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Kronos ist überall
Ein Streichquartett im globalen Trend
(1999)

Von Hans-Jürgen Schaal

Homogener Klang, durchbrochener Satz, reine Vierstimmigkeit: Die Gattung Streichquartett galt lange Zeit als die Krönung aller Kammermusik, aber auch als ziemlich freudlose und staubtrockene Veranstaltung. Allein schon dieses Wort: Kammermusik! Das hieß doch: Hier sind die Kenner und Musikliebhaber unter sich, hier hat das ordinäre Publikum nichts zu suchen, vergnügen können Sie sich gefälligst anderswo. Streichquartette hatten anstrengend zu sein, steif, spröde und feierlich. Man erwartete von ihnen Klang gewordene Philosophien, die Geheimsprache von Eingeweihten, aber todsicher null Spaß. Sogar die Komponisten glaubten es am Ende und reservierten dem vierstimmigen Geigenspiel alles Schwierige und Verrätselte. Wenn vier ältere Herren mit Geige, schütterem Haar, schwarzer Fliege und schwarzem Frack auf ihre Stühle niedersanken, dann war die Luft allemal schwanger von den tiefsten Geheimnissen der Musik-Alchemie.

Daß dieses Bild korrigiert wurde, verdanken wir dem Kronos Quartet. Die vier Streicher aus Kalifornien tauchten ihren Geigenklang ins Wechselbad zeitgenössischer Abenteuer - und wurden berühmt damit. Wer hätte sich das vor 20 Jahren vorstellen können: ein Streichquartett als internationaler Top-Act, grenzüberschreitend zwischen Klassik-Betrieb, experimenteller Avantgarde und Popstar-Kult! Natürlich, so sagen ihre Kritiker, haben die vier des Guten zuviel getan: Ein Streichquartett ist schließlich keine Rockband, und Klang-Design ersetzt nicht Werktreue. Doch der Einwand ist kleinlich: Die Lunte, die das Kronos Quartet legte, ist längst zum Flächenbrand geworden, dem weit mehr zum Opfer fiel als nur die spröde Fassade der Streichquartett-Tradition. Das Kronos Quartet ist Symptom für ein neues Denken, Empfinden, Erleben. Musik ist universal geworden, Grenzen fallen zwischen vormals Unvereinbarem, Kulturen und Epochen werden versöhnt, und unser Welt- und Geschichtsbild revolutioniert sich. Kronos, der Titan, hat seinen Vater getötet.

Am Anfang war das Kronos Quartet nur irgendeine weitere junge und idealistische Formation auf dem Experimentierfeld der Neuen Musik. Es lag nahe, daß man sich auf amerikanische Zeitgenossen spezialisierte, Riley, Cage, Reich, Glass, Nancarrow - und das war kein schlechter Ausgangspunkt für den Weg, den Kronos gehen sollte. Denn Terry Rileys Minimal Music ist gleichermaßen angeregt von Erfahrungen mit der Elektronik wie von ethnischen (vor allem afrikanischen) Rhythmus-Patterns: ein Brückenschlag zwischen Archaik und Moderne, Ost und West. In Conlon Nancarrows nahezu unspielbaren Kompositionen finden sich gleichfalls Berührungspunkte zu afrikanischer Polymetrik, aber ebenso zu Bach und zum Jazz. Bezeichnenderweise war es dann auch ein Jazz-Produzent, der Kronos Mitte der 80er Jahre vollends ins Streichquartett-Neuland lockte: Orrin Keepnews, einst Gründer des legendären Jazz-Labels Riverside, ließ den Arrangeur Tom Darter zwei Jazz-Programme für Streichquartett bearbeiten. Wer die Musik von Thelonious Monk und Bill Evans in der Kronos-Fassung hörte, begriff sofort: Hier wurden Gitterstäbe zerschlagen. Der Klangkörper Streichquartett befreite sich vom Muff der Tradition. Die Grenze zwischen "E" und "U" verschwand von der Landkarte.

Seitdem hat das Kronos Quartet seinen Radius immer weiter gezogen - nach Afrika und Asien hin, zu Rock und Pop hinüber, sogar ins Mittelalter zurück. Heute wissen wir: Jede Musik der Welt ist virtuell Kronos-Musik. Gerade die hochentwickelte Klang- und Formästhetik eines Streichquartetts ist offenbar imstande, die verschiedensten musikalischen Konzepte zu adaptieren und deutend zu erneuern. Das allerdings war bei Kronos nie eine Frage akademischer Beweisführung. Den vier Kaliforniern geht es immer um das Ergebnis, um musikalische Bereicherung, lustvolle Kreativität. Mit dieser Offenheit für Abenteuer hat sich Kronos ein Publikum erobert, das vom würdevollen Anspruch der Kammermusik nichts hören will, sondern Vielfalt, Überraschung, Kurzweil schätzt. Ornette Coleman neben Anton Webern. Astor Piazzolla neben Hildegard von Bingen. Alfred Schnittke neben Foday Musa Suso. Jimi Hendrix neben Terry Riley. Das Streichquartett als vitale Weltmusik mit Unterhaltungswert.

Noch immer ist das ein faszinierendes, wenn auch verwirrendes Phänomen: ein Kammer-Ensemble als Pop-Formation. Schon 1986 ließ sich die hübsche Cellistin des Quartetts lieber in Halbarm-Pullover und Leggins fotografieren als im langweiligen Kammermusik-Outfit. Später posierten die vier gewöhnlich in Lederjacke, Sweatshirt, Parka und Jeans oder entwarfen Phantasiekostüme für eine bunte Bühnenshow. Die Interpreten verdrängten die Komponisten aus dem Mittelpunkt. Die CDs bekamen griffige Titel wie "Winter Was Hard" oder "Short Stories" und waren nicht länger nur Werk-Einspielungen, sondern wurden zu eigenständigen Statements der Gruppe: "Konzeptalben" nennt das die Pop-Branche. "Black Angels" etwa hat den Tod zum Thema und behandelt ihn epochen- und kulturenübergreifend. Da steht eine im Original 40-stimmige (!) Motette von Thomas Tallis (16. Jhd.) neben Schostakowitschs 8. Streichquartett, das er 1960 den Opfern von Faschismus und Krieg widmete. Da steht Charles Ives' "They are there!" (aus beiden Weltkriegen) neben jüngsten Werken, die auf Vietnam und Rumänien Bezug nehmen. Ein streng-düsteres Klangdenkmal.

Mittlerweile arbeitet Kronos mit Dutzenden von Komponisten eng zusammen, vergibt Kompositions-Aufträge in alle Gegenden der Welt. Von Rileys Minimalismen führt der Weg zu Kevin Volans' afrikanisch inspiriertem "White Man Sleeps", von dort zu einer ganzen CD mit "Pieces of Africa" - Auftragswerke afrikanischer Komponisten, die traditionelle Trommelrhythmen, Ritualmusik und Arbeitslieder in neuartige Partituren für Streichquartett verwandeln. Geigerischer Purismus wäre da fehl am Platz: Ganz natürlich musizieren die Streicher gemeinsam mit afrikanischen Instrumentalisten und Sängern, so wie sie sich bei anderer Gelegenheit mit Tabla und Tamboura, Harmonium und Dudelsack, historischen Tondokumenten, Soundsamples, Elektronik oder dem Kunst-Scratcher Christian Marclay zusammenfinden.

"Anything goes". Die Parole der Postmoderne scheint wie gemacht für den Universalismus des Kronos-Quartetts. Nehmen wir ihre jüngste CD, "Early Music": Zwischen Bearbeitungen von Werken aus dem 9. bis 17. Jahrhundert verstecken sich zeitgenössische Miniaturen von Arvo Pärt, Harry Partch, John Cage oder Alfred Schnittke. Plötzlich klingt das Mittelalter modern und die Gegenwart archaisch, China liegt in England, der Rhein fließt durch die Wüste Gobi. Hinter dem Trend zum globalen Dorf steht die Vision einer Einheit aller Zeiten, aller Kulturen: die Klang-Botschaft des Planeten Erde. Und vielleicht - wer weiß? - ist das am Ende jener Stein der Weisen, nach dem die Geheimwissenschaft der Musik-Alchemisten so lange Ausschau hielt - natürlich im Streichquartett.

© 1999, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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