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Warne Marsh und das Jazz-Publikum haben es einander nie leicht gemacht. Denn der Saxophonist trug sein Herz nicht auf der Zunge - oder, um im Bild zu bleiben, im Mundstück. Die Vorstellung, von seinen Zuhörern zu ekstatischen Momenten der Selbstentäußerung angestachelt zu werden, war ihm im Wesen fremd. Emotionen hatten in seinem Spiel ihren Platz an der Basis, während das Publikum sie oft genug an der Oberfläche suchte und nicht fand.

Das Jazz-Portrait
Warne Marsh
(1992)

Von Hans-Jürgen Schaal

Warne Marsh wollte, daß sein Spiel reife Kunst sei und nicht spontane Großsprecherei. Daran erinnert auf ironische Weise der Titel seiner bekanntesten Komposition, "Background Music". Denn sein Improvisieren war alles andere als eine Hintergrund-Untermalung, aber es zwang auch niemanden durch Exhibitionismus zur Aufmerksamkeit. Vielen galt es daher als Gehirnkunst und schwer verständlich. Die unmittelbar mitreißenden licks, die fehlten einfach.

Das ließ das Publikum Warne Marsh zeitlebens durch fehlende Begeisterung spüren. Selten verfügte er über die finanzielle Sicherheit, um sich ganz seiner Musik widmen zu können. Obwohl viele Saxophonisten - und nicht nur die ganz kühlen unter ihnen - ihren Helden in ihm sahen, war Warne Marsh viele Jahre lang auf bürgerliche Brotberufe angewiesen, um über die Runden zu kommen. Für einen ihrer technisch versiertesten Musiker schien es auf der Jazz-Szene keinen Platz zu geben.

"Verglichen mit ihm", soll Intimus Lee Konitz einmal gesagt haben, "ist Stan Getz nur ein Handwerker". Das war zwar bewußt übertrieben, zumal technische Kriterien allein weder Getz noch Marsh auch nur annähernd gerecht werden. Doch was übers Technische hinausging, blieb dem Publikum an Warne Marsh eben meist rätselhaft. Daß dieser Saxophonist sehr viele Noten machte, das merkte jeder. Daß die Themen und changes der vertrauten Standards kaum mehr zu erkennen waren, wenn Marsh sie spielte, das stand auch fest. Davon war man dann entweder fasziniert oder man schüttelte den Kopf. Vergeblich bemühten sich Kritiker um positive Formulierungen wie: "Stellen Sie sich vor, Lester Young würde Bach spielen". Warne Marsh blieb unverstanden.

Warum auch mußte er als 19jähriger ausgerechnet an Lennie Tristano geraten, den legendären Begründer einer seitdem oft zitierten, aber eigentlich gründlich vergessenen kühlen Schule! Ihn hörte Warne Marsh 1946 in New York und war sofort gefangen. Nach einem kurzen Gastspiel bei Buddy Rich verließ er im Oktober 1948 seine Heimatstadt L.A., um bei Tristano zu studieren. Rasch wurde er einer der Meisterschüler - neben Lee Konitz, Billy Bauer, Sal Mosca, Arnold Fishkin, Ted Brown, Ronnie Ball und ganz wenigen anderen.

Die Tristano-Eleven waren radikal in ihrer Exklusivität wie eine Sekte, die sich im alleinigen Besitz der Wahrheit glaubt. Sie blieben unter sich und wollten nichts anderes kennen. Ein Jahr vor seinem Tod sagte Warne Marsh: "Seit 1950 ist nichts passiert, was mein Musikverständnis verbessert oder meine Anforderungen an mich selbst erhöht hätte."

Die klassischen Pioniertaten der Tristano-Schule fallen in der Tat noch in das Jahr 1949. Im März und Mai machte der seit seinem 11.Lebensjahr blinde Tristano seine legendären Aufnahmen für Capitol: sieben Stücke, wovon sechs damals auf drei Schellacks veröffentlicht wurden. Nur die Ergebensten der Ergebenen waren dabei, an vorderster Stelle Konitz und Marsh. Mit einer Leichtigkeit wie von einem anderen Planeten flattern die beiden Saxophonisten durch Tristanos rasende Tempi und lassen seine asymmetrisch gebauten Melodien wie "Wow" und "Crosscurrent" vorbeihuschen, ohne daß man sie begreift.

Das war Bebop, aber seltsam zurückgenommen; keine kräftigen Töne oder einprägsamen Phrasen, kein spontaner Ausdruck oder federnder swing, dafür Kontrapunktik, harmonische Lizenzen und technische Purzelbäume. Als Tristano seine Musterknaben gar ihrer Intuition überließ - "Intuition" gilt als das erste freie Stück der Jazz-Geschichte -, war das ganze Plattendebüt gefährdet. Erst einige einflußreiche Tristano-Verehrer konnten Capitol vom Wert dieser Aufnahmen überzeugen.

Ebenfalls noch im Jahr 1949 debütierte Lee Konitz als Bandleader mit demselben Musikerkreis. Vier Aufnahmen im Juni und September bestätigten die musikalische Bruderschaft zwischen ihm und Warne Marsh, aus der noch jahrzehntelang beispielhafte Saxophonduette hervorgehen sollten. Warne Marsh galt als der Konitz des Tenorsaxophons, aber er kopierte Konitz nie. Ihre gemeinsame Sprache hatten sie gemeinsam entwickelt, und das machte sie einander ähnlicher als irgendeinem anderen Solisten.

Eine ihrer Platten, die 1959 unter Warne Marshs Namen erschien, hieß "The Art Of Improvising". Was die beiden da exerzierten, war wahrlich eine eigene Kunst: homogen und polyphon, dicht und abstrakt zugleich. In ihren Duetten scheinen die Themen vergessen zu sein, die Chorusse verflüssigen sich. Wenn sie ohne Begleitung spielten, lösten sie sich in einem schwerelosen Geflecht von den natürlichen Akzenten auf Beat und Takt, doch ihr unhörbares Timing blieb unerschütterlich. Es war die sanfteste Revolution aller Zeiten.

Al Cohn und Zoot Sims ließen sich davon anregen, ebenso Art Pepper und Jack Montrose. Während sich Lee Konitz auf Duette mit andersgearteten Instrumenten konzentrierte, verfolgte Warne Marsh die Idee der konzertierenden Saxophone bis zuletzt. Er machte Aufnahmen mit den Saxophonisten Ted Brown und Art Pepper (beide 1956), Gary Foster (1969) oder Jimmy Halperin (1986). In den siebziger Jahren arrangierte er als Mitglied von "Supersax" Charlie-Parker-Soli für den fünfstimmigen Saxophonsatz.

Wie für die meisten Cool-Jazz-Saxophonisten war auch für Warne Marsh der späte Lester Young das klangliche Vorbild: hauchzart bis zum Flüstern. In der Phrasierung jedoch war Marsh gewiß nicht sein Nachahmer. "Lester verschwendet keine Phrase", sagte er einmal, "er ist der ökonomischste Spieler, den ich kenne, und das ist Kunst". Hier folgte Marsh eher seinem Lehrmeister Tristano, dessen Stücken er bis zuletzt die Treue hielt, darunter so unbekannten Titeln wie "Leave Me" und "Back Home".

Tristanos Kompositionsweise - und Marshs eigene - war es, über die Harmonien von Standards völlig neuartige Variationen zu schreiben. Das schien auch das Ideal ihres Improvisierens: die nie gehörte, endlose Melodie, eine alles überwuchernde lineare Erfindungskraft. Der kurze Gedanke jedoch, das Atemholen, die Erinnerung ans Thema, das Absetzen des Instruments: all dies, was doch immerhin zum regulären Inventar des Musikers gehört, schien ihnen verpönt. Improvisation tritt hier in einen neuen Aggregatzustand.

Der Balladenstil Lester Youngs - frei in der Melodie und von sachlicher Trauer - verdichtete sich bei Warne Marsh zum stilisierten Lebensgefühl. Der Kalifornier besaß nie den melodischen Glanz eines Stan Getz noch die einfache Natürlichkeit eines Zoot Sims. Marshs Coolness war vielmehr ein Kunstprodukt, das aus unbekannter Fremde in die Jazz-Welt der verräucherten Klubs und verschwitzten Musikanten gestürzt schien. Der Philosoph der langsamen Ballade und des spontanen Kontrapunkts zelebrierte in gleichmütiger Dynamik und unbestimmbarer Melancholie seine nicht enden wollenden Saxophongesänge, die das Publikum verschmähte. Unermüdlich blies er vier Jahrzehnte lang Tristanos Botschaft - und blies sie auch in seinem letzten Augenblick im Dezember 1987. Warne Marsh hatte etwas von einem Märtyrer.

© 1992, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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