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Vom Straßenmusiker zum Major Artist: Der Multi-Instrumentalist Roland Kirk startete als Ein-Mann-Band, ließ sich nie beirren und eroberte mit seiner unkonventionellen, störrischen Art die internationale Jazz-Szene. Eine Erinnerung an den blinden Hipster anlässlich seines 25. Todestags am 5. Dezember 2002.

Rahsaan Roland Kirk
Der Multiplayer
Oder: Die Freiheit der drei Hörner
(2002)

Von Hans-Jürgen Schaal

"Dieser Mann war nicht behindert! Wir sind behindert!", ruft Jon Hendricks lachend, als er die Geschichte von Rahsaan und dem Taxifahrer erzählt. Der blinde Saxophonist war nicht zu seinem Auftritt erschienen. Ein besorgter Anruf bei der Polizei ergab, dass er auf der Wache festsaß: Er hatte nämlich mit seinem Blindenstock einen Taxifahrer tätlich angegriffen, weil der ihn beim Wechselgeld um einen Dime (25 Cents) betrügen wollte. Roland Kirk war zwar blind, aber nicht hilflos, und ihm entging nichts. Er "hörte" das Volumen eines Raumes und die Körpergröße eines Menschen. Er griff gezielt nach einem Gegenstand, ohne danach tasten zu müssen. Er konnte beim ersten Wort jemanden wiedererkennen, dem er vor zwei Jahren begegnet war. Einmal begrüßte er aus dem Fenster herab Jon Hendricks, den Sänger, als der gerade erst vor Kirks Haus einparkte. Und Kirk wohnte damals im achten Stock.

Sein Sehvermögen verlor er im Alter von zwei Jahren, weil eine Krankenschwester unvorsichtig mit den Augentropfen umging. Mit sechs Jahren begann der kleine Roland, Melodien auf einem Wasserschlauch zu blasen; ein Onkel begleitete ihn am Klavier. Auf der staatlichen Blindenschule lernte er Flügelhorn, Trompete, Klarinette, C-Melody-Sax, schließlich Tenorsaxophon. Mit 15 spielte er professionell in einer Rhythm’n’Blues-Band. Mit 17 träumte ihm, er spiele auf dem Tenor und gleichzeitig auf zwei weiteren Saxophonen, die so ähnlich klangen wie Alt und Sopran. Dem blinden Mann bedeuteten Träume und Geisterstimmen viel: Auch den Namen "Rahsaan" nahm er später auf Traum-Empfehlung hin an. Also machte er sich sofort im Musikalienladen eines Freundes auf die Suche und wurde im Keller, wo man den "Schrott" aufbewahrte, die alten, kaputten Instrumente, tatsächlich fündig. Das eine Horn erinnerte an ein gebogenes Sopransaxophon oder Saxello, das andere an ein gerades Altsaxophon. Beide waren angeblich in Pasodoble-Orchestern verwendet worden. Kirk nannte sie Manzello und Stritch.

Natürlich setzte er seinen Traum in die Tat um. Er veränderte Schalltrichter und Luftklappen, erprobte "falsche" Fingersätze und verbrauchte viel Klebeband. Noch bevor er 20 war, hatte er seine ganz eigene Technik entwickelt, die zum Markenzeichen wurde: das Spiel auf drei Saxophonen gleichzeitig. Die drei Mundstücke nebeneinander zwischen die Zähne gesteckt, griff er mit der linken Hand das Tenor, mit der rechten Manzello und Stritch. Trotz der dabei zwangsläufigen technischen Einschränkungen konnte Kirk fast wie eine eigene Saxophon-Section agieren. Wenn er als Gast bei einer Combo einstieg, sorgte er für Big-Band-Effekte. Besonders geeignet war sein Drei-Hörner-Paket für kräftige Blues-Riffs, schmachtende Ellington-Melodien wie "Creole Love Call" und "Mood Indigo" oder Dudelsack-Imitationen ("Bagpipe Medley"). In verschiedenen Stücktiteln wurde der Dreierpack verewigt: "Triple Threat", "Three For Dizzy", "Three For The Festival", "3-In-1 Without Oil".

Tenorsax, Manzello und Stritch waren keineswegs Kirks einzige Instrumente. Er spielte bis zu 50 verschiedene und entdeckte und erfand sich immer wieder neue. Dazu gehörten Oboe und Englischhorn, Mundharmonika und Melodica, Klarinette und Bass-Saxophon, Trompete, allerlei Flöten und Tasteninstrumente, das Lyricon (eine Art elektronisches Saxophon), Kalimba, Gongs, Kazoo… Kirk montierte Holzbläser-Mundstücke auf Trompete oder Posaune und verteilte fantasievolle Namen wie "Trumpophone", "Slidesophone" oder "Stritchaphone". Zudem verwendete er – für dynamische Höhepunkte und für Signale an die Mitspieler – allerhand Pfeifen und Sirenen. Wie der blinde Mann dieses ganze Instrumentarium auf der Bühne im Griff hatte, ist ziemlich unerklärbar. Wie er Tenorsax und Oboe, die ganz verschiedenen Ansatz verlangen, gleichzeitig spielen konnte, ist ein Rätsel. Überragend beherrschte er die Querflöte, auf der er großartige, warme Jazz-Chorusse blies. Durch den gezielten Einsatz von Stimme und Atmung brachte Kirk die Flöte aber auch zum "Growlen" und verwandelte sie in ein ganz uneuropäisches Hot-Instrument, das an afrikanische und nahöstliche Spielpraktiken erinnert. Der Rockmusiker Ian Anderson hat diese stimmliche Flöte nachgeahmt und sie zum Wahrzeichen seiner Band Jethro Tull gemacht.

Da steht er nun also an der Straßenecke, schwarz, blind, bedürftig, ein wildes Sammelsurium von geflickten Instrumenten um sich und drei Saxophone gleichzeitig im Mund. Eine tragikomische Ein-Mann-Band. Ein Straßenmusiker, der um Almosen bläst. Ein Sozialfall. Könnte man meinen. Zwar blieb eine erste Platte des 20-Jährigen unbeachtet, doch die Insider hörten ihn. Der Ellington-Intimus Harry Carney erzählte es den Kritikern, der Pianist Ramsey Lewis empfahl ihn der Plattenfirma Cadet Records, Quincy Jones nahm ihn für Mercury unter Vertrag, und der deutsche Produzent Joachim-Ernst Berendt entdeckte ihn (zufällig?) auf Chicagos South Side und holte ihn nach Europa. Bald regierte der blinde Mann die Festivals und Musiker-Polls: ein bestaunenswertes Unikum, aber auch ein echter Publikums-Renner. Sein starker, aggressiver, bluesiger Ton, seine geradlinige Message, seine absolute Energie, seine lockere Art, mit sich und den Zuhörern umzugehen, gewannen ihm die Herzen. Wie selbstbewusst muss ein Blinder sein, um Sätze zu sagen wie: "Wir haben das Stück etwas zu langsam begonnen, weil ich auf meinen Pianisten schaute"? Oder um minutenlang mit seinem Publikum über Rassenfragen zu plaudern? Kirk wurde sogar zum politischen Aktivisten, mischte mit "Jazz & People’s Movement" die heile US-Fernsehwelt auf, forderte Gerechtigkeit für die "Black Classical Music" und mehr TV-Jobs für schwarze Jazzer.

Dieses umwerfende Energiebündel wollten viele in ihrer Band haben: "Er ist, worum es im Jazz geht", sagte Charles Mingus. Kirk machte Platten mit Mingus, Roy Haynes, Quincy Jones, Les McCann, Sonny Stitt. Aber er war kein problemloser Angestellter, kein dankbarer Behinderter. Im Gegenteil: Er wollte allen zeigen, dass er der Größte, Beste, Schnellste war! Wenn er auf der Bühne einstieg, hörte er so bald nicht mehr auf und machte das Konzert zu seinem eigenen. Zu Jam Sessions ging er nur unter dem Vorsatz, alle anderen vom Bandstand zu pusten – mit Tenor oder Stritch. Gefürchtet war seine Fähigkeit, das Spiel des vorangegangenen Solisten zu imitieren und bloßzustellen. Wer umgekehrt von ihm eine Chance bekam, dann aber eine Schwäche zeigte, wurde erbarmungslos abgekanzelt und ging zitternd von der Bühne. Kirk machte den Leuten Angst – und besonders ungnädig dachte er über die kommerziell Erfolgreichen: Herbie Mann, Stan Getz, George Benson. Gelten ließ er hingegen John Coltrane: Als er bei dem einstieg, wuchs Coltranes Stück "Impressions" auf zweieinhalb Stunden Länge.

So blieb Rahsaan Roland Kirk im Grunde doch seine eigene Ein-Mann-Band: hip und unkonventionell, erratisch, rätselhaft, unberechenbar. Eine Mischung aus Effekt-Akrobatik und hochsensiblem Künstlertum, Freiheit und Blues; die Begleiter waren Staffage. Dabei floh Kirk nie ins Routinierte: Jedes Stück besaß eine verblüffende Idee, jedes Solo ging seinen eigenen, exzentrischen Weg irgendwo zwischen Dixie-Klarinette und Avantgarde-Happening. Er spielte "A Night In Tunisia" als Funk-Nummer und "The Entertainer" als Slow Blues, sang eigene Texte zu "Goodbye Pork Pie Hat" und Stanley Turrentines "Sugar", adaptierte Themen von Hindemith und Saint-Saens, arbeitete mit Chören und Streichern, war satirisch und kämpferisch und stand auch noch auf der Bühne, als er nach einem ersten Schlaganfall schon halbseitig gelähmt war. In Joel Dorn hatte Kirk zuletzt den idealen Produzenten für seine Exzentrik, für psychedelische Gimmicks und zynische Miniaturen. Rahsaan, Black Superstar. Kirk war Anfang 40, als er seinem Herzleiden erlag. Er wünschte, dass seine Asche von seinen Fans im Joint geraucht werde.

© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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