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Musik auf des Messers Schneide
Über den britischen Jazzkomponisten
Django Bates
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

Wie stellen Sie sich die Hölle vor? Heiß und dunkel, schmerzhaft und ewig? Eine Mischung aus Geisterbahn, Nachsitzen und Folterkammer? Oder haben Sie etwa nie darüber nachgedacht und glauben allen Ernstes daran, eines Tages in den Himmel zu kommen? Der irische Schriftsteller Flann O'Brien (eigentlich: Brian O'Nolan) wußte es besser: Jeder bekommt die Hölle, die er verdient. In seinem Roman "The Third Policeman" (1940) wird die Hauptfigur zu einem Raubmord angestiftet und dabei selbst in eine Falle gelockt; danach sind die gewohnte Welt und die Monologe ihrer Bewohner irgendwie anders - grotesk, unheimlich, irrwitzig und banal zugleich wie in einem schweren Alptraum oder in einem wilden Porter-Rausch. Erst am Ende begreift die Hauptfigur (und mit ihr der Leser), daß jener Augenblick der Veränderung der Augenblick ihres eigenen Todes war. Doch da beginnt derselbe Irrsinn wieder von vorn: Der Erzähler hat plötzlich vergessen, was er eben noch wußte, und das Leben nach dem Tod wird zu einem sich ständig wiederholenden Alptraum, in dem es (wie sollte es bei einem Mörder anders sein!) von verrückten Polizisten nur so wimmelt. Mit den Worten des Autors: "Hell goes round and round". Eine beklemmende Vision ­- wie von Kafka, Orwell, Chaplin und Lewis Carroll beim gemeinsamen Umtrunk in einem irischen Pub ersonnen.

Es ist bezeichnend für den schrägen, schwarzen Humor des Musikers Django Bates, daß er sich - 50 Jahre später - von diesem ungewöhnlichen Roman zu einem seiner wichtigsten Werke inspirieren ließ. Die Suite "Music For The Third Policeman" (1990) ist eine genaue Umsetzung von literarischer Groteske in musikalische Groteske: so verzwickt, verstörend und komisch wie O'Briens verzweifelt lustiges Buch. Mit "Powder Room Collapse", einem Ensemble aus Bläsern, Streichern und Schlagzeug, das an die Instrumentierung von Strawinskys "Geschichte vom Soldaten" denken läßt, führt uns der Komponist, Pianist, Keyboarder und Tenorhornist Bates durch eine täuschend heitere, augenzwinkernd philosophische Jazz-Partitur, durchsetzt mit folkloristischen Anklängen, kammermusikalischen Verdichtungen, listig-parodistischen Anleihen bei verschiedenen musikalischen Konventionen. Da wird mit klanglichen Mitteln geschildert, wie sich einzelne Romanfiguren entwickeln. Oder es werden abstrakte Ideen in kompositorische Strukturen umgesetzt: körperliche Intimität als Unisono-Spiel und Verzicht auf Harmonien; Negation als Wiederholung im Krebsgang (wie im 2. Satz von Bergs Lulu-Suite); Wiederbeginn als Rückkehr zur Ouvertüre. Ein bunter, tragikomischer Wirbelsturm geistreicher Einfälle und komplexer Klangabläufe.

Mehrfach wurde Django Bates als der beste Jazz-Komponist Großbritanniens ausgezeichnet - und das, obwohl (oder gerade weil) er das Komponieren nie richtig gelernt hat. "Ich habe verschiedentlich Kompositions-Stunden genommen, aber was soll ein Lehrer einem Schüler anderes sagen als: Geh hin und probier's aus!" Auch das Studium am Royal College brach Bates nach wenigen Wochen ab: "Der Kurs sollte vier Jahre dauern, aber ich wollte unbedingt sofort auf der Bühne stehen: Ich wollte einfach Musik machen und nicht nur darüber reden. Außerdem war das College 1979 noch sehr konservativ. An den Klavieren hingen Zettel mit der Aufschrift: Not to be used for jazz." Was er als Komponist gelernt hat, brachte er sich selbst bei: durch die Praxis. "Ich habe einfach Ideen umgesetzt und dabei auch Fehler gemacht. Manchmal gefielen mir die Fehler, dann behielt ich sie bei. Ich gehe zu den Musikern hin und frage sie, wozu ihre Instrumente fähig sind: Das ist der einzige Weg, solche Dinge zu lernen." Aus Bates' Worten spricht auch Aufmüpfigkeit: das urdemokratische Mißtrauen gegen verfestigte Strukturen und gepachtete Weisheiten.

Anstelle des schulmäßigen Know-how besitzt Bates jedoch andere Tugenden, und sie sind es, die seine Musik originell und unverwechselbar machen: Experimentierlust, Kollektivgeist, Humor und offene Ohren für Einflüsse aller Art. "Schon meine Eltern interessierten sich für alles, was musikalisch ungewöhnlich war. Sie fuhren mit mir auf einem Motorrad mit Beiwagen quer durch Europa, und ich war mit fünf Jahren schon in Rumänien und sonstwo. Mein Vater interessierte sich besonders für die Musik der rumänischen Zigeuner. Als ich endlich einen eigenen Plattenspieler bekam, war die erste Platte, die ich hörte, ein Zulu-Chor. Aber ich mochte auch Jazz - Charlie Parker, Elmo Hope oder die südafrikanischen Musiker, die in England lebten, wie Dudu Pukwana. Erst viel später habe ich begriffen, daß das keine englische Musik war und meine Landsleute sie gar nicht kannten." Aber auch die englische Tradition hatte Anregungen zu bieten: Ohne die berühmten Brass Bands (wie man sie jüngst in dem Film "Brassin' Up" sehen und hören konnte) hätte Bates nie "sein" Blasinstrument gefunden - ein schwerfälliges Tenorhorn in Es, das er eines Tages im Schaufenster eines Ramschladens sah.

Der Jazz-Gemeinde wurde Django Bates erstmals Mitte der 80er Jahre bekannt: Damals war er einer der führenden Köpfe im Ensemble Loose Tubes, das auf europäischen Festivals mit witziger und intelligenter Performance für gute Laune sorgte und (als erste Jazz-Band) bei den BBC Proms auftrat. Mit der beschränkten Stilistik der Big-Band-Tradition hatte die 21köpfige Truppe wenig zu tun: Angeregt von "Rock, Jazz, Zirkus und Heilsarmee" (so ein Kritiker damals), waren die "Tubes" ein phantastisches Plansch- und Übungsbecken für junge Talente, ein begeisterter, respektloser, demokratischer und unorganisierter Haufen von Individualisten - und wurden sogleich für die britische New-Jazz-Bewegung reklamiert. "Als ich noch zur Schule ging", erinnert sich Bates, "fand ich nicht einen einzigen Mitschüler, der etwas über Jazz wußte, diese Musik spielen wollte oder sich auch nur dafür interessierte. Und das war immerhin eine Schule mit 2000 Schülern aus allen Teilen Londons. Aber nur wenige Jahre später gab es plötzlich lauter Gleichaltrige, die Jazz machen wollten. Die Loose Tubes waren eine Art Vorreiter dieser neuen Jazz-Welle, und als die Sache später richtig losging, hatten uns die Medien auch schon wieder vergessen."

Die "Tubes" trennten sich 1989, aber es war ein Wunder, daß das wilde Kollektiv überhaupt so lange gehalten hatte. "In einer so großen Band geht es ja nicht nur um Musik, man muß auch menschlich miteinander auskommen. Ich begreife heute noch nicht, wie das funktionieren konnte." Natürlich zögerte Bates, sich erneut in ein solches vielköpfiges Abenteuer zu stürzen, doch das Bedürfnis, die eigenen Ideen realisiert zu hören, war schließlich stärker: "Ich wollte eine Band haben, um jederzeit alles ausprobieren zu können." Also startete er 1991 seine eigene 18köpfige Big Band, und die erste Produktion entstand - kaum zufällig - für einen englischen Wanderzirkus. "Ich fühle mich Zirkusmenschen und reisenden Künstlern sehr verbunden", erklärt Bates. "Auch Jazzmusiker verbringen ihr ganzes Leben mit Reisen und Musikmachen, es ist ganz ähnlich: ein Leben auf Messers Schneide." Kein Wunder, daß er die Band Delightful Precipice nannte (etwa: Beglückende Steilwand): Gemeint war die Lust am Risiko, wie sie ein Artist überm Abgrund verspürt. "Tightrope" (Hochseil) hieß denn auch eines der ersten Stücke, die die Band aufnahm: "Da geht es nicht nur ums Trapez und die Sprünge in der Zirkuskuppel, sondern um einen insgesamt gefährlichen Lebensstil.“ Eine gehetzte Musik von kaum mehr als 1 Minute Länge, ein irrlichterndes, hektisches Ballett überm gähnenden Nichts.

Der Geist der Loose Tubes hat Bates nie mehr verlassen. Leicht verrückt, haarsträubend verzinkt, von Ironie durchzogen, um kleine, fröhliche Melodien herum gebaut, die manchmal etwas Afrikanisches an sich haben, so kommt seine Musik daher und erinnert dabei stets ein wenig an einen tanzenden, ungebändigten Stammes-Chor. "Es gibt im Jazz so viel Angst davor, Spaß zu verbreiten. Ich möchte die Leute zum Lachen bringen, aber subtiler als Spike Jones. Ich hoffe, daß die verschiedenen Elemente, die ich aufgreife, ein Ganzes ergeben, etwas vermitteln wie Optimismus, eine positive Einstellung - einfach etwas, über das man sich freut. Ich verstehe meine Musik nicht als Satire, aber viele Leute hören sie so." Verdenken kann man es ihnen nicht: Wenn Bates' Orchester in "Queen Of Puddings" einen Zirkuswalzer spielt, klingen auf raffinierte Weise alle Walzer der Welt an, vor allem die dümmsten. "Krankhaft süß, aber unwiderstehlich" - so charakterisiert der Komponist seinen Dreivierteltakt-Pudding. Oder nehmen wir seine Bearbeitung des Sinatra- und Minnelli-Hits "New York, New York": Da explodiert der falsche Broadway-Glamour, die verrückte "city that never sleeps" wird kakophonisch präsent, und man glaubt sich mittendrin zwischen Yellow Cabs und Lichtreklamen. Das ist Klangerfindung mit Risiko und ohne Regelwerk, ein Hochseilakt unter Verzicht auf Sicherheitsnetze, das unzensierte Feuer genialer Eingebung.

Django Bates ist übrigens ein vielseitiger Musiker. Er begleitet den Rock-Schlagzeuger Bill Bruford, die norwegische Folk-Jazz-Sängerin Sidsel Endresen, den Avantgarde-Saxophonisten Tim Berne. Er wirkt in Großbesetzungen von Michael Gibbs, Billy Jenkins oder George Gruntz mit, spielt Soloklavier und leitet seit Jahren ein weiteres Ensemble namens Human Chain. Doch am eigenständigsten und unwiderstehlichsten klingt sein Beitrag zum orchestralen Jazz: so persönlich, unberechenbar und frech unterhaltend, daß sich Nachwuchs-Orchester um seine Partituren reißen. Seine jüngste Veröffentlichung - erschienen 1996 auf Argo, dem englischen Renommier-Label für zeitgenössische Musik - zeigt den Komponisten Django Bates auf neuen Höhen: mit Orchesterwerken, gespielt von der London Sinfonietta, und Stücken für Streich- und Saxophonquartett. Seine volkstümliche Respektlosigkeit und seine hintergründige Musikalität beweist er aber auch in diesen "seriösen" Kompositionen. In seinen "Reiseskizzen für Blinde" etwa porträtiert das Apollo Saxophone Quartet mit raffinierter Onomatopoesie einen Kinderroller oder ein Papierschiffchen. Und das Streichquartett nimmt den Ausdruck "Pond Life" beim Wort, der despektierlich für die Orchestergeiger gebraucht wird: Es schildert in vier Sätzen das Leben in einem Fischteich.

Der trockene britische Humor - tongue in cheek - kommt dieses Mal auch verbal zum Zuge: Für das Stück "City In Euphoria" schrieb Bates einen absurd-kritischen Rezitations-Text über das Wohl der Börse und das Elend der Welt, für das CD-Booklet außerdem einen herrlich ironischen Selbstkommentar. Kleinere Kostproben dieser Art gab es früher schon - so über die Ouvertüre zu "The Third Policeman": "Diese hat denselben Zweck wie jede andere Ouvertüre, aber sie ist vermutlich kürzer." Oder über das Orchester- und Chorstück "You Can't Have Everything": "Es ist eine Hymne an die Fähigkeit, Fehler zu akzeptieren. Daher: Wenn Sie nicht singen können, murmeln Sie mit Stolz mit." So spricht nur jemand, der an das Genie in uns allen glaubt.

© 1998, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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