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Der Aulos („langes Rohr“) war das „Jazz“-Instrument der Antike. Ursprünglich für Trauermelodien gedacht, galt er als die Stimme der Emotion schlechthin: der Melancholie, der Klage und des Schmerzes, aber auch der Begeisterung, des Übermuts und der Ekstase. Bei den Hütern von Sitte und Ordnung stieß die heulende Schalmei allerdings auf Skepsis.

Ekstase mit Bordun
Die Karriere des antiken Aulos
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Der Philosoph Pythagoras empfand den Aulos-Ton als zu ausgelassen, der Staatsmann Alkibiades verbannte sogar vorübergehend das Aulosspiel aus Athen, und auch die Schule des Sokrates hielt die „klagenden“ Tonarten des Aulos für unangebracht. Wenn Platon den idealen Stadtstaat beschreibt, stellt er nur rhetorisch die Frage: „Und nun gar Aulosmacher und Aulosbläser, wirst du sie etwa in der Stadt dulden?“ Natürlich nicht! Auch Platons Schüler Aristoteles vermisst beim Aulos das ethisch-erzieherische Moment, fürchtet vielmehr seine aufreizende und enthemmende Wirkung. Noch die römischen Dichter wie Lukrez, Catull und Horaz beschreiben das Aulosspiel als „bakchisch“ und „voll Raserei“.

Als um 700 v.Chr. in Kleinasien die Kulturen verschmolzen, fand der phrygische Aulos zwar Eingang ins griechische Musikleben, blieb aber mit den östlichen Orgienkulten der Kybele und des Dionysos eng verbunden. Er wurde daher vorzugsweise in phrygischer und lydischer Tonart gespielt, die die Griechen als exotisch und ekstatisch empfanden. Der Aulos gehörte immer dazu, wenn ausgelassen getanzt, gefeiert und getrunken wurde. Er erklang meist zusammen mit der menschlichen Stimme, und bald begleiteten Aulosspieler die unterschiedlichsten „Worksongs“, etwa beim Kochen und Teigkneten, beim Fischfang und Faustkampf und selbst beim Auspeitschen der Sklaven. Diese „Aulodie“ – Gesang mit Aulosbegleitung – war eine Tradition phrygischen Ursprungs und älter als die Kitharodie, der Gesang zur Kithara. Auch das griechische Klagelied, die Elegie, wurde stets vom Aulos begleitet, ebenso natürlich der Dithyrambos, die orgiastische Chorhymne des Dionysoskults. Die schwere und schwer wiegende Entscheidung, wer bei den großen Dionysien die Auloi spielen durfte, überließ man dem Los. Zuweilen waren die Aulosspieler so beliebt, dass sie sogar den Satyrchor übertönen durften. Auch den Paian, den Chor zu Ehren Apollons, begleitete der Aulos, aber als Disziplin bei den Pythischen Spielen in Delphi setzte sich die Aulodie nicht durch. Man hielt ihre Melancholie für zu wenig feierlich für den Apollon-Kult.

Die reine Aulosmusik ohne Stimme, die es auch in Phrygien schon gab, gewann in Griechenland nur langsam an Bedeutung. Erst mit der technischen Verbesserung der Instrumente und mit der wachsenden Differenzierung der Tonarten stieg die instrumentale „Auletik“ zu künstlerischem Rang auf und wurde als eine Art „Jugend-musiziert-Wettbewerb“ in die Pythischen Spiele von Delphi aufgenommen. Beim Aulos-Wettkampf ging es darum, vorgegebene „Nomoi“ – traditionelle Mustermelodien – kunstvoll auszugestalten. Für den Durchbruch der Auletik sorgte Sakadas von Argos, der 586 v.Chr. bei der Pythiade den Nomos Pythikos zum instrumentalen Aulosstück umdeutete: eine Art früher Programm-Musik über Apollons Kampf gegen den Drachen. Sakadas war es auch, der erstmals den Nomos Trimeres in drei Tonarten spielte: jeden Teil in einer anderen. Er gewann in Delphi dreimal hintereinander und arbeitete eng mit einem aulodischen Dichterkreis in Sparta zusammen. Rund 100 Jahre später siegte in Delphi der Aulosspieler Midas aus Agrigent mit einer Version des Nomos Polykephalos: Sein Triumph wurde in der 12. Pythischen Ode von Pindar verewigt.

Die legendären frühesten Aulosspieler waren noch Phryger und halb mythologische Gestalten – etwa Marsyas, der sich mit Apollon musikalisch duelliert haben soll, oder Hyagnis aus Kelainai, der den Aulos angeblich nach Griechenland brachte. Der Phryger Olympos und sein Schüler Krates markieren dann den Übergang vom Mythos in die Geschichte: Sie sollen um 700 v.Chr. die frühe Enharmonik eingeführt haben, die Aulodie und die ersten aulodischen Idealweisen, namentlich den Nomos Polykephalos und den Nomos Harmatios. Die Vorherrschaft der Aulos-Virtuosen aus Böotien beginnt dann mit Klonas aus Theben: Er erfand nach dem Vorbild der Kitharodie genau 7 aulodische Nomoi, darunter den Nomos Trimeres, sowie die Elegien. Zu den namhaften Aulosspielern aus Theben gehörten später Antigeneidas, Skopelinos, Diodoros, der die Seitenklappen zur Erweiterung des Tonumfangs entwickelt haben soll, und Pronomos, der um 400 den chromatischen Aulos einführte. „Bis dahin besaßen die Aulosspieler drei Arten von Auloi“, schreibt Pausanias, nämlich je einen für die phrygische, die lydische und die dorische Tonart. „Pronomos aber war es, der zuerst Auloi erfand, die für jede Musikart geeignet waren, und so als Erster verschiedene Melodien auf demselben Aulos blies. Es heißt auch, dass er durch sein Mienenspiel und die Bewegungen seines ganzen Körpers die Zuschauer außerordentlich ergötzte.“

Eine andere Bezeichnung für den Aulos war Kalamos – ein Name, der sich in „Schalmei“ und „Chalumeau“ erhalten hat und schlicht „Schilfrohr“ bedeutet. Aus einem einzigen Stück Schilfrohr nämlich wurden die frühen 3- bis 4-löchrigen Auloi gefertigt, und für den wichtigsten Teil der Instrumente, das Zungenstück (Glottis) – Mundstück mit Rohrblatt –, blieb das Schilfrohr auch später unersetzlich. Der Aulos wurde mit doppeltem Rohrblatt gespielt wie die Oboe, aber auch mit einfachem wie die Klarinette. Dabei blies der Aulosspieler fast immer zwei Instrumente gleichzeitig, die er in einem V-Winkel hielt oder – bei späteren, größeren Instrumenten – fest miteinander verband. Der linke Aulos lieferte gewöhnlich einen Orgelpunkt oder Bordun und war zuweilen länger (tiefer gestimmt) als der rechte. Der Bordun konnte anders gestimmt werden, indem man die Grifflöcher mit Bienenwachs verstopfte. Für Hochzeiten wählte man einen tieferen Bordun als bei Trinkgelagen.

Für die eigentliche, leicht konische Röhre (Bombyx) mit den Grifflöchern setzten sich im Lauf der Zeit andere Materialien durch: Holz von Buchsbaum, Lorbeer oder Lotosbaum, Knochen vom Hirsch, Adler, Esel und Geier, sogar Elfenbein, Kupfer und Bronze. Überhaupt entstand rund um den Aulos eine rege Handwerkskultur, die ständig technische und ästhetische Neuerungen hervorbrachte – ganz ähnlich wie heutige Instrumenten-Hersteller auch. So wurde aus dem primitiven Barbaren-Import aus Phrygien bald ein griechisches Qualitätsprodukt. Böotien, wo der heute trocken gelegte Kopaissee das größte Schilfreservoir bot, war stolz auf seine Aulosspieler-Tradition. Auch die Argolis sah sich als Heimat des Aulos und schrieb seine Erfindung dem Ardalos zu, einem sagenhaften König der Stadt Troizen. Durch seine technische Überlegenheit verdrängte der griechische Aulos bald die Rohrblatt-Instrumente der Römer und Ägypter.

Auloi gab es nicht nur in den Hauptstimmlagen, die etwa Sopran, Alt, Tenor und Bariton entsprachen, sondern in einer unüberschaubaren Breite von Bauarten. Die alten Griechen kannten den Diopos, den zweilöchrigen Aulos, ebenso wie den Polytretos, den viellöchrigen (mit bis zu 16 Grifflöchern). Man unterschied außerdem den Polykampes (vielfach gewunden), Polymekes (sehr lang), Embaterios (für Kriegsmusik), Skytalion (winzig), Bombyx (tief gestimmt), Tityros (Hirtenaulos aus Schilf oder Bambus), Pyknoi (chromatisch) oder Parthenios (höchste Stimme). Der Elymos galt als phrygisch und besaß ein längeres linkes Rohr mit einer Krümmung, auf die man einen Schallbecher aus Horn aufsetzen konnte. Der Gingras und Niglaros, phönizischen bzw. ägyptischen Ursprungs, waren kleine Auloi mit hohem Klageton. Der einzeln gespielte Aulos war eine Ausnahme und wurde daher explizit Monaulos genannt. Plagiaulos dagegen hieß eine Querflöte, die mit einer Membran (ähnlich dem Kazoo) den Aulosklang nur nachahmte. Der nachchristliche Hydraulos schließlich war eine zu groß geratene Panflöte, in der der Leitungsdruck von Wasser als Blasebalg diente: die erste Pfeifenorgel also.

Die wichtigsten Neuerungen der Aulosmacher betrafen die Zahl der Grifflöcher, die zunächst durch ein Daumenloch auf fünf erhöht wurde. Im 5. Jahrhundert v.Chr. besaßen Holzauloi bereits sechs Löcher. Ihre Anordnung variierte immer mehr und die mechanischen Tricks wurden immer raffinierter. Ein Mittelstück (Holmos) zwischen Zunge und Rohr, ein Überblasloch (Syrinx), drehbare Umstimmvorrichtungen sowie Grifflochkapseln und metallene Seitenklappen machten den Aulos schon um 400 v.Chr. zu einem komplexen chromatischen Instrument mit zweieinhalb Oktaven Tonumfang. Kein Geringerer als Platon wetterte gegen das „Alltonarten-Instrument“ und seine häufigen Harmoniewechsel – wohl vergebens. Es ist berichtet, dass der Aulosspieler Ismenias für ein neues Instrument volle sieben Talente bezahlte, eine königliche Summe.

Auch die Zubehör-Industrie schlief nicht. Die so genannte Phorbeia, eine Mundbinde, wurde eigens erfunden, um beim Aulosspielen die Lippen- und Wangenmuskeln zu entlasten. Sie hatte einen Mundschlitz und wurde mit Lederbändern über die Wangen um den Hinterkopf herum befestigt. Für die dünn geschabten Schilf-Rohrblätter hat man Windkapseln entwickelt und kleine Aufbewahrungs-Futterale. Auch für die Instrumente selbst gab es spezielle Behälter und Felltaschen. Sie waren besonders zu jener Zeit praktisch, als die Aulosspieler noch für jede Tonart ein anderes Instrument brauchten und mit einem ganzen Sortiment von Auloi unterwegs waren.

Die Anstrengungen der Instrumente-Hersteller korrespondierten mit dem glanzvollen Aufstieg echter Aulos-Virtuosen. Zu großen Festlichkeiten mussten die Veranstalter namhafte Auloskünstler verpflichten, um das Publikum anzulocken. Die Aulosspieler wurden dann nicht mehr von den Dichtern bezahlt, in deren Aufführungen sie auftraten, sondern direkt von den Städten und Gemeinden. Mit der wachsenden Bedeutung der Instrumentalmusik entstand geradezu ein Starkult um die reisenden Aulos-Virtuosen, ihre musikalischen Trends, ihren Lebensstil, ihre Bühnenshow, ihre Tanzschritte und ihre Kleidermode. Der Aulet Batalos wurde im 4. Jahrhundert v.Chr. von den Literaten wegen seiner Weichlichkeit und Lasterhaftigkeit verspottet. Sein Kollege Antigeneidas aus Theben soll als Erster in Prachtkleidung und mit milesischen Schnürschuhen aufgetreten sein. Musikalisch wurde er bekannt, weil er weichere, freier schwingende Blätter verwendete und eine tiefere Tonlage bevorzugte. Zu einer anderen Zeit wurde dagegen der schrille, hohe Ton des kleinen Niglaros-Aulos zur Mode. Daher meinte der Komiker Anaxilas, die Musikszene erzeuge alljährlich ein neues Ungeheuer. Das klingt doch irgendwie vertraut, oder?

© 2005, 2008 Hans-Jürgen Schaal


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