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Wie das klagende Heulen des Windes
Über das Saxophon in der klassischen Musik
(1997)

Das Saxophon ist ein Spätstarter: Als es erfunden wurde - 1841 -, war das klassische Sinfonie-Orchester bereits komplett. Kein Bach, Händel, Mozart, Beethoven oder Schubert konnte jemals eine Note fürs Saxophon schreiben. Erst als das Retortenkind des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts im Jazz des 20. Jahrhunderts Karriere machte, wachten die klassischen Komponisten auf: Für die letzten 50 Jahre sind mehr als 11.000 Kompositionen (und Transkriptionen) registriert, in denen das Saxophon eine prominente Rolle spielt. Der Spätstarter hat mächtig aufgeholt.

Von Hans-Jürgen Schaal

ADOLPHE SAX oder DIE ERFINDUNG DER FREILUFTGEIGE

Schon der Vater war ein Instrumentenbauer mit ungewöhnlicher Phantasie: Eine Harfe mit Klaviertastatur, eine Flöte mit 22 Tonlöchern und ein chromatisches Horn gehörten zu den vielen vergänglichen Schöpfungen des Belgiers Charles Joseph Sax. Sein Sohn Adolphe (1814-1894), der eigentlich Antoine-Joseph hieß und schon in der Jugend ein virtuoser Klarinettist war, wußte nicht nur genauestens über die Schwächen der Instrumente seiner Zeit Bescheid, sondern verfügte zudem über einen enthusiastischen Durchsetzungswillen und eine unbeugsame Lebenskraft. Als Kind überlebte er eine lange Serie beinahe tödlicher Unfälle, als Erwachsener überwand er ein Krebs- und ein Lungenleiden, ertrug jahrzehntelang die Intrigen, Boykotte, Plagiate und Verschwörungen neidischer Konkurrenten, verlor die meisten seiner Patentprozesse, ging dreimal bankrott und verließ am Ende doch als Sieger den Platz. Im Lauf seines Lebens erfand Sax Hunderte neuer Instrumente - Saxhorn, Saxotromba, Trompetenpauke, Mirliton, Ventilposaune, Ventiltrompete, kessellose Pauken, Subkontrabaßhorn, Saxhornbourdon, Saxtuba usw. - und löste mit jedem eine neue Flut von Anfeindungen und Prozessen aus. Mehr als dreißig Patente hat er letztlich erfochten - nicht nur für den Instrumentenbau, sondern auch für Konzertsaalakustik, Eisenbahnsignale und Lungenapparate.

Das Grundproblem der Musik seiner Zeit war der stumpfe und häßliche Klang vieler Instrumente - besonders im tiefen Bereich und besonders bei Freiluftkonzerten, für die Streicher nicht geeignet waren und darum eine schmerzliche Lücke im Klangbild hinterließen. 1835 präsentierte der junge Sax eine verbesserte Klarinette, im Jahr darauf eine entscheidend verbesserte Baßklarinette: Sie besaß erstmals die einfach geknickte Form und wurde sofort von Meyerbeer in den Hugenotten verwendet. Sax, der geniale Erfinder, hatte erkannt, daß allein die Größenrelationen der Tubusform, die die schwingende Luftsäule umgibt, über die Qualität des Tons, seine Klangfarbe und Fülle, entscheiden. Diese theoretische Einsicht sicherte nicht nur allen Sax-Instrumenten einen technischen Vorsprung vor der Konkurrenz, sondern stand auch an der Wiege des 1841 erstmals fertiggestellten Saxophons. Die seltsame Verbindung von Metallkorpus und Klarinettenschnabel war ein Wunschkind nach Maß: "ein Instrument", hieß es in Sax' Patentantrag von 1846, "das im Charakter seiner Stimme den Streichinstrumenten nahekommt, aber mehr Kraft und Intensität besitzt als diese."

1842 wanderte Sax mit seiner Erfindung zu Fuß von Brüssel nach Paris, um sie keinem Geringeren als Héctor Berlioz (1803-1869) vorzuführen. Der lobte in einem enthusiastischen Artikel den Klang des neuen Instruments (es war ein Baßsaxophon) als "voll, weich, schwingend, von enormer Stärke und geeignet, abgeschwächt zu werden". Und weiter: "Der Klangcharakter ist absolut neu und erinnert nicht an irgendein Instrument unseres gegenwärtigen Orchesters." An anderer Stelle: "Ich finde, sein Hauptvorzug ist die abwechslungsreiche Schönheit seiner verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten. Einmal tief und ruhig, dann leidenschaftlich, träumerisch und melancholisch, zuweilen zart wie der Hauch eines Echos, wie das unbestimmte, klagende Heulen des Windes in den Zweigen...". Beeindruckt von dem runden, priesterlichen Ton des tiefen Saxophons, bearbeitete Berlioz sein Chorstück Chant Sacré für ein Bläsersextett aus Kornett, Trompete, Flügelhorn, Klarinette, Baßklarinette und Baßsaxophon. Diese Fassung, die als Hymne Sacré bereits 1844 mit Adolphe Sax am Saxophon aufgeführt wurde, ist leider verschollen; eine beeindruckende Transkription für 12 Saxophone besorgte indes Jean-Marie Londeix.

Nicht nur Berlioz wußte die Dynamik und klangliche Flexibilität des neuen Instruments zu schätzen. Ambroise Thomas verwendete das Saxophon in seiner Oper Hamlet (1868), Georges Bizet in den L'Arlésienne-Suiten (1872/1879), Jules Massenet in Hérodiade (1881) und Werther (1892), Vincent d'Indy in Fervaal (1895), Richard Strauss in der Sinfonia Domestica (1903). Doch um dem Saxophon ein Überleben zu sichern, hätten solche Einzelfälle nicht ausgereicht. Wirklicher Erfolg stellte sich dort ein, wo das Ausgangsproblem akut war: in der Freiluftmusik der Militärkapellen. Der Komponist Georg Kastner (1810-1867), der das Saxophon bereits 1844 in seinem Oratorium Le dernier Roi de Juda verwendet hatte, erarbeitete zusammen mit Sax bis zum Folgejahr eine Saxophonschule für Militärmusiker. Im März 1845 beantragte Adolphe Sax eine Reorganisation der französischen Militärkapellen: 14 herkömmliche Klarinetten wollte er durch 6 Sax-Klarinetten ersetzen, alle Oboen, Fagotte und Hörner durch Saxhorn- und Saxophonfamilien. Sämtliche Instrumentenbauer von Paris machte er sich damit zu erbitterten und hemmungslosen Feinden. Am 22. April 1845 entschied ein legendärer Wettkampf auf dem Pariser Marsfeld über die Zukunft der Sax-Instrumente: Vor 25.000 Zuhörern trat eine herkömmliche Blaskapelle gegen eine Sax-Formation an, und obwohl etliche Musiker von seinen Gegnern bestochen waren, gehörte Sax der Sieg. Noch im gleichen Jahr wurden dem französischen Militär die Sax-Instrumente verordnet.

Doch der Erfolg war nicht von Dauer. Obwohl die Armeen Preußens, Rußlands und Englands bereits Sax-Instrumente benützten und Rossini sie am Konservatorium in Bologna eingeführt hatte, rüstete man die französischen Militärkapellen nach der Revolution von 1848 wieder auf den alten Stand um; zwei Jahre später ging Sax prompt erstmals in Konkurs. Erst 1854, als der Erfinder seinen großen Patentprozeß ums Saxophon endlich gewann, unterstützt von Komponisten wie Berlioz, Meyerbeer, Donizetti und Adam, wurde das Militär "resaxiert". Unter der Förderung von Napoléon III. gedieh auch der Saxophon-Gedanke wieder, Sax selbst leitete bis 1870 eine Saxophonklasse am Pariser Nationalkonservatorium. Dann kam die Niederlage von Sedan, und der Saxophonunterricht am Konservatorium wurde eingestellt; der zweite Konkurs folgte auf dem Fuße. In der Musikgeschichte schien kein Platz fürs Saxophon.

MARCEL MULE oder DER TRAUM VOM VIERFACHEN ATEM

Die klangliche Flexibilität in den verschiedenen Tonlagen und die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Baugrößen brachten Sax früh auf den Gedanken, ganze Ensembles nur aus Saxophonen zu bilden. Bereits Anfang 1844 kursierte in Paris das Gerücht, er habe ein Quartett aus Sopran-, Tenor-, Baß- und Kontrabaßsaxophon gegründet. Unter den ersten Original-Kompositionen für Saxophon, die Sax ab 1850 verstärkt in Auftrag gab, sahen schon mehrere Stücke die noch heute üblichste Quartettbesetzung vor - mit Sopran, Alt, Tenor und Bariton. Man weiß von frühen Saxophonquartetten der Komponisten Cressonnois, Mohr, Savari, Jonas und vor allem Jean-Baptiste Singelée (1812-1875), der wie Sax aus Brüssel kam und in Paris freundschaftlich mit dem Erfinder verbunden war. Singelée, ein renommierter Violinist, lieferte bis 1864 die Wettbewerbs-Stücke für Sax' Saxophonklasse und schrieb insgesamt an die dreißig Kammermusikwerke für Saxophon, darunter das Premier Quatuor op. 53 von 1858 und ein nur teilweise erhaltenes zweites Quartett (op. 79). Opus 53, heute Standard-Repertoire klassischer Saxophonquartette, dokumentiert auf seine Weise die späte Geburt des Instruments, indem es auf 20 Minuten Länge die Musikgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Revue passieren läßt. Ausdrücklich ist jeder der vier Sätze von einem bestimmten Komponisten inspiriert, wobei neben Beethoven und Mendelssohn zwei bekannte Saxophon-Befürworter geehrt werden: Rossini und Meyerbeer.

Obwohl Sax keine Mühe scheute und sogar eigene Konzertsäle bauen ließ, konnte sich der Parvenü Saxophon als seriöses Orchester- und Kammerinstrument im 19. Jahrhundert nicht mehr behaupten. Der Berliner Saxophonpionier Gustav Bumcke (1876-1963), ein Schüler von Bruch und Humperdinck, erntete noch 1902 mit seinen Bemühungen ums Saxophon nur Unverständnis in Deutschland. Selbst in Frankreich schien die Karriere des Saxophons gescheitert: Als Claude Debussy 1901 den Auftrag zu einem Saxophonwerk erhielt, gab er zu, mit diesem Instrument nicht vertraut zu sein: Die Rhapsodie für Orchester und Solo-Saxophon war bei seinem Tod 1918 noch immer unvollendet. In Auftrag gegeben wurde das Werk übrigens von einer Französin, die bezeichnenderweise seit langem in den USA wirkte und lebte, wo man bekanntlich Parvenüs gegenüber mehr Toleranz aufbringt und die Grenzen zwischen gehobener und Gebrauchskunst durchlässiger sind. Auch der klassische Saxophonist Edouard Lefèbvre (1834-1911), Sax-Schüler und von Gounod und Wagner bewundert, trat seit den 1870er Jahren zunehmend in Amerika auf, wo den Regimentskapellen auch die Opernhäusern offenstanden. Lefèbvre gründete ein Saxophonquartett in Brooklyn, beriet den ersten amerikanischen Saxophonbauer Gus Buescher bei der Instrumentenfirma Conn und wurde Solo-Saxophonist bei John Philip Sousa.

Das Saxophon wäre vielleicht eine Marginalie der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts geblieben ohne die amerikanischen Militärkapellen, deren Welttourneen das Instrument ins neue Jahrhundert retteten. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs, als viele der Einheiten aufgelöst wurden und die Instrumente billig zu haben waren, stürzten sich Tanz- und Jazzmusiker massenhaft auf das Saxophon. Der Amerikaner Rudy Wiedoeft (1893-1940), dessen Staccato sogar Henri Selmer bewunderte, oder das Saxophonquintett der Brown Brothers übersetzten den eckigen Ragtime-Stil jener Jahre in virtuose Vaudeville-Nummern. Auch in Deutschland taucht das Saxophon plötzlich in den Unterhaltungskapellen auf und macht über Nacht die Salonorchester zu Jazzbands ("Der Primgeiger gehört unbedingt ans Saxophon", 1928) oder zu kombinierten Stimmungs-Kapellen ("Original Bayr. Oberlandler-Kapelle mit dem 1. bayrischen Saxophon-Quartett", 1927). Die Krönung der Sax'schen Instrumentenbaukunst wurde dementsprechend als "Negerpfeife" beschimpft oder als humoristische Clowns-Tröte bejubelt, während Jazzkenner zwischen dem erotischen Klangcharakter des Alt- und dem männlichen des Tenorsaxophons zu unterscheiden lernten.

Von der militärischen Tradition und der Jazz-Mode wurde aber auch jener Mann gefördert, der das klassische Saxophon wiederbelebte und noch heute in Frankreich als sein "Patron" gilt: Marcel Mule. Der 1901 geborene Sohn eines Blaskapellen-Saxophonisten erlernte das Instrument schon als Kind, verfeinerte sein Spiel in den 20er Jahren bei der Armee und lernte das Vibrato in Pariser Jazzklubs. Er wurde Solosaxophonist in der Kapelle der Republikanischen Garde, lernte für das Saxophon zu arrangieren, spielte in der Opéra Comique die Saxophonstimme in Massenets Werther und hatte 1928 Erfolg als Altsaxophonist in L'Enfants Ballett Evolution. Im gleichen Jahr gründete er mit anderen Mitgliedern der Republikanischen Garde ein beständiges Saxophonquartett-Ensemble und begann - wie vor ihm Adolphe Sax, Eugène Lefèbvre und andere Saxophon-Pioniere -, klassische Werke für diese Besetzung zu transkribieren. Zu den frühesten Stücken im Repertoire des Quartetts gehörten eine Transkription des Andante aus Tschaikowskys Streichquartett, das achtteilige Au Jardin des bêtes sauvages von Pierre Vellones (ein vom Komponisten zusammengestelltes und transkribiertes Potpourri eigener Werke) sowie kleine Stücke von Robert Clérisse.

Marcel Mule gelang, wovon Adolphe Sax nur geträumt hatte: Sein Saxophonquartett etablierte sich als ein neuartiger Klangkörper für kammermusikalischen Ausdruck. Die Mischung aus Niveau und Novität, virtuoser Eleganz und gehobener Unterhaltung kam nicht nur beim Pariser Publikum, sondern auch bei den Komponisten gut an. Zahlreiche Zeitgenossen begannen, für Mules Quartett zu schreiben, darunter Alexander Glasunov (1865-1936), dessen Quartett für 4 Saxophone (op. 109) von 1932 ähnlich wie schon Singelées Quartett von 1858 versucht, dem Saxophon die versäumte Musikgeschichte in konzentrierter Form nachzuliefern. Vom einleitenden Allegro, das Dvorák, Wagner und Brahms gewidmet ist, schreitet das noch heute häufig gespielte Werk in die Vergangenheit zurück - mit Choral-Variationen im Stil von Schumann und Chopin und einem Rondo-Finale zu Ehren von Johann Sebastian Bach. Weniger bemüht, aber desto publikumswirksamer sind die Mule gewidmeten Quartettwerke von Gabriel Pierné (1934), Jean Rivier (1938) und Eugène Bozza (1939): Sie entfalten allesamt im 1. Satz das romantisch-sentimentale Klangpotential des Saxophons und stellen ihm im 2. Satz seine furiosen technischen Möglichkeiten gegenüber. Das wahrscheinlich originellste Werk der 30er Jahre war Jean Françaix' Petit Quatuor (1935), eine geistreiche Hommage an das Paris seiner Zeit.

Mule verließ 1936 die Republikanische Garde und gab seinem Quartett einen neuen Namen, doch die Widmungen rissen nicht ab. Kompositionen von Florent Schmitt (1941), Pierre-Max Dubois (1955), Georges Migot (1955), Alfred Desenclos (1964) und vielen anderen festigten die Gattung als modern-mondänes Gegenstück zum profunderen Streichquartett. Mule, dessen Ensemble bis 1967 bestand, feierte auch als Solist große Erfolge und hatte keinen Mangel an ihm gewidmeter Kammer- und Konzertliteratur. Im Jahr 1942 erhielt das Nationalkonservatorium wieder eine Saxophonklasse: Mule als ihr Leiter wurde Sax' direkter Nachfolger nach einer Unterbrechung von über 70 Jahren. In Mules Klasse lernten einige der größten Saxophonisten unserer Zeit, darunter Daniel Deffayet, Guy Lacour, Jean-Marie Londeix, Jacques Desloges, Iwan Roth, Pierre Bourque, Frederick Hemke, Jacques Melzer und Eugene Rousseau. Wettbewerbsstücke für den Klassenpreis schrieben unter anderen Alfred Desenclos, Georges Dandelot und Ida Gotkovsky.

Mules Saxophonquartett machte Schule: 1953 gründete Daniel Deffayet, Mules Nachfolger am Nationalkonservatorium, sein eigenes Quartett-Ensemble, dem Dutzende von Kompositionen gewidmet wurden, darunter Pierre-Max Dubois' Les Métamorphoses (1983). Auch andere Mule-Schüler wie der Schweizer Iwan Roth und der Amerikaner Eugene Rousseau gründeten Quartette. Etwa zur Zeit von Mules großer Amerika-Tournee (1958) hatte der amerikanische Produzent Jack Lewis die Idee, aus Jazzmusikern mit klassischer Studio-Erfahrung ein genuin amerikanisches Saxophonquartett zu bilden. Zu den Gründungsmitgliedern des New York Saxophone Quartet gehörten prominente Cool-Jazz-Saxophonisten wie Stan Getz und Al Cohn, und die ersten Auftragswerke kamen von amerikanischen Big-Band-Arrangeuren und Filmkomponisten wie Eddie Sauter, Johnny Carisi, Manny Albam, Gene DiNovi und George Handy. Das jazzinspirierte Quartett Three Improvisations, das der Jazz-Saxophonist Phil Woods 1962 dem NYSQ widmete, gehört längst zur Standard-Literatur - wie übrigens auch Woods' Sonata for Alto Sax and Piano.

Erst 1969, nachdem Marcel Mule sein Quartett aufgelöst hatte, gründete sein großer Konkurrent Sigurd Rascher (geb. 1907 in Wuppertal-Elberfeld) sein eigenes Saxophonquartett. Das Raschèr Saxophone Quartet, das seit 1981 von Raschers Tochter Carina geleitet wird, spielt unter den Saxophonquartetten eine ähnliche Vorreiter-Rolle wie das Kronos Quartet unter den Streichquartetten: In Zusammenarbeit mit Dutzenden von abenteuerfreudigen Komponisten konzentriert sich das Ensemble auf die Aufführung schwieriger zeitgenössischer Werke. Unter den bekanntesten der mehr als hundert Quartette, die für das Rascher-Quartett geschrieben wurden, sind Harald Genzmers Quartett for Saxophonen (1982), Maurice Karkoffs Ernst und Spaß (1984), Günter Bialas' Sechs Bagatellen (1986), Iannis Xenakis' XAS (1987), Sofia Gubaidulinas In Erwartung (1994, für Saxophonquartett und 6 Schlagzeuger) sowie gleich mehrere Werke von Werner Wolf Glaser, Erland von Koch, Miklós Maros und Walter S. Hartley.

Im Jazz, der immer wieder Saxophonquartette inspiriert und gefördert hat, spielte diese Besetzung lange Zeit keine Rolle. Benny Carter hatte zwar 1937 in Paris - natürlich unterm Eindruck von Mules Erfolg - vier Jazz-Saxophonisten mit einer Rhythmusgruppe präsentiert, aber es vergingen 40 Jahre, ehe Saxophonquartette auch im Jazz auf Begleiter verzichteten. Unter den Pionieren war das amerikanische Quartett Rova, das nicht nur Jazz-Avantgardisten zum Schreiben inspiriert hat (Anthony Braxton, Fred Frith, John Carter), sondern auch Vertreter der experimentellen E-Musik (Terry Riley, Alvin Curran). Ähnlich wie beim Streichquartett werden die Grenzen zwischen den Genres also immer durchlässiger: Hunderte von Ensemble-Gründungen im klassischen wie im Jazz-Bereich machen das Saxophonquartett heute zu einem universellen, postmodernen Format, das uns als Party-Spaß, als Jazz-Band oder als Kammerbesetzung begegnet. Diese Bandbreite spiegelt sich auch in den Transkriptionen für Saxophonquartett, die bis vor kurzem hauptsächlich aus Miniaturen von Bach und Scarlatti, der Impressionisten und des frühen Jazz (Scott Joplin, George Gershwin) bestanden. Heute präsentieren Saxophonquartette mit Selbstverständlichkeit bearbeitete Werke von so unterschiedlichen Autoren wie Astor Piazzolla, Chick Corea, Glenn Miller, den Beatles, Alexander Skriabin, Kurt Weill, Henry Mancini, Charlie Parker, Igor Stravinsky, Wolfgang Amadeus Mozart, Georg Friedrich Händel, Bill Evans, Michel Legrand, Nino Rota, Tommaso Albinoni und Charlie Chaplin.

SIGURD RASCHER oder "DAS HEULENDE SENTIMENT"

Im 19. Jahrhundert waren Solistenwerke fürs Saxophon kaum mehr als trockene Etüden oder sentimentale Arien: Der große Wurf wurde nicht gewagt, ein Konzert für Saxophon und Orchester nicht einmal versucht. Auch hier half der Jazz, präsentierte das Instrument solistisch in kleinen Besetzungen oder vor ganzen Big Bands und mit Freiheiten des Ausdrucks und der Intonation, die die klassischen Musiker dankbar, wenn auch vorsichtig aufgriffen. Kaum hatten zeitgenössische Komponisten die neuen Ragtime-Tänze in ihren Werken reflektiert - vor allem natürlich in Klavierstücken -, folgte in der Ära des Swing der Einbruch des Solo-Saxophons in die E-Musik. 1923 verwendet es Milhaud in La Création du Monde, 1924 Gershwin in der Rhapsody in Blue, 1928 Ravel im Bolero... 1930 schrieb Schulhoff für den holländischen Virtuosen Jules Hendrik de Vries die Hot-Sonate für Altsaxophon und Klavier. Milhaud schrieb 1937 seine populäre Suite Scaramouche ebenfalls für Altsaxophon und Klavier (oder Orchester); bekannter wurde sie allerdings in der Version für zwei Klaviere und der Orchesterfassung für Benny Goodmans Klarinette. Auch Hindemith war am Saxophon interessiert, aber nicht recht überzeugt: Im Trio op. 47 (1928) sah er das Saxophon nur als Ersatz fürs Heckelphon, in der Sonate in Es (1943) war es sogar nur dritte Wahl. Dazwischen allerdings - 1933 - komponierte er für Sigurd Rascher ein Konzertstück für zwei Saxophone, das lange unbekannt blieb: Erst 1960 hat Rascher es mit seiner Tochter Carina einstudiert.

Rascher war es auch, der durch sein ständiges Werben fürs Saxophon die ersten wirklichen Solo-Konzerte mit Orchester anregte. Der Breslauer Komponist Edmund von Borck (1906-1944) widmete ihm 1932 ein Konzert für Altsaxophon und Orchester (op. 6), ein etwa viertelstündiges Pionierwerk, das Rascher in Hannover, in Berlin (mit den Philharmonikern unter Eugen Jochum) und in Straßburg (unter Hermann Scherchen) aufführte. Die seriöse Musikkritik reagierte zwiespältig und voller Mißtrauen gegenüber dem "heulenden Sentiment" des plötzlich populär gewordenen, als grotesk empfundenen Saxophons. Besonderes Mißfallen erntete Rascher bei den Nationalsozialisten, die das Instrument als artfremd denunzierten. Er emigrierte 1933 und wirkte im Ausland desto stärker weiter: Etwa 50 Werke wurden allein in den 30er Jahren für Rascher komponiert, darunter drei Saxophonkonzerte von bleibender Bedeutung: Glasunovs Concerto in Es (1934), Iberts Concertino da Camera (1935) und Martins Ballade (1938).

Alexander Glasunov (1865-1936), den Rascher in Paris aufsuchte, um ihn für ein Saxophonkonzert zu begeistern, registrierte sein Werk unter derselben Opusnummer 109 wie sein Saxophonquartett, das er zwei Jahre zuvor Marcel Mule gewidmet hatte. Das einsätzige Konzert in Es für Altsaxophon und Streichorchester ist eines der letzten Werke des Rimsky-Korsakow-Schülers und schwelgt noch einmal in üppiger, spätromantischer Melodik. Alle wichtigen Saxophonisten jener Jahre - darunter Marcel Mule und der Amerikaner Cecil Leeson - übernahmen das Werk sofort in ihr Repertoire. Auch Jacques Ibert (1890-1960) erfüllte Raschers Wunsch: Sein Concertino da camera für Altsaxophon und 11 Instrumente gilt als das Lieblingskind des Komponisten und hat bleibende Maßstäbe für die Behandlung des klassischen Saxophons gesetzt. Es ist ein von Grund auf modernes Werk mit einer extremen dynamischen Spannbreite: Zwischen den schnell bewegten, jazzbeeinflußten Ecksätzen besitzt das lyrische Larghetto beinahe sentimentalen Charakter. Der Schweizer Frank Martin (1890-1974) schließlich schrieb mit der Ballade für Altsaxophon, Klavier, Schlagzeug und Streicher eine durchweg ernste, zum Teil dramatische und düstere Musik, die sich mit langem Atem zu großer Expressivität steigert. Für eine Ballade für Posaune und Orchester, die Martin 1940 komponierte, sah er übrigens als alternatives Solo-Instrument das Tenorsaxophon vor.

Marcel Mule, der Rascher offenbar den Solisten-Erfolg neidete, reklamierte später die erste komplette Aufführung eines Saxophonkonzerts für sich: Im November 1935 spielte er mit dem Pasdeloup-Orchester unter Albert Wolff das Concerto in F (op. 65) von Pierre Vellones (1889-1939), der auch etliche Quartette und Solistenstücke für Mule schrieb. Zu den späteren Konzertwidmungen an Mule gehören das Concertino (1938) von Eugène Bozza (1905-1991), die Ballade (1939) und das Concerto (1949) von Henri Tomasi (1901-1972), das Concertino von Jean Rivier (1896-1987), das etwa zehnminütige Divertissement (1953) von Pierre-Max Dubois und die Fantasia für Sopransaxophon, drei Hörner und Streichorchester (1948) von Heitor Villa-Lobos (1887-1959). Leider hat Mule das Werk von Villa-Lobos, eine der überzeugendsten und rhythmisch mitreißendsten Werbungen fürs Saxophon, nie selbst aufgeführt.

Die Geschichte des Saxophons kennt eine ganze Reihe von Komponisten, die sich dauerhaft von diesem Instrument faszinieren ließen und über Jahrzehnte hinweg dafür komponierten. So hat Jean Françaix, der dem Mule-Quartett eines der witzigsten Saxophonquartette schrieb (Petit Quatuor), fünfzig Jahre später (1989) für das Quatuor de Versailles ein zweites Quartett geliefert, La Suite - ebenso eklektisch und mondän wie das erste. Daneben sorgte Françaix, ein Meister der leichten, virtuosen Bläsermusik, mit Paris à nous deux (1954) für einiges Aufsehen, einer "Opera buffa" für vier Sänger und vier Saxophonisten. Von der lateinamerikanischen Musik inspiriert sind seine 5 Danses exotiques für Altsaxophon und Klavier, die er 1962 Marcel Mule widmete - inzwischen ein Standardwerk für Saxophon. Einer der fleißigsten Saxophon-Komponisten überhaupt ist Pierre-Max Dubois, Rom-Preisträger von 1955, der mehreren Ensembles Saxophonquartette gewidmet hat, dem Mule-Schüler Jean-Marie Londeix 1959 ein bemerkenswertes Konzert für Altsaxophon und Streichorchester schrieb und mehr als fünfzig weitere Werke für Saxophon veröffentlicht hat.

Dennoch: Mehr vielleicht als bei anderen Instrumenten bedarf es eines virtuosen Solisten oder überragenden Ensembles, um Kompositionen für das noch immer außerhalb des klassischen Kanons stehende Saxophon anzuregen. Ein solcher Solist ist der Brite John Harle (geb. 1956), Schüler von Stephen Trier und Daniel Deffayet und heute Saxophonprofessor an der Guildhall School of Music and Drama. Neben Luciano Berio, dessen Sequenza IX b er 1981 uraufführte, sind es vor allem englische Komponisten, die für Harle geschrieben haben - darunter Dominic Muldowney, Stanley Myers, Michael Torke, Gavin Bryars, Harrison Birtwistle, Michael Nyman und Mike Westbrook. Harle ist heute der meistvertretene klassische Saxophonist auf dem CD-Markt und einer der bekanntesten klassischen Musiker Großbritanniens. Er dirigierte das London Symphony Orchestra, arbeitete mit Pop- und Jazzmusikern, dem Balanescu-Streichquartett, dem Apollo Saxophone Quartet, schrieb Dutzende von Film- und Konzertmusiken und verkörpert geradezu den genreübergreifenden "Crossover"-Geist seines Instruments. Passenderweise war es Harle, der Richard Rodney Bennetts Concerto for Stan Getz (1990) uraufführte: ein klassisches Solistenkonzert für einen Saxophonisten, der seinerseits aber als Jazzmusiker berühmt war.

© 1997, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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