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Menschen mögen Musik. Denn Musik transportiert Gefühle, Erinnerungen, Hoffnungen, Lebensfreude, Gruppenzugehörigkeit. Von dieser Signalwirkung des organisierten Klangs zehren Filme und Modeschauen, Werbespots und Supermärkte. Musik ist die "integrierende Kraft, die Film, Fernsehen und Multimedia verbindet" (so das Handbuch der Musikwirtschaft), sie kittet die Löcher in unserer Erlebniswelt und transferiert ein Image von Kraft oder Romantik, Reife oder Jugend. Weit mehr als 1 Million TV-Spots werden in Deutschland pro Jahr gesendet, alle unterlegt mit dem Imageträger Musik.

Wo der Hype blüht
Zur Selbstüberschätzung der CD-Branche
(1999)

Von Hans-Jürgen Schaal

Musik ist der Szenecode Nr.1, der Pfadfinder der Trend-Gesellschaft, das trojanische Pferd kommerzieller Interessen. Daher gilt die Musikbranche als Schlüsselbranche, und sie selbst glaubt bereitwillig an diesen Mythos. Kein Geschäftszweig - nicht einmal Hollywood - weiß sich so maßlos zu feiern wie die Musikszene: mit Grammys und Echos, Goldenen und Platin-Schallplatten, Kritiker- und Leserpreisen, nationalen und internationalen Wettbewerben, einem höchst differenzierten System von Verkaufs-Charts, einem kaum übersehbaren Markt an Musikzeitschriften, einer überbordenden Geschäftigkeit rund um Stars und Trends. Nirgendwo sonst betreibt man Selbstdarstellung so öffentlichkeits- und werbewirksam. Nirgendwo sonst gilt Promotion so viel, wird Erfolg so fetischisiert. Die Macher der Musikindustrie sind Meister im Jonglieren von Zahlen, im Herbeireden von Hits, im verbalen Hochpowern und im Das-Blaue-vom-Himmel-Lügen. Eine Branche, in der der "Hype" blüht.

Mit überreizter Hysterie versucht die Branche zu verbergen, daß der Gigant Musikindustrie in Wirklichkeit auf tönernen Füßen steht. Je gefügiger die Ware Musik als Werbesignal für alles und jedes bereitsteht, desto abhängiger macht sie sich von der kommerziellen Synästhesie. Die sogenannte Trendbranche tendiert zur bloßen Hilfsbranche - zum Beispiel fürs Kino: Sie liefert jenen das Image, die die wirklich großen Geschäfte machen, und benötigt den rückwirkenden Werbeeffekt immer dringender. Bereits in den 80er Jahren waren fünfmal so viele Film-Soundtracks in den deutschen Top Ten plaziert wie in den 70er oder 60er Jahren. Immer mehr Musik-Labels geraten so in den Sog von Hardware- und Entertainment-Konzernen: Nur durch Medien-Verbund und Ankopplung an andere Geschäftszweige kann sich die Musikbranche ihre großzügigen Etatpläne noch leisten. Das mono-sensorische Phänomen Musik verliert dabei ständig an Eigenbedeutung.

Schon immer tummelten sich in der Musikproduktion größenwahnsinnige Machtmenschen, die sich gerne im Glanz von Künstlern und hochfliegenden Plänen sonnen. Schon immer arbeitete man hier mit Management-Strukturen und PR-Strategien, die jede vernünftige Dimension sprengen. Selbst viele mittelgroße Labels beschäftigen heute nach amerikanischem Vorbild ein Heer von Promotion-, Produkt- und Verkaufsmanagern, starten kostenintensive Werbe- und Marketing-Kampagnen und glauben an die Dynamik der davon erzeugten heißen Luft. Als ein Stab von Promotern in den 70er Jahren das Label Casablanca Records startete, kostete allein die Gründungsparty 45 000 Dollar. Doch die Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Wirklichkeit ist groß: In Deutschland erwerben nur 50 % der Bevölkerung im Laufe eines Jahres überhaupt jemals einen Tonträger. Auch die Amerikaner geben für Tonträger nicht mehr Geld aus als für ihr Frühstücksmüsli. Aber keiner käme auf die Idee, wöchentlich die Corn-Flakes-Charts zu erstellen oder bei 1 Million verkaufter Packungen feierlich den goldenen Honey Smack zu verleihen.

Ein paar nackte Zahlen machen deutlich, woran die CD-Industrie krankt. 40 Milliarden Dollar Weltumsatz durch Tonträger standen im Jahr 1997 zu Buche: Das klingt zwar nach viel, ist es aber nicht. Den Löwenanteil des Umsatzes machen nämlich Handel und Vertriebe, und nicht einmal ein Drittel - etwa 12 Milliarden Dollar - ging in die Kasse der Plattenfirmen - also jener, die die CDs produzieren und vermarkten und mit ihrer Investition das volle Risiko tragen. Zum Vergleich: Allein der Pharma-Konzern Merck erwartete für 1998 einen Umsatz in mehr als doppelter Höhe. Am Ende blieb den Plattenfirmen 1997 ein geschätzter Gewinn von 600 Millionen Dollar - aufgeteilt auf sämtliche großen und kleinen Labels rund um den Globus. Im gleichen Jahr machte allein der Marlboro-Philip Morris-Konzern das Zehnfache an Gewinnen.

Bereits Ende der 70er Jahre erhielt die Tonträger-Branche einen ersten Denkzettel. Der Disco-Craze flaute ab, die Umsätze brachen ein, und die Plattenindustrie mußte ihrer eigenen Hybris Tribut zollen. Der hysterische Aufwand, der überall betrieben wurde, um Schallplatten zu verkaufen, die Machtkämpfe zwischen den Labels, das Gerangel um Airplay und Charts-Positionen, all das war nur bei verläßlichem Cashflow zu finanzieren. Bis zu 300.000 Dollar wurden damals schon für die Promotion einer einzigen Schallplatte investiert. CBS Records, dem amerikanischen Marktführer, blieben 1979 bei einem Umsatz von 1 Milliarde Dollar lediglich 5 Prozent an Gewinnen, und die mußten erst noch versteuert werden. Das Ende ist bekannt: Das Symbol amerikanischer Medien-Identität gehört heute dem japanischen Elektronik-Konzern Sony.

Und der Verkauf von CBS blieb nicht die einzige Firmenübernahme. RCA ging 1987 an BMG, Island 1989 an Polygram, Geffen 1990 an MCA und zusammen mit MCA im gleichen Jahr an Matsushita, Chrysalis 1991 an EMI, Virgin 1992 ebenfalls an EMI, Motown 1993 an Polygram, MCA 1995 an Seagram, Polygram 1998 ebenfalls an Seagram. Fünf Majors machen heute 80 % des globalen Umsatzes. Noch aufschlußreicher als die Tendenz zur Konzernballung sind die Beträge, um die es dabei ging. 1 Milliarde Dollar für Virgin, 6 Milliarden für MCA, 10 Milliarden für Polygram: Das sind Zahlen ohne faßbare Grundlage, Phantasie-Summen eines auf Hype spezialisierten Geschäftszweigs. Denn da in der Branche nur der aktuelle Trend zählt und sich das CD-Angebot jedes Jahr zu einem Drittel erneuert, verlieren die beim Firmenkauf hochdotierten Repertoire-Kataloge sehr rasch an Marktwert. Selbst ein unkritisches Sprachrohr der Branche wie das Handbuch der Musikwirtschaft konstatiert vorsichtig: "Die Preise gehen in immense Größenordnungen und zum Teil auch über das wirtschaftlich vertretbare Maß hinaus".

Nach der Krise Anfang der 80er Jahre suchte die Musikindustrie einen Weg, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Die Lösung war ein neues Tonträger-Format, die CD: für Elektronik-Riesen wie Sony und Philips das geeignete Konzept, um ihre musikalische Software neu zu verwerten. Der LP-Markt wurde systematisch abgetötet, der neue Tonträger künstlich überteuert: So sicherte sich die Industrie kräftige Umsatzgewinne. Durch ihre Unempfindlichkeit und Handlichkeit war die CD zudem wie geschaffen dafür, die traditionellen Branchengrenzen im Handel zu überspringen. Drogerie- und Lebensmittelmärkte, Kioske, Buchhandlungen und Fotogeschäfte begannen, CD-Sortimente zu führen. Marktstörer verwendeten die CD bald als Lockvogel und Frequenzbringer.

Die Folge: Die bestehenden Handelsstrukturen wurden zerstört, die künstliche Überteuerung der CD kippte um in ihr Gegenteil: in Price-Dumping-Strategien. Der Fach-Einzelhandel macht in Deutschland heute nur noch 20 Prozent des CD-Umsatzes, ein Drittel der CD-Einheiten werden bei uns dagegen in Kaufhäusern verkauft, vor allem Billigware. Aber auch der durchschnittliche CD-Hochpreis sank hierzulande zwischen 1984 und 1995 inflationsbereinigt um fast 40 Prozent. Die kleine Silberscheibe gilt inzwischen als praktisches Giveaway und wertloses Wegwerfprodukt. Beim Kauf eines Faxgeräts bekommt der Kunde eine CD als Dankeschön, und beim Kauf einer Zeitschrift ist sie gleich miteingeschweißt. Ein Witz macht die Runde: Das neue Hifi-Magazin kostet im Handel 10 Mark, mit CD nur 8. Bei der guten, alten LP wäre die Entwicklung zur Junkware Tonträger undenkbar gewesen - schon wegen ihres Formats und ihrer Zerbrechlichkeit.

Der Versuch der Branche, durch die CD ihr Gesicht zu wahren, sieht immer mehr nach einem fatalen Eigentor aus. Allein in Deutschland hat sich die Zahl der Tonträger-Händler von 15.000 im Jahr 1975 auf etwa 5.000 reduziert. 10 Handelskonzerne machen 60 Prozent des Umsatzes, 5 Prozent der Händler sogar ganze 80 Prozent. In Frankreich gab es 1997 kaum mehr 200 Händler, die ein Klassik- und Jazz-Sortiment führten. In den USA haben seit 1995 mehr als 1.000 CD-Shops geschlossen, ganze Handelsketten gingen in Konkurs. Die größte Handelskette der USA, Musicland Stores Corp., machte 1995 einen Verlust von 136 Millionen Dollar. Da in den USA weitgehend ein unbeschränktes Retourenrecht praktiziert wird, bedrohte die Sturmflut an Returns auch die Existenz vieler Vertriebe.

Die Überschwemmung des Marktes und die Billigprodukt-Strategie schlagen mit selbstmörderischer Wucht auf die Industrie zurück. Der Preiskrieg der Handelskonzerne tobt auf dem Rücken der Labels, der Partei mit dem ohnehin kleinsten Gewinnanteil am CD-Geschäft. Die Marge der Industrie schrumpft weiter, die Renditen geraten unter Druck. Seit kurzem ist die erste Branchenkrise seit Einführung der CD auch in Deutschland kräftig bemerkbar. Im Sommer 1998 wurden zweistellige Minuszahlen notiert, dennoch sind Preissteigerungen nicht durchsetzbar. Die vielbewunderte Trendsetter-Branche, die ständig das völlig Unerhörte und absolut Neue beschwor, beklagt sich plötzlich über die Kurzlebigkeit ihrer Trends. Durch die dauerhaft großzügigen Kosten für Produktion, Gagen und Promotion und die jetzt fallenden Gewinnspannen und Umsatzzahlen werden die CD-Firmen völlig von ihren Bestsellern abhängig. "Nur jede zehnte neue CD macht Gewinn und muß die anderen neun Flops tragen", so der Vorsitzende der IFPI.

Gerade auch im Klassik-Sektor ist die selbstgemachte Krise unübersehbar. Scheinbar boomt die Klassik: Opernhäuser florieren, neue CDs am laufenden Band, und selbst in der Werbung geht Kartoffelpüree nicht mehr ohne Beethoven. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Mehrwöchige Orchester-Produktionen verschlingen Unsummen allein an Hotelkosten; Sony-Classical löste bereits 1994 ihre Hamburger Zentrale auf, EMI stellte Ende 1996 die deutsche Klassik-Produktion ein, andere Labels schlossen ganze Abteilungen. Selbst den Star-Dirigenten und Spitzenorchestern werden die Verträge gekündigt, weil die üblichen Luxusgagen inzwischen jede CD-Produktion unrentabel machen. Niedrigpreis-Labels mit weniger namhaften Orchestern und Interpreten sind deshalb kräftig auf dem Vormarsch: vielleicht der Todesstoß für die alten Strukturen des Tonträger-Markts.

Im Live-Betrieb, wo sich die finanziellen Allüren der Klassik-Stars bis jetzt noch ungebremst austoben, werden inzwischen die Abgründe sichtbar. Ein aktueller Prozeß deckte auf, daß sogar Tourneen der "Drei Tenöre" nicht ohne Schwarzgelder, Unterschlagungen und fiktive Beraterhonorare ablaufen. Die Süddeutsche Zeitung vom 23.10.98 faßt zusammen: "In der großen Konzert-Branche herrscht offenbar ein Klima ständiger gegenseitiger psychischer Erpressung um mehr Geld, eine Suche nach Steuerschlupflöchern und ein betrügerisches Ethos." Während hier staatliche Steuerverordnungen betrügerische Instinkte wachrufen, schießt der Staat andernorts immer noch kräftig zu: bei den etablierten Institutionen des Klassik-Lebens nämlich. Bereits 1985 flossen mehr als 2,5 Milliarden DM aus öffentlichen Haushalten der damaligen BRD in die Subventionierung des klassischen Musikbetriebs. Ein bayerischer Orchester-Solobratschist verdiente damals schon soviel wie der Münchner Polizeipräsident.

Allein die deutschen Opernhäuser kassierten schon 1990 1,5 Milliarden DM aus Bonner Mitteln: Das übersteigt deutlich die jährlichen Gewinne der gesamten Platten-Industrie aller Musiksparten weltweit. Durch immense staatliche Subventionen wird im Klassik-Betrieb ein finanzieller Standard geschaffen, dem jede wirtschaftliche Basis fehlt. Denn das Klassik-Publikum ist eine Mini-Elite: Nur etwa ein Sechstel ihrer Unkosten spielen die deutschen Opernhäuser wieder ein. Kaum mehr als 5 Prozent der bei uns verkauften CDs sind überhaupt Klassik-Titel. Kein Wunder, daß der künstliche Klassik-Hype im CD-Sektor zur Lebensbedrohung gerät.

<>© 1999, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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