade spielte, Art Farmer, Johnny Griffin und Sonny Rollins.“ Doch spätestens an diesem 12. August lernt er Art Blakey kennen, und vier Monate danach entsteht das Messengers-Album „Moanin’“: Darauf ist Golson der künstlerische Leiter und Hauptkomponist. Johnny Griffin, Golsons Vorgänger bei Blakey, ist zwar gerade in Monks Band im „Five Spot“ engagiert, hält sich aber lieber an den Messengers-Vater. Er kennt Monks „Fassade“ der Unnahbarkeit nur zu gut. Tatsächlich wandert Monk 20 Minuten lang ziellos zwischen den Kollegen umher, ohne etwas zu sagen. Dann stellt er sich zu irgendeiner Gruppe und macht mit drei, vier Worten deren Gespräch zunichte.

Allmählich formiert sich das Bild. Es ist kein Bild, sondern eine Bilderfolge, die da vor Art Kanes Augen abrollt. Denn die Musiker laufen immer noch durcheinander, achten nicht auf den Fotografen, rücken nicht zusammen, alles ist in ständiger Bewegung. Erste Schnappschüsse zeigen später zudem durchfahrende Autos, einmal sogar einen Pferdewagen. Dann, einen unglaublichen Augenblick lang, scheint Kane doch die ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben. Alle 57 Musiker – oder fast alle – blicken in Richtung Kamera. Es ist der Beginn einer großen Fotografen-Karriere.

Nicht zur Kamera hin schauen die beiden Pianistinnen: Das Plaudern über Klavierjazz ist damals schon Marian McPartlands stärkstes Hobby. Roy Eldridge und Dizzy Gillespie sind ebenfalls miteinander beschäftigt. Eldridge kennt das schon: Wann immer ein gemeinsames Foto gemacht wird, stellt sich Dizzy neben ihn. Und jedes Mal lenkt er ihn im entscheidenden Augenblick mit einem Witz ab. Das ist Dizzys Art, seinem Idol seine Liebe zu zeigen. Und einer fehlt plötzlich ganz: Meade „Lux“ Lewis, die Stride-Piano-Legende mit dem steifen Hut. Gerade eben noch stand er bei seinem alten Kumpel Luckey Roberts, hatte dem kaum 1,60 Meter großen und 10 Jahre älteren Roberts fast beschützend die Hand auf die Schulter gelegt. Dann wurde ihm – wie Basie – das Stehen zu viel. Als das Foto geschossen wird, sitzt Lewis bequem abseits – außerhalb des Bildes, auf der nächsten Haustreppe links.

Wo Meade „Lux“ Lewis steckt, ist also geklärt. Und Jimmy McPartland liegt noch im Bett. Aber was ist mit all den anderen, die hier fehlen? Nun, es ist Sommer: Hochsaison der Jazz-Festivals, auch in Europa, und der einwöchigen Club-Engagements. In diesem Sommer entsteht der Newport-Film „Jazz on a Summer’s Day“. Miles Davis zum Beispiel ist am 12. August gerade mit seinem Sextett unterwegs – zwischen Washington und Baltimore. Mit dabei: John Coltrane, Cannonball Adderley, Bill Evans, Paul Chambers, Jimmy Cobb. Wir hätten sie gerne auf dem Bild gesehen.

Das Kraftzentrum des Fotos, vorne Mitte, bilden Coleman Hawkins, der Vater des Jazzsaxofons, und Stuff Smith, der beste schwarze Jazzgeiger – beide in dunklen Anzügen, einmütig und brüderlich lächelnd, beide die brennende Zigarette am hängenden Arm. Zwei, denen keiner mehr was am Zeug flickt. Ihr selbstzufriedener Blick macht klar: Das hier ist ein Familientreffen, hier gelten Tradition und Respekt noch viel. Lester Young mit dem komischen Hut, Hawkins’ stilistischer Gegenspieler, ist dagegen nach rechts abgedrängt, vielleicht den Schutz und die Nähe des sitzenden Basie suchend. Young steht kurz vor seinem 49. Geburtstag; seinen 50. wird er nicht mehr erleben.

Die Modernisten sind beim Familienfoto nur Randfiguren, ungeliebte Neffen: die Blakey-Fraktion ganz oben, Horace Silver schüchtern vor dem linken Kellerfenster. Wie zwei versteckte Leuchttürme ragen die Köpfe von Sonny Rollins (mit Sonnenbrille) und Gerry Mulligan hinter anderen Köpfen auf. Nur Monk, obwohl hünenhaft und unnahbar, hat sich natürlich nach ganz vorne gedrängt. Charles Mingus – sein Durchbruch mit „Ah Um“ steht noch bevor – wirkt nicht sehr glücklich: Mürrisch blickt er zwischen viel traditionelleren Musikern hervor und hat als einziger eine Zigarette im Mund. In diesem Jahr bittet er beim Bellevue Hospital um Aufnahme in die psychiatrische Abteilung. Zum Glück wimmeln sie ihn ab.

© 2006, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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