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Er begann als Swing-Drummer, begleitete dann die Pioniere des modernen Jazz und verwandelte sich schließlich in einen Free-Jazz-Saxophonisten. Der Musik-Cocktail, den Hal Russell aus seinem Jazzer-Leben mischte, wurde zum Energie-Drink für die Chicago-Szene von heute.

Ein Cocktail aus purer Energie
Die unwahrscheinlichen Mixturen des Hal Russell
(2002)

Von Hans-Jürgen Schaal

Seine Band nannte er das NRG Ensemble. NRG, das heißt einfach: EN-ER-GY. Denn darum geht es in Hal Russells Musik, um jene spirituelle, unverfälschte Heftigkeit, die der Free Jazz der sechziger Jahre für die Musik entdeckt hatte. Russell und seine Mitstreiter, allesamt innovative Klangdenker und abenteuerlustige Improvisatoren, haben diesen freien Impuls zu lenken gewusst. Sie liebten den Ausbruch des Ungebändigten, aber sie wiesen ihm stets Ort und Funktion zu – zwischen Strukturen und Melodien von verblüffender Originalität. Hal Russells NRG Ensemble begründete eine eigene Ästhetik des Jazz, eine der Freiheit und der Ordnung, der Farben und Melodien, der Überraschungen und des skurrilen Humors. Eben: Energie-Musik.

Es war etwa 1977, als Russell in Chicago das NRG Ensemble gründete, doch bis zur ersten Platte (1981) gab es unzählige Besetzungswechsel. Als sich einer der frühen Saxophonisten wieder etwas ungeschickt anstellte, besorgte sich Russell eines Tages ein billiges C-Melody-Sax, um ihm seine Ideen zu demonstrieren, und entdeckte dabei rein zufällig – mit über 50 Jahren –, dass er zum Saxophonisten geboren war! "Mein Gott, was für ein Narr bin ich", schalt er sich damals. "Ich hätte immer schon Saxophon spielen sollen! Ich hätte überhaupt nie Schlagzeug spielen sollen! Aber jetzt ist es zu spät!" Zu spät wofür? Innerhalb kürzester Zeit entwickelte Russell einen ganz persönlichen Stil auf dem Tenorsaxophon. Dann erinnerte er sich, dass er mal einen Uni-Abschluss als Trompeter gemacht hatte, und grub sein Kornett wieder aus. Etwa um 1983 kam das Sopransax dazu. Er begann jedes Instrument auszuprobieren, das ihm in die Finger fiel, und stellte fest, dass sie alle ihm neue Perspektiven auf die Musik eröffneten. Und was er selbst konnte, verlangte er auch von seinen Mitspielern: Der eine Bassist (Brian Sandstrom) musste E-Gitarre und Trompete bereit halten, der andere (Kent Kessler) Posaune und Didgeridoo. Das NRG Ensemble wurde zu einer Versammlung von Multi-Instrumentalisten. Hundert Bands in einer. Und weil Russell allein schon eine Art One-Man-Band war, schlug man ihm eines Tages (in seinem letzten Lebensjahr) vor, doch ein Multitrack-Album nur mit sich selbst aufzunehmen. Natürlich klang das Ergebnis ganz anders, als irgendwer es erwartet hatte. "Hal’s Bells" beginnt mit einem östlich inspirierten Soundbild, für das Russell Marimba, Vibraphon, Glocken und Gongs übereinander gelegt hat, die Spuren frei wogen lässt und noch eine Einlage als Musette-Bläser gibt. Mitten drin auf der CD hören wir sogar einen Standard der US-Seele, "Carolina Moon", gespielt als Avantgarde-Hymne à la Albert Ayler mit zwei Tenorsaxophonen und freien Drums. Als hätte Russell da noch irgendwem beweisen müssen, was für ein bizarres Unikum er war.

Harold Russell Luttenbacher, Jahrgang 1926, begann eigentlich als Swing- und Bebop-Schlagzeuger. Schon mit vier Jahren fing er mit dem Trommeln an, als Teenager spielte er Tanzmucken, später kam das Vibraphon hinzu, das er mit skurriler Virtuosität meisterte. Hal Russell trommelte für die ganz Großen: 1950 gehörte er zur Band von Miles Davis, 1954 trat er mit John Coltrane auf. Er spielte mit Stan Getz, Duke Ellington, Sonny Rollins, Billie Holiday, Benny Goodman. Irgendwann holte ihn die Bopper-Droge ein, das Heroin, und als er sich davon befreit hatte, orientierte er sich auch musikalisch neu: Inzwischen war der Free Jazz in der Welt. Dem experimentellen Joe Daley Trio, der ersten Free-Formation Chicagos, gehörte Russell fast ein Jahrzehnt lang an. 1969 gründete er dann seine erste eigene Band, doch das Jazzspielen war fast nur noch ein Hobby für ihn. Sein Geld verdiente Hal Russell vor allem durchs Unterrichten.

Von diesem musikalischen Werdegang erzählt auf ganz eigene Weise Russells letzte CD, aufgenommen im Sommer 1992 in Winterthur, keine zwei Monate vor seinem Tod. Ursprünglich wollte Russell auf dieser Produktion – seiner dritten bei ECM – zwei Suiten einspielen, die er den Swing-Stars Artie Shaw bzw. Fred Astaire gewidmet hatte: zwei von rund 400 weitgehend undokumentierten Werken des NRG Ensembles. Doch dann hieß es: Warum machen wir nicht eine Suite über Hal Russell selbst, diesen ungewöhnlichen Menschen, dessen künstlerisches Leben ein halbes Jahrhundert Jazzgeschichte reflektiert? So entstand "The Hal Russell Story", 21 Stücke in sechs Abschnitten, die von der Kindheit ("Family Jam") bis hin zum späten Triumph reichen ("NRG Rising"). Die Spielauffassung des NRG Ensembles in Verbindung mit Russells raffinierten Retrospektiven auf Swing und Bop ergibt hier eine höchst faszinierende, unwiederholbare Mischung: Jazz-Geschichte im Kaleidoskop, bunt verwirbelt und durch den Time Tunnel gejagt. Ständige Instrumentenwechsel mit zwei, drei oder vier Bläsern, komplexe Vibraphon- und Xylophon-Themen, eine grungige E-Gitarre, dissonant-schrille Fanfaren, kontrapunktische Riffs, freie Ausbrüche und stürmische Rhythmen bestimmen das stilistische Wechselbad. Darin eingebettet: Anklänge an die Musik von Russells wechselnden Heroen (Gene Krupa, Count Basie, Charlie Parker, Miles Davis, Ornette Coleman, Albert Ayler usw.), Umdeutungen von Standards wie "Air Mail Special" und "You’re Blasé". Der Kuriositäten nicht genug: Als Epilog zu seiner persönlichen Lebensgeschichte wählte Hal Russell einen Hit der englischen Blues-Rock-Band Fleetwood Mac, "Oh Well". Er hatte nie von dieser Band gehört, bevor ihm sein Bassist Sandstrom das Arrangement präsentierte. Aber die bescheidenen Zeilen "Can’t sing, ain’t pretty and my legs are thin" schienen ihm wohl passend als Schlusswort seiner musikalischen Autobiographie.

Der Weg zum Erfolg war lang. Über viele Jahre blieb das NRG Ensemble ein Geheimtipp, spielte in obskuren Studios und Plattenläden und drang kaum über die experimentelle Szene Chicagos hinaus. Was dem Rest der Welt da entging, verraten die frühen Aufnahmen, die auf Kleinstlabels erschienen und heute rare Sammlerstücke sind. Das Album "Generation" von 1982 bietet bereits das ganze Ausdrucksspektrum dieser ungewöhnlichen Band: kurzweilige Miniatur-Suiten, repetitive Strukturen, abgefahrene Klangbilder, großräumige, von Themen und Rhythmuswechseln gegliederte Free-Jazz-Exkursionen, gackernde Saxophonduette, rockende Grooves. Damals schon spielte Russell hauptsächlich Saxophon, aber auch Kornett, Vibraphon und Schlagzeug. Damals schon hatte er zwei Bassisten in der Band – "für den Fall, dass einer ausfällt". Auch wenn Russell das Konzept bestimmte und 80 % des Repertoires schrieb, so komponierten doch alle Bandmitglieder fröhlich mit. Brian Sandstroms "Sinus Up" ist ein Stück Minimal Music plus Soli, Steve Hunts "Poodle Cut" führt durch allerlei Themen und Instrumental-Kombinationen, Mars Williams’ "Sponge" springt zwischen verzwickt gesetzten rhythmischen Passagen und wilden Soli hin und her. Die zeitliche Nähe zu den freien Sound-Kaskaden der sechziger und siebziger Jahre ist spürbar: Dafür sorgt schon der Gastbläser Charles Tyler, die New Yorker Loft-Jazz-Legende am Baritonsax. Dem Free Jazz herkömmlicher Prägung hatte das NRG Ensemble jedoch damals schon eines voraus: seinen Humor. Im Titelstück präsentiert sich Russell sogar als kauziger Song-Interpret.

1988 kehrte der Saxophonist Mars Williams zur Band zurück: Er hatte in der NRG-Frühzeit dem Ensemble angehört und sich danach bei Anthony Braxton, John Zorn, Massacre und den Psychedelic Furs einen Namen gemacht. Vielleicht deshalb wurde man nun im Ausland hellhörig: 1990 wurde Hal Russells NRG Ensemble zum Pfingstfestival nach Moers eingeladen. Die Geschichte vom Durchbruch beim ersten internationalen Auftritt klingt noch immer wie ein Märchen. Eine Hand voll unbekannter Musiker der Midwest-Szene wirbelte da über die niederrheinische Zeltbühne, sprang von Instrument zu Instrument wie ein weißes Art Ensemble of Chicago, zauberte ein ungebärdiges Gemisch aus humoriger Anarchie und strenger Textur und stahl den Stars des Abends (Einstürzende Neubauten) die Show vor 5.000 Leuten. Und im Mittelpunkt dieser Newcomer-Band (die damals schon fast 15 Jahre auf dem Buckel hatte) stand ein 63-jähriger ehemaliger Swing-Drummer, der zuweilen durch ein Megaphon sang und aussah wie ein Mathematik-Professor: Anzug und Krawatte, weißer Bart, schwarze Brille.

Gibt es Happy Ends nur in Hollywood? Nein! Nach dem Pfingstwunder von Moers wurde Hal Russells Chicagoer Geheimtruppe schon im Herbst wieder auf europäische Festivals eingeladen. Bei Auftritten in Tampere und Zürich entstand 1990 die erste internationale CD-Produktion des Ensembles: "The Finnish/Swiss Tour". Und nun staunte die ganze Jazzwelt über diesen Hal Russell, der als Drummer gleichermaßen an Gene Krupa wie Sunny Murray erinnerte, als Saxophonist an Albert Ayler, als Trompeter an eine Mischung aus Don Cherry und Miles Davis und als Vibraphonist – an gar niemanden. Was Russell und Steve Hunt gemeinsam an einem Vibraphon anstellen, gehört zu den großen, unvergesslichen Momenten im Leben eines CD-Hörers. Die Mixtur dieser Live-Auftritte reichte vom Didgeridoo-Trio mit Trompeten-Solo bis zum kombinierten Albert-Ayler-und-Count-Basie-Tribute. Die Tenorsaxophone von Hal Russell und Mars Williams duettieren freie Balladen, blasen Rock-Riffs und zetern wie eine Kreuzung aus "Yakety Sax" und "Säbeltanz". Dank Jan Erik Kongshaugs fjordklarem Oslo-Mix ist da nicht nur die Energie zu spüren, sondern auch die exakte, lockere Disziplin immer präsent.

Nach dem Happy End wurde rasch ausgeblendet – wie im Hollywood-Film üblich. Nur zwei Jahre später lebte Hal Russell nicht mehr. Doch die Impulse, die er gab, sind bis heute wirksam: Seit Russell gilt die experimentelle Chicago-Szene wieder was im zeitgenössischen Jazz. Von Russells Vision getragen, lebte auch seine Band weiter. Im November 1993 entstand die erste CD seines Ensembles ohne ihn. Das NRG Ensemble post Russell klingt härter, jünger, weniger poetisch und weniger verspielt. In den meisten Stücken auf "Calling All Mothers" geben zwei metalltrockene Tenorsaxophone den Ton an, unterlegt von einer Trash-Gitarre und einem Hardcore-Rhythmus. Motto: Jazz goes Speed Metal. Hektische Staccato-Kürzel bilden atemlose, schmucklose Rasant-Themen, und die münden in Improvisationen, aus denen schiere Todesangst zu schreien scheint. Einen hübschen Gegenakzent dazu setzt "You’re My Dream", eine Midtempo-Nummer des verewigten Bandgründers, mit der seine musikalischen Erben noch einmal seine seltsame Jazz-Laufbahn Revue passieren lassen: Swing und Cool Jazz im vibrierenden Rückspiegel. Russells wichtigste Lektion ist in dieser Musik noch immer lebendig: Die Stücke sind nur ein Sprungbrett ins Freie. Wichtig ist, was du daraus machst.

Hunderte von Live-Mitschnitten von Proben und Konzerten aus 15 Jahren NRG-Geschichte warten auf ihre Entdeckung und Auswertung. Hal Russell ist nicht vergessen. Sein langjähriger Mitstreiter Mars Williams und Chicagos Chef-Kritiker John Corbett begannen im letzten Jahr, ausgewählte Aufnahmen herauszugeben. Volume One des Hal Russell Archive ist ein Konzertmitschnitt aus dem Jahr 1979, als das NRG Ensemble vorübergehend den Namen Chemical Feast trug und noch ganz dem expressiven Aufruhr des Free Jazz verbunden war. Auch das Chicago-Label Southport kümmert sich um Hal Russells Erbschaft und veröffentlichte Trio-Sessions aus dem Jahr 1991 unter dem Titel "Albert’s Lullaby". Russells Nachfolger im NRG Ensemble wurde 1993 der Saxophonist und Klarinettist Ken Vandermark, dem Russell einst seinen ersten Gig in Chicago verschafft hatte. Und ausgerechnet dieser wilde Mister Vandermark stieg in den neunziger Jahren zum Jazz-Star auf – eine unwahrscheinliche Karriere, die symptomatisch ist für das Prestige, das die Chicago-Szene seit Hal Russells Wirken gewonnen hat. Im letzten Jahr erhielt Vandermark sogar den MacArthur Award, den mit 265.500 US-Dollar höchstdotierten Jazz-Preis der Welt, der vor ihm allenfalls Innovatoren wie Max Roach und Ornette Coleman für ihr Lebenswerk zugesprochen wurde. Und falls Sie’s noch nicht wissen: Das Schwerpunkt-Thema beim JazzFest Berlin 2002 heißt natürlich Chicago. Thanks to Hal.

© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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