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Cipher Syntax, The X Format, Circle C, Metrics, Alt-Shift-Return: Aus solchen Namen grinst die Sprache der Computer. Kreatur und Elektronik trafen in der M-Base aufeinander - der zehrende Saxophonton des Jazz und der seelenlose Takt der Drum Machine.

Der Sound aus Brooklyn
Die M-Base schrieb ein Stück Jazzgeschichte
(1994)

Von Hans-Jürgen Schaal

Auf der Suche nach den Wurzeln stoße ich auf Doug Hammond, einen Schlagzeuger, der mit James Blood Ulmer und Charles Mingus spielte und seit vielen Jahren in Linz in Österreich lebt. Hammonds Quartettplatte "Spaces" von 1982 wurde von Steve Coleman vor zwei Jahren wiederaufgelegt - als Tribut an seinen Lehrmeister. Coleman verrät nicht, wieviel er ihm verdankt, aber wir hören es: Mit Doug Hammond begann die M-Base.

Sie begann ohne all das, was ihr später die Schlagzeilen einbrachte: elektrischer Funk, HipHop, Synthesizer-Pop. Sie begann vielmehr mit verhexten Themen, schwierigen Metren, einer hirnlastigen Relaxtheit. Coleman brachte Hammonds Stücke wie "Perspicuity" und "Brother Ty" in die Band von Dave Holland mit und ging daran, Ähnliches zu komponieren: herausfordernde Saxophonlinien über eigenwilligen Rhythmen. "Cüd Ba-Rith", das er schon mit Hammond spielte, kehrt auf seiner Debütplatte "Motherland Pulse" wieder - provokant wie einst der Bebop.

Auf dieser Platte hörte ich zum erstenmal Cassandra Wilson - eine Stimme, die sich durchs Ohr ins Rückenmark bohrt. Hätte sie - und nicht Özay - seine Songs aufgenommen, wäre Doug Hammond der Guru von Brooklyn geworden. Cassandra war eine Jazz-Sängerin, wie es sie vorher nicht gab: Sie sang Jazz ohne alle Nostalgie. In ihrer Stimme vibrierte das Jetzt. Als ich ihren Erstling im Laden sah - "Point of View" -, konnte es mir nicht schnell genug gehen. Ich rannte mit der Platte unterm Arm nach Hause.

Die Elektrifizierung war der zweite Schritt: eine spielerische Fühlungnahme zum schwarzen Urban Funk. "HipHop ist Jazz", behauptete Cassandra damals, und: "Die wirklich guten Rapper swingen". Riffs vom Synthesizer, knallende Funk-Bässe, der Drum-Computer und rockige E-Gitarren gaben der Musik plötzlich ein aggressiv-poppiges Outfit, das den Gesamteindruck radikal veränderte. Die metrischen Spannungen und das melodische Feeling indes blieben dieselben.

Freilich: Die Jazz-Hipsters fingen mit der Ästhetik des Rap in der Regel wenig an. Den HipHop-Fans wiederum war das jazzige Brimborium viel zu abstrakt, der Tanzbeat nicht straight genug. Und die an schwarzen Nationalismus grenzende Selbstdarstellung der M-Base machte es auch den Medien nicht leicht. Nur ein unbedingter Steve-Coleman-Jünger konnte 1989 noch jubeln: "Was da in ungeraden Metren oder Timelines komponiert ist, in Fünf-, Sieben-, Zehn- oder Fünfzehnvierteltakten, was da an Ostinati, Melodien, Soli und Mehrfach-Trackings miteinander kombiniert wurde, übersteigt beim ersten und auch noch beim fünften Hören jede Auffassungsgabe".

Steve Coleman und Cassandra Wilson stellten sich als die Pioniere der Bewegung dar und waren es wohl auch. Greg Osby, der auf seiner ersten Platte "Sound Theatre" noch durch Koto-Klänge überraschte, folgte bald Colemans Pfad durch den Electronic-Sax-Funk-Dschungel. Doch die Dichte und Virtuosität der "Five Elements" erreichte bis heute keiner.

Trotz gemeinsamer Trends war die M-Base eher eine Gruppe von Musikern als ein einheitliches Konzept. Gern übersehen werden die Nebendarsteller auf der Szene - Leute wie Gitarrist David Gilmore, Sängerin D.K.Dyson, die Keyboarder James Weidman und Rod Williams, die großartige Geri Allen. Noch heute spielt Kevin Bruce Harris den sattesten Funk-Baß zwischen Brooklyn und Philadelphia - mit einem sicheren Gespür für poppige Melodien. Ebenfalls zu den Pionieren gehörte der heute ausgebuchte Marvin "Smitty" Smith, in dessen undogmatischem Schlagzeugspiel Doug Hammonds Impuls noch immer weiterwirkt.

Die M-Base war ein Sprungbrett für Karrieren und Trends, die heute gar nicht mehr so interessant sind. Immerhin: Das vielberufene "HipHop meets Bebop" wäre ohne die Szene von damals nicht denkbar. Für mich war die M-Base ein halbes Jahrzehnt Spannung im Jazz. Daß da manches Versprechen nicht eingelöst wurde, gehört zur Mythenbildung dazu. Auch im Bebop, auch im Free Jazz lag mehr und anderes in der Luft, das irgendwann aber doch in einem unvermutet neuen Sinn Wirklichkeit wurde - nicht zuletzt im Sound aus Brooklyn.

© 1994, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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