ÜBERSETZUNGEN
- Gilad Atzmon: Jazz ist Freiheit
- Ted Panken: James Emery. Klangphysik für ein Septett
- Wie man den Blues singt
- Wie man richtig Saxophon spielt
- William Claxton: Musiker-Anekdoten
(Wird erweitert.)
Gilad Atzmon: Jazz ist Freiheit. Der Jazz und die Politik
Als der Bebop geboren wurde, war er die Stimme des schwarzen Amerika. Die Afro-Amerikaner riefen nach der Freiheit, und der Jazz drückte das besser aus als bloße Worte. Charlie "Bird" Parker spielte "Now's the Time" – darauf beharrend, dass die Zeit reif war für einen gesellschaftlichen Wandel. Charles Mingus komponierte "Fables of Faubus" (1959) – eine Antwort auf das rassistische Verhalten von Orville Faubus, dem Gouverneur von Arkansas, das bekannt wurde als der Vorfall an der Little Rock High School. John Coltrane nahm "Alabama" auf – nach dem Bombenanschlag auf eine Baptistenkirche in Birmingham (Alabama), bei dem vier schwarze Mädchen kaltblütig ermordet wurden. Als Martin Luther King seine Kampagne für die Bürgerrechte begann, stand die amerikanische Jazz-Gemeinde – ob weiß oder schwarz – in geschlossener Formation hinter ihm.
Der Jazz hatte die Freiheit nicht nur zum Ziel, die Musik selbst war eine Echtzeit-Übung in menschlicher Befreiung: Jazzmusiker erfanden sich Abend für Abend neu. Da es im Jazz, seinem eigentlichen Wesen nach, darum geht, die eigenen Grenzen zu erweitern, überraschte es wenig, dass John Coltrane zum Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wurde. Coltranes Musik war rhythmisch, melodisch und spirituell tief in der afrikanischen Kultur verwurzelt. Aber Coltrane gelang es auch, eine authentische persönliche Stimme zu entwickeln. Er steckte ganz in einem innovativen Prozess der Selbst-Erfindung, dessen Ergebnis ein revolutionärer Sound war. Dies machte ihn zu einer Heldengestalt der Bürgerrechtsbewegung in Amerika und weltweit. Coltrane selbst – das sollte man erwähnen – hielt sich nie für einen poliitschen Menschen, und doch führte sein Werk Millionen von Menschen zu einem sozialen Bewusstsein. Das ist wahrscheinlich die Macht eines großen Künstlers: eine alternative Vision zu präsentieren, ohne das überhaupt gewollt zu haben.
Doch es dauerte nicht lang, bis die weiße amerikanische Elite kapierte, dass ihre Führungsrolle vom Jazz bedroht wurde. Sie war schlau genug zu begreifen, dass Jazz und Amerika zwei gegensätzliche Ideologien vertreten. Während das amerikanische Ethos traditionell die bürgerliche Freiheit feiert, offenbarte der Jazz, wie er in den späten fünfziger Jahren auftrat, doch einige entscheidende Mängel im amerikanischen Traum. Jazz war sowohl politischer Protest als auch eine radikal andere Art des Denkens. Er legte die grundsätzliche Ungerechtigkeit frei, die ins kapitalistische System eingebunden ist, aber darüber hinaus bewertete er die Kunst höher als das Leben. Auf ihrer Sisyphos-haften Suche nach neuen ästhetischen Formen entwickelten viele Jazzmusiker tödlich-exzessive Formen von Drogensucht. Viele von ihnen wurden keine 50 Jahre alt. Eine solche Bewunderung der Kunst – in Europa geläufig – war der amerikanischen Art zu denken völlig fremd. In Amerika wird – damals wie heute – alles in Kategorien des Marktes gemessen. In Amerika wird Schönheit reduziert zur Mode; denn sobald es sich um eine Ware handelt, kann etwas mit einem Marktwert versehen werden. Wie wir alle wissen, ging es im Bebop nicht um einen kommerziellen Wert. Der Bebop schaffte es nie in die amerikanischen Popcharts. Die Jazzmusiker der 50er- und 60er-Jahre waren zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, um sich mit Fragen des Wohlstands zu befassen. Es war wenig Geld im Spiel – und das wenige fand selten seinen Weg zu den Musikern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Jazz in Westeuropa höchst populär: Jazz-Giganten wie Bird, Dizzy, Miles und Dexter Gordon wurden in Europas Hauptstädten als bedeutende Kulturikonen wahrgenommen. Verrückterweise mussten in Amerika dieselben lebenden Legenden die Jazzclubs durch die Hintereingänge betreten, weil die Eingänge auf der Frontseite für die weißen Besucher reserviert waren. Folgerichtig wurde Jazz der kulturelle Botschafter der Bürgerrechtsbewegung – ein höchst peinlicher Umstand für das US-Establishment, das sich ja bereits als Anführer der „freien“ und „demokratischen“ Welt präsentierte. Da es damals Amerikas Hauptanliegen war, den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass Coca-Cola der einzig mögliche Fortschritt in die Zukunft sei, stand Jazz eindeutig im Weg. Der Jazz war anti-amerikanisch. Er vermittelte die unterdrückte Wirklichkeit eines anderen Amerika, er legte das erbarmungslose, beleidigende Gesicht des harten Kapitalismus bloß.
Für die weißen Bürgerschichten Amerikas wurde Jazz zum Problemfall und verlangte nach einer Lösung. In anderen Worten: Die politische und philosophische Botschaft des Jazz sollte zerquetscht werden. Der beste Weg, einen ärgerlichen Rivalen auszuschalten, ist es, ihn ins eigene System zu integrieren. Diesem hoch raffinierten Manöver zufolge wurde Jazz zur offiziellen „Stimme Amerikas“, die schwarzen Amerikaner wurden schlicht Amerikaner. Sofort hörte der Jazz auf, eine subversive Musik zu sein. Selbstverständlich dauerte es nicht lange, bis schwarze Amerikaner auch die Qualifikation erlangten, um massenhaft in Vietnam zu sterben.
Bald nach ihrer angeblichen „Befreiung“ verloren die schwarzen Amerikaner das Interesse an ihrer eigenen revolutionären Musik. Jazz war nicht mehr der Ruf der Schwarzen nach Freiheit, sondern wurde ein Abenteuer der weißen Mittelklasse. Dieser radikale Wandel machte aus der lebendigen, authentischen und sozial motivierten Kunstform Jazz ein westlich-akademisches Erlebnis. In den siebziger Jahren starteten immer mehr Colleges Jazzkurse, als ob Jazz ein Wissensstoff wäre (und nicht eine Geisteshaltung). Jazz war nicht länger eine Reise ins Erhabene, sondern wurde stattdessen eine „weiße“ Leibesübung. Die neue Herausforderung im Jazz bestand darin, so schnell wie möglich zu spielen. In den späten siebziger Jahren meisterte man diese Herausforderung und Jazz wurde zu einer Art bedeutungslosem weißen Geräusch. Die melodische Sensation war aufgebraucht. Aus dem Swing wurden endlose polyrhythmische Übungen. Der amerikanische Jazz war kurz davor, für tot erklärt zu werden. Nur noch wenige Menschen waren so freundlich oder so geduldig, einem langwierigen algorithmischen Musiktraining zuzuhören. Jazz wurde eine verschwindende, marginale Musikform – doch dann geschah ein Wunder. Die führenden Entscheidungsträger der immer weiter wachsenden Musikindustrie erfanden eine neue Herausforderung für den Jazz. Anstatt so schnell wie möglich zu spielen, schlugen sie vor, von nun an so viel wie möglich zu verkaufen.
Heute befinden wir uns am Höhepunkt dieser kommerziellen Phase. Immer mal wieder erfahren wir aus der Tagespresse, dass ein frisch geborener Jazzkünstler gerade einen Multimillionen-Plattenvertrag mit einem der Major-Plattenriesen unterzeichnet hat. Es sollte klar sein, dass Jazz, solange er ein Werkzeug in den Händen der Industriemonopole ist, niemals irgendeine ernsthafte Sozialkritik hervorbringen wird. Die Musikindustrie zielt wie jede andere Industrie darauf ab, Geld zu akkumulieren – und das geht am besten, wenn man die Weltordnung aufrecht erhält, wie sie ist. Traurigerweise ist Jazz keine subversive Kunstform mehr; schlimmer noch: Er ist nicht mal mehr als Leibesübung eine Herausforderung. Er ist lediglich noch ein marginales Genre, mit dem die breite Öffentlichkeit Easy-Listening-Hintergrundmusik à la Kenny G. und Norah Jones verbindet. Es ist wichtig zu erwähnen, dass einige der Modern-Jazz-Veteranen der ersten und zweiten Generation noch unter uns weilen und so gut spielen wie immer. Es ist auch entscheidend festzustellen, dass viele junge, viel versprechende Talente Schlange stehen, um die schrumpfende Jazzszene zu betreten. Doch weder die Veteranen noch die Youngsters engagieren sich für irgendeine soziale Botschaft. Jazz ist noch immer etabliert genug, um den hinteren Bezirk im zweiten Stock eines mehrstöckigen CD-Geschäfts zu besetzen. Er passt hübsch in die amerikanisch bestimmte Philosophie vom globalisierten Markt. Vom expandierenden Musikmarkt vermittelt er uns ein Bild der Vielfalt – reich an Sounds und Farben. Im Laden werden sie dir sagen: „Was immer du willst, wir haben es!“ Und sie haben Recht: Coltranes revolutionäres Album „A Love Supreme“ kannst du jetzt für gerade mal 11,99 Euro in fast jedem Plattenladen kaufen. Was für ein Schnäppchen! Was für ein tolles Weihnachtsgeschenk! Vor langer Zeit musste man jahrelang danach suchen, aber dann hatte man vielleicht auch einen guten Grund, hinzusitzen und es tagelang anzuhören. Ich würde behaupten, dass unser eifriger Big Brother schon fast gewonnen hat. Die spirituelle und politische Botschaft des Jazz ist nahezu besiegt.
Das ist genau der Punkt, wo ich versuche mich einzumischen. Obwohl ein gelernter Bopper, weigere ich mich, Jazz als technisches Abenteuer zu sehen. Es geht nicht um die Geschwindigkeit, mit der ich meine Finger bewege, oder die Komplexität meiner Rhythmusfiguren. Ich bestehe darauf, dass Jazz kein Wissensstoff ist, sondern eine Geisteshaltung. Jazz ist eine Weltsicht, eine innovative Form des Widerstands. Für mich persönlich bedeutet Jazz zu spielen, die Weltordnung von BBS (Bush, Blair, Scharon) zu bekämpfen. Jazz zu spielen heißt, zu einer Befreiung hinzustreben, wohl wissend, dass man vielleicht nie dorthin gelangen wird. Jazz zu spielen heißt, den neuen amerikanischen Kolonialismus zu bekämpfen. Jazz zu spielen heißt, zu sagen, woran ich glaube, mich einzusetzen für meine palästinensischen und irakischen Brüder. Jazz zu spielen heißt, eine alternative Wirklichkeit vorzuschlagen, mich neu zu erfinden und bereit zu sein, dies bis zum bitteren Ende immer weiter zu tun.
Text: Gilad Atzmon
Übersetzung: Hans-Jürgen Schaal
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Ted Panken: James Emery. Klangphysik für ein Septett
Bekannt wurde Gitarrist James Emery durch seine mittlerweile 20jährige Mitwirkung im String Trio of New York (mit Bassist John Lindberg und einer Reihe erstklassiger Violinisten: Billy Bang, Charles Burnham, Regina Carter, Diane Monroe), durch die Zusammenarbeit mit Leuten wie Anthony Braxton, Leroy Jenkins und Leo Smith sowie durch eine umfassende Tätigkeit als Solo-Gitarrist. In all den Jahren hat er als Improvisator und Komponist eine unverwechselbare Stimme entwickelt - technisch perfekt und grenzenlos phantasievoll.
Beide Qualitäten kommen auch auf "Spectral Domains", seiner zweiten CD für ENJA, reichlich zur Geltung. Es ist Musik für sieben Spitzenmusiker an 11 Instrumenten, komponiert in den Jahren 1995 und 1996 mithilfe eines Stipendiums der Guggenheim Fellowship. "Nach all den Jahren, in denen ich für eine so spröde Besetzung wie das String Trio komponiert habe und ihr soviele Klangfarben wie möglich abtrotzte, fühlte ich mich jetzt wie ein Kind im Bonbonladen", sagt Emery mit einem Lachen. Diese Musik strotzt vor Kreativität, bietet überraschende Instrumenten-Kombinationen, poetische Klangfarben, frappierende Zusammenklänge, dynamische Rhythmen, virtuose Improvisation. Dieser Sound ist Emery pur.
Neue Wege auf dem Griffbrett: "Bird war wie ein Schock"
Aufgewachsen in Cleveland, begann Emery mit 6 Jahren Orgel zu spielen und wechselte mit 10 zur Gitarre. Ein Jahr später fing er an, bei Ann Stanley Unterricht zu nehmen, einer Violinistin des Cleveland Orchestra (unter George Szell), die auch klassische Gitarre spielte. "Sie lehrte mich nicht nur das Gitarrenspiel, sondern Musik überhaupt", erinnert sich Emery, "Harmonielehre, Theorie, wie Rhythmen funktionieren. Das war ein sehr gründlicher Unterricht. Als ich dann mit 17 Charlie Parkers Musik entdeckte, konnte ich sie in ihre Bestandteile zerlegen, sie für mich musikalisch-theoretisch bestimmen und das dann auf die Gitarre übertragen. Später verfuhr ich genauso mit Ornettes Musik, mit Coltrane, Braxton, der AACM und allen anderen. Ich rede jetzt nicht von der Emotionalität dieser Musik, sondern nur vom technischen Kern: Das zu können ist unschätzbar. Wenn man Bird und Monk und Bud Powell verarbeitet, führt einen das einfach an ein paar andere Stellen auf dem Griffbrett."
Als Teenager spielte Emery an den Wochenenden mit Rockbands, dann tauchte er in den Blues: "Da machte das Spielen mehr Spaß, da war mehr Raum für improvisierte Ausflüge." Später begann er in einem Gitarrenladen zu unterrichten; er gehörte Bill DeArango, einem virtuosen Gitarristen, der in den 40er Jahren mit Parker und Gillespie gespielt und aufgenommen hatte. DeArango riet dem begabten Neuling, Lester Young zu studieren, um im Blues einen vielfältigeren Ausdruck zu entwickeln. "Für mich war das ein ganz neuer Zugang zum Blues - und das Ende der 60er Jahre!" betont Emery. "Lester benützte viel mehr Noten, Noten jenseits der pentatonischen Basis-Skala; wo er die Noten setzte, wie er sie zum Swingen brachte und sein Sinn für Räume - das war alles neu für mich. Prez führte mich zu Bird, und Bird war ein Schock: Die Musik war viel schneller, der Energie-Level viel höher. Bird eröffnete der Musik eine andere Rhythmuswelt. Und das umschloß alles: eine unglaubliche Time, chromatische Melodik, Apoggiaturi, Schmuckphrasen, erweiterte Harmonien, Akkord-Substituierungen. Auf jedem Gebiet - außer der Form - war Bird innovativ, aber die vorhandenen Formen genügten ihm völlig."
Auf seiner weiteren Suche stieß der unermüdliche Jung-Gitarrist dann auch auf Form-Erneuerer wie Ornette Coleman, John Coltrane, Miles Davis, Cecil Taylor. "Wie Ornette seine Melodien baute und sie 'orchestrierte', das zog mich an. Es zeichnet einen guten Komponisten aus, daß er ein paar gute Einfälle hat, die er ständig weiter verarbeitet und dabei doch in ihrer Gestalt bewahrt - im ganzen Stück. Und als Bläser befreite Ornette die Musik von der Diktatur des Taktstrichs: So sagte man damals. Später hörte ich dann Roscoe Mitchells 'Sound' und Anthony Braxtons 'Three Compositions of New Jazz', die in mir einiges zum Vibrieren brachten. Ich wußte, daß ich da mitmachen wollte und daß ich deshalb nach New York gehen mußte. Zunächst zog ich in die Fünf-College-Gegend im Norden von Massachusetts, spielte in einer Avantgarde-Band und fing an, Bartok, Boulez, Schönberg, Webern und Berg zu hören. Ich nützte jede Möglichkeit, um nach New York zu fahren und die Szene dort zu erkunden, und 1973 zog ich schließlich dorthin."
New York City 1973: "Die Musik explodierte"
Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, wie es in New York City vor 25 Jahren zuging. Ein Strom von improvisierenden Musikern aller stilistischen Richtungen zog aus Chicago, St.Louis, Kalifornien und anderen Gegenden in die Stadt, um sich hier Gehör zu verschaffen. Der Violinist Leroy Jenkins (er war 1971 aus Chicago gekommen) half Emery, sich in die Szene zu mischen. "Leroy hatte in 'Village Voice' inseriert, daß er Studenten suche, und ich meldete mich bei ihm", erinnert sich Emery. "Der Unterricht lief praktisch darauf hinaus, daß wir seine Musik spielten und darüber diskutierten. Es gefiel ihm, daß ich mich bereits mit Roscoe und Braxton beschäftigte. Leroy besorgte mir eine Wohnung direkt über seiner eigenen, und ich konnte verfolgen, wie das Revolutionary Ensemble arbeitete. Er verschaffte mir meine erste Plattensession, 'For Players Only', durch die dann andere Leute auf die Idee kamen, mit mir aufzunehmen. Ich arbeitete mit Kalaparusha, unterrichtete im Creative Music Studio, begann ins 'La Mama' zu gehen und kam in Kontakt mit dem Human Arts Ensemble - Bobo Shaw, Joe Bowie, Luther Thomas und John Lindberg. 1977 bildeten John und ich dann das String Trio of New York."
Wie empfand er die Situation damals? "New York erfüllte alle meine Erwartungen. Die Musik schien über alle Grenzen hinweg zu explodieren. Jeder spielte mit jedem. Es ging darum, wer du bist, was du auf deinem Instrument Individuelles zu sagen hast - und nicht darum, ob du eine bestimmte Akkordfolge hinkriegst oder irgendwelche Musik der Vergangenheit spielen kannst. Man war kreativ und wollte Neues entdecken. Wie sagte Cecil Taylor: Du kannst aus jeder Art von Musik etwas herausziehen, um deine Ausdrucksmöglichkeiten zu verbessern, und es zu einem Teil deiner selbst machen."
Genau das tut Emery auf seiner neuen CD "Spectral Domains". Jeder der bisher Erwähnten hat irgendwo Spuren in Emerys Musik hinterlassen, aber das Klang-Universum ist ganz sein eigenes. Die wichtigste Komponente darin ist die Meisterschaft auf der unverstärkten Gitarre. "Ich denke, auf der akustischen Gitarre kann ich am besten umsetzen, worum es mir geht", sagt er. "Die Formen und Figuren, die ich spielen möchte, kommen auf der Akustischen besser zum Tragen. Ich sehe die Gitarre als eine Art Mittelding zwischen Klavier und Blasinstrument - und im tiefen Register mehr wie einen Baß. In den sanfteren Bereichen bietet sie zudem eine Bandbreite an Dynamik, die man auf der Elektrischen kaum erreicht. Ich fing auf der akustischen Gitarre an, und ich werde wohl auch bei ihr enden."
Visionen fürs Septett: "Die Musik vom Papier lösen"
Emerys Gefährten auf der neuen CD bilden ein Who-is-Who der offenen Improvisation: Musiker wie Marty Ehrlich oder Mark Feldman verbinden höchsten Standard mit größter Einfühlung. Ohne sie, betont Emery, hätte er diese Musik nicht schreiben können. "Ich wußte, daß ich sie herausfordern konnte, indem ich mir beim Schreiben einfach keine Grenzen setze. Um diese Musik zu spielen, muß man ein guter Notenleser sein, Musik sehr exakt ausführen können und als Improvisator in verschiedenen Bereichen etwas zu sagen haben. Wie Duke Ellington vor langer Zeit mal meinte: Der Musiker der Zukunft wird ein Bein in der Universität haben und eines auf der Straße."
Das ereignisreiche Eröffnungsstück, "Red Spaces In A Blue Field", wird vom kompletten Ensemble gespielt. Emerys Kommentar: "In 'Part One' verwende ich vier oder fünf Motive, die immer wieder auseinandergeschnitten und neu zusammengeklebt werden und im Lauf des Stücks länger und länger werden. Ich arbeite mit wechselnden Taktarten, Kontrapunkt, Stretto-Einsätzen, Tempowechseln, verschiedenen Improvisationsformen. Mich faszinieren die Übergänge zwischen Komposition und Improvisation, wenn die Grenzen verwischen: Improvisierte Teile klingen wie komponiert, und geschriebenes Material klingt wie improvisiert. Es wirkt nicht steif, nicht als ob es vom Blatt gespielt würde. Wir lösen sozusagen die Musik wieder vom Papier. Bei 'Part Two' handelt es sich um einen 40taktigen Chorus mit einer 16taktigen Bridge, und es gibt Einflüsse von Monk, Mingus und Ellington." Dazu paßt das nächste Stück, Charles Mingus' lyrisch-mysteriöses "Far Wells, Mill Valley", das Emery nuanciert fürs Ensemble bearbeitet hat. "Mingus schrieb als einer der ersten solche Kompositionen, die an einem Punkt beginnen und ganz woanders enden - was sich die Jungs der AACM und moderne Komponisten zu Herzen genommen haben", merkt Emery an. "Mingus ließ in diesem Stück seiner Erfindungsgabe die Zügel schießen und komponierte eine Menge ganz unterschiedlicher Abschnitte." Dasselbe macht Emery - und kreiert zum Beispiel eine großartige Duo-Passage für Marty Ehrlichs Flöte und Mark Feldmans Violine.
In Thelonious Monks knorrigem "Trinkle Tinkle", für ein Quartett arrangiert, tritt Emerys Gitarre mehr in den Vordergrund: Das Stück gehört zu einer ganzen Serie von Monk-Nummern, die Emery - unter Verwendung von Monks Phrasierung und Akkordik - für die Gitarre adaptiert hat. In Ornette Colemans "Kathelin Gray" (im Duo mit Chris Speeds Klarinette) hat Emery die Melodie für die Gitarre harmonisiert. Im Solo-Stück "Cosmology", "im Mittelteil lose auf einer Akkordfolge aufbauend", entfesselt Emery - von Ensemble-Rücksichten befreit - seine wildesten Spieltechniken. "Das Schöne am Solospiel ist, daß du dich mit niemandem absprechen mußt. Du kannst wirklich tun, wozu du Lust hast" - so Emery, der auf die Erfahrung von Hunderten von Solo-Auftritten zurückblickt.
Ein ganz besonderes Stück ist auch die Septett-Nummer "Sound Action Seven": eine 'tour de force' durch die Welt der Klangfarbe, inspiriert von Emerys AACM-Erfahrungen. Dazu der Komponist: "Das Stück ist sowohl mit herkömmlichen und wie mit neuartigen Techniken notiert. Jeder Spieler bekommt eine Partitur des Ganzen und einen Schlüssel für die Notations-Symbole, und es gibt auch Abschnitte, in denen Klangaktionen in Worten beschrieben sind. Ich habe bei Braxton und Leo Smith erlebt, auf welche Weise sie von ihren Ensembles die gewünschten Ergebnisse bekommen, und ich habe diese Methoden auf meine eigene Weise angewendet. Solche Musik zu spielen reizt mich unheimlich, weil du alle deine Fähigkeiten einbringen kannst. Alles paßt dazu."
James Emerys Spielkonzepte bewegen sich auf höchstem Niveau. Dahinter steht eine Musik, die nie unter theoretischem Ballast leidet, sondern auch die außergewöhnlichsten Formteile in ein überzeugendes Ganzes einbindet. "Spectral Domains" (Spektralfelder) ist ein passender Titel für eine Musik, die aus einem mutigen Geist kommt und immer weiter hinaus in die Sphären greift.
Text: Ted Panken (WKCR-FM, New York City)
Übersetzung: Hans-Jürgen Schaal
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Wie man den Blues singt
Eine Anleitung
Die meisten Blues beginnen mit: „Woke up this morning...“. Dagegen ist „I got a good woman“ ein schlechter Anfang für einen Blues, es sei denn, Sie packen etwas Hässliches in die nächste Zeile, etwa: „I got a good woman with the meanest face in town.“
Blues ist einfach. Wenn Sie die erste Zeile hingekriegt haben, wiederholen Sie sie einfach. Dann suchen Sie etwas, das sich darauf reimt, etwa so: „I got a good woman with the meanest face in town. I got a good woman with the meanest face in town. Got teeth like Margaret Thatcher, and she weigh 500 pound.“
Der Blues lässt Ihnen keine Wahl. Wenn du in der Scheiße bist, bist du in der Scheiße. Es gibt keinen Ausweg.
Blues-Autos sind Chevys, Fords, Cadillacs und kaputte Lastwagen. Der Blues reist nicht im Volvo oder BMW. Die meisten Blues-Transporte geschehen mit einem Greyhound-Bus oder in einem Zug nach Süden. Düsenjets oder staatlich subventionierte Fahrgemeinschaften können sich nicht qualifizieren. Dafür spielt das Gehen eine wichtige Rolle im Lebensstil des Blues. Ebenso das Sterbenwollen.
Teenager können keinen Blues singen, denn sie wollen noch nicht sterben. Erwachsene singen den Blues. Im Blues bedeutet Erwachsensein, dass man alt genug ist, um auf den elektrischen Stuhl zu kommen, wenn man in Memphis einen Mann erschossen hat.
Der Blues passt nach New York City, aber nicht nach Hawaii oder irgendwo in Kanada. Schwere Zeiten in Minneapolis oder Seattle sind wahrscheinlich bloß eine Neigung zur Depression. Dagegen sind Chicago, St. Louis und Kansas City noch immer gute Orte, um den Blues zu haben. Sie können ihn aber nirgendwo kriegen, wo es nie regnet.
Ein Mann mit einer typischen Männerglatze ist noch nicht der Blues. Eine Frau mit einer Männerglatze durchaus. Wenn Sie sich beim Skifahren das Bein brechen, ist das nicht der Blues. Brechen Sie es sich, weil ein Alligator daran gekaut hat, dann schon. In einem Büro oder im Einkaufszentrum können Sie nicht den Blues haben. Die Beleuchtung stimmt nicht. Gehen Sie raus auf den Parkplatz oder setzen Sie sich neben den Müllcontainer.
Gute Orte für den Blues sind: der Highway, das Gefängnis, ein leeres Bett, der Boden des Whiskeyglases. Schlechte Orte für den Blues: Luxuskaufhäuser, Vernissagen, Elite-Universitäten, Golfplätze.
Keiner wird Ihnen Ihren Blues glauben, solange Sie einen Anzug tragen. Es sei denn, Sie sind ein alter Schwarzer und haben drin geschlafen.
Haben Sie das Recht, den Blues zu singen? Ja, wenn Sie älter sind als der Staub oder blind oder wenn Sie einen Mann in Memphis erschossen haben oder einfach nie glücklich werden können. Nein, wenn Sie noch alle Ihre Zähne haben, wenn Sie mal blind waren, aber jetzt wieder sehen können, wenn der Mann in Memphis überlebt hat oder wenn Sie eine Rentenversicherung oder anderes Vermögen besitzen.
Blues ist keine Frage der Hautfarbe. Er ist eine Frage des Unglücks. Tiger Woods kann nicht den Blues singen. Sonny Liston könnte es. Hässliche Weiße hätten auch einen Grund.
Wenn Sie um Wasser bitten und Ihre Liebste gibt Ihnen Benzin, ist das der Blues. Andere akzeptable Blues-Getränke sind: billiger Wein, Whiskey oder Bourbon, schmutziges Wasser und ekliger schwarzer Kaffee. Die folgenden sind keine Blues-Getränke: Perrier, Chardonnay, Apfelschorle, Slim Fast.
Wenn der Tod in einem billigen Hotel eintritt oder in einem Gewehrschuppen, ist es ein Blues-Tod. Von einer eifersüchtigen Geliebten von hinten erstochen zu werden, das ist auch okay. Ebenso der elektrische Stuhl, Drogenmissbrauch oder das einsame Sterben auf einem kaputten Feldbett. Sie können keinen Blues-Tod haben, wenn Sie bei einer Partie Tennis sterben oder während einer Fettabsaugung.
Einige Blues-Namen für Frauen: Sadie, Big Mama, Bessie, Fat River Dumpling. Einige Blues-Namen für Männer: Joe, Willie, Little Willie, Big Willie. Personen, die Namen tragen wie Amber, Jennifer, Tiffany, Debbie oder Heather, können keinen Blues singen, gleichgültig wie viele Männer sie in Memphis erschossen haben.
Basteln Sie sich Ihre eigene Starter-Ausrüstung für Blues-Namen. Nehmen Sie den Namen einer körperlichen Beeinträchtigung (Blind, Cripple, Lame usw.), einen Vornamen (siehe oben) oder den Namen einer Frucht (Lemon, Lime usw.) sowie den Nachnamen eines US-Präsidenten (Jefferson, Johnson, Fillmore usw.). Beispiele: Blind Lime Jefferson, Jackleg Lemon Johnson, Deaf Willie Clinton usw.
Wie tragisch Ihr Leben auch sein mag: Wenn Sie einen eigenen Computer haben, können Sie nicht den Blues singen.
Aus dem Internet (Verfasser unbekannt)
Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Jürgen Schaal
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Wie man richtig Saxophon spielt
Die Insider-Tipps
Das Wichtigste zuerst: Wenn du ein Weißer bist, brauchst du einen blöden Hut, je blöder, desto besser, am besten ein Barett. Eine Sonnenbrille muss nicht sein, aber alle wirklich guten Spieler tragen eine, vor allem in geschlossenen Räumen. Außerdem brauchst du ein paar Bühnen-Shirts. Hawaiihemden sind geeignet, aber zur Not geht auch alles andere mit einem knalligen Blumenmuster, ebenso T-Shirts von verschiedenen Jazzclubs und Festivals. Das Gute an letzteren ist, dass man sie per Mail-Order kriegen kann und sich nicht die Mühe machen muss, dafür tatsächlich Live-Musik zu sehen und zu hören. Und Sandalen sind ein absolutes Muss, auch im Winter.
Sobald du die richtige Kleidung zusammengetragen hast, kannst du anfangen zu üben. Eines der wichtigsten Dinge beim Spielen ist, dass man dem Publikum Emotionen vermitteln kann. Dies tust du durch wechselnden Gesichtsausdruck. Die beiden Emotionen, die du vermitteln musst, sind (1) Verzückung bzw. Ekstase und (2) Seelenschmerz und Traurigkeit (d.h., den Blues). Für den Anfang mag es hilfreich sein, wenn du dir dafür eine Seite aus einem Lehrbuch für Schauspieler ausleihst. Um zum Beispiel Verzückung zu vermitteln, versuch dir etwas Nettes vorzustellen – etwa Hundewelpen oder dass dir Uma Thurman einen bläst, während Phil Barone dich mit Hot Dogs an Trüffelsauce füttert. Um den „Blues“ rüberzubringen, versuche an etwas echt Entsetzliches zu denken – wie eine Magenkolik oder Alec Baldwin. Du solltest deinen Gesichtsausdruck mindestens zwei Stunden pro Tag vor dem Spiegel üben. Du magst dich anfangs ein bisschen blöd dabei fühlen, aber du wirst nie die Mädels kriegen, wenn du auf der Bühne nicht wie ein Affe herumhopst und dabei dein Gesicht verzerrst, als würde ein tollwütiger Marder an deiner Bauchspeicheldrüse nagen. Und, das muss ich unterstreichen, die Mädels zu kriegen, das ist es, worum es in der Musik wirklich geht.
Als Nächstes brauchst du die richtige Blattschraube. Manche Leute glauben, die Blattschraube sei nur ein blödes, altes Stück Metall, das das Blättchen am Mundstück festhält. Na ja, diese Leute haben keine Ahnung. Neben deinem Barett ist die Blattschraube das allerwichtigste Stück musikalischer Ausrüstung, das du je kaufen wirst. Meine zum Beispiel besteht zu 40 % aus Platin und zu 60 % aus Titan; eine der Schrauben ist aus Rubidium, die andere aus Plutonium. Dadurch klinge ich exakt wie Booker Ervin, wenn Booker Ervin (1) nicht tot wäre und/oder (2) auf dem Mars lebte. Du wirst vielleicht Jahre um Jahre und Tausende von Dollars darauf verwenden, die richtige Blattschraube zu finden, aber am Ende wird es das definitiv wert gewesen sein.
Nun zu den Blättchen. Optimalerweise solltest du nach Kuba ziehen, dein eigenes Rohrholz anbauen und trocknen und deine Blättchen mit der Hand schnitzen. Wenn du allerdings nur ein Wochenend-Revolutionär bist, kommst du auch zurecht, wenn du sie im Laden besorgst. Kauf zuerst zehn Schachteln Blättchen, also 100 Stück im Ganzen. Dann öffne alle Schachteln und wirf 60 Blättchen weg. Die waren unspielbar. Nimm die verbleibenden Blättchen und lege sie 17 Wochen lang in eine Mixtur aus 27,8 % Spiritus und 72,2 % Hirnanhangdrüsensekret. Dann wirf 20 weitere Blättchen weg. Die waren holzig. Nimm die restlichen 20 Stück und schmirgle jedes einzelne exakt 13 Sekunden lang mit 3M-Sandpapier, Stärke 1200. Dann wirf 14 Blättchen weg. Die quietschten. Nimm die verbleibenden 6 Blättchen und lege sie für weitere 17 Wochen in eine Mixtur aus 27,8 % Hirnanhangdrüsensekret und 72,2 % Spiritus. Trockne die 6 Blättchen dann drei Wochen lang an der Sonne, am besten in äquatorialen Breiten, und wirf 3 weitere davon weg, einfach aus Prinzip. Nun hast du 3 Blättchen, die dir mehrere Monate lang reichen werden, wenn du jedes nur 20 Minuten am Tag spielst, nach strengem Rotationsprinzip.
Jetzt sagst du, du hättest dir gerade ein Instrument gekauft. Obwohl du nicht sagst, was für eines, würde ich es sofort wieder verkaufen und ein anderes besorgen. Das beste, das du kriegen kannst, ist ein Selmer Mark VI, hergestellt um 16:27 Uhr am 14. Juni 1963, Seriennummer 635543. Falls du dieses jedoch nicht bekommen kannst, gilt grundsätzlich: Je älter und teurer, desto besser. Die folgenden Marken sind gut: Selmer Paris Mark VI. Die folgenden Marken taugen nichts: jedes andere Selmer, Yamaha, Conn, Buescher, Yanigasawa, Cannonball, LA, Jupiter, Elkhart, King, Martin, Keilwerth, Boosey and Hawkes, Couf, Silvertone und Holton. Auf gar keinen Fall solltest du das Instrument ausprobieren, bevor du es kaufst. Geh streng nach Ansehen und Preis.
Du wirst außerdem einiges an Zubehör brauchen: einen Flugkoffer, der einen atmosphärischen Druck von dP = -Dg x dz aushalten kann, wobei D und g die Luftdichte bzw. die Beschleunigung in Bezug auf die Schwerkraft je nach Flughöhe bezeichnen und dz eine horizontale Luftschicht mit geschlossener Oberfläche und unendlicher Dicke ist; sodann ein Metronom; ein Stimmgerät; einen kombinierten Alt-/Tenor-/Baritonsax-Ständer mit Zapfen für Oboe, Bassklarinette, Flöte, Englischhorn und Fagott; ein Band-in-the-Box; jede Jamie-Aebersold-Mitspielplatte, die je gemacht wurde; ein Blättchenmesser; Tücher, Reinigungsmittel, Pad Saver, Polstermaterial, Polsterklemmen; ein drahtloses Mikrofon, Sennheiser Digital 1092; ein Effektgerät mit digitaler Verzögerung und parametrischem EQ; einen 200-Watt-Verstärker (pro Kanal, mindestens!) und einen 18-Zoll-Monitor.
Es wird dir helfen, wenn du Saxophonisten viel zuhörst. Leider ist es das absolut Schlechteste, was du tun kannst, wenn du nur Spieler hörst, die du magst. Um die Musik und ihre Traditionen wirklich zu verstehen, musst du zum Anfang zurückgehen und dir jeden Fetzen Musik anhören, der je aufgenommen wurde. Ich würde bei Madrigalen beginnen und mich dann voranarbeiten. Wenn du erst mal im 20. Jahrhundert angekommen bist, achte besonders auf Spieler wie Jimmy Dorsey, Sidney Bechet und Al Gallodoro, die die Grundlagen des modernen Jazz-Saxophons sind. In Null-Komma-nichts oder im Jahr 2034 – je nachdem, was früher kommt – wirst du fähig sein, die einzigartigen Bebop-Stilistiken von Musikern wie Ace Cannon, Boots Randolph und Sam Butera zu verstehen.
Um schließlich das Saxophon selbst zu spielen, blase in das schmalere Ende hinein und bewege deine Finger dabei.
Aus dem Internet (Verfasser unbekannt)
Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Jürgen Schaal
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William Claxton: Musiker-Anekdoten
RAY CHARLES, HOLLYWOOD 1962
Einmal in den frühen Morgenstunden wurde eine Kaffeepause eingelegt, damit sich die riesige Band und die Raylettes (Ray Charles' begleitende Gesangsgruppe) ausruhen konnten. Plötzlich wurde mir klar, daß nur zwei Leute in dem stillen, leeren Studio geblieben waren: Ray Charles und ich. Ich ging zu ihm hin, er nahm meinen Arm und bat mich, ihn zur Harfe zu führen. Wir gingen also zur Harfe, er tastete sie überall ab und sagte: "Ich habe nie zuvor eine Harfe aus der Nähe gesehen." Dann gingen wir weiter zur Pauke, und er tastete auch sie ab; dann die Waldhörner und so weiter. Es war ein sehr schönes Erlebnis.
THELONIOUS MONK, SAN FRANCISCO 1961
Orrin Keepnews, der Produzent von Riverside Records, engagierte mich, um in San Francisco Thelonious Monk für das Cover seiner neuen Platte zu fotografieren, die dort aufgenommen werden sollte. Orrin meinte: "Vielleicht kannst du Monk auf einem dieser niedlichen Cable Cars fotografieren oder mit irgendwas anderem, das für San Francisco typisch ist." Dann warnte er mich noch, daß Monk für Fotografen und ihre Vorschläge nicht immer aufgeschlossen sei.
Pünktlich zur verabredeten Stunde holten meine Frau Peggy und ich Monk in seinem Hotel ab. Soweit klappte alles. Ich spürte, daß Monk ein bißchen brummig war; schließlich ist drei Uhr nachmittags für jeden Jazzmusiker noch früh am Tag. Anstatt uns direkt ans Fotografieren zu machen, schlug ich deshalb vor, erst einmal essen zu gehen. Monk war sehr dafür. Wir fuhren mit ihm zu einem lebhaften Freiluftcafé am North Beach und fingen mit Champagner-Cocktails an. Irgendwann wandte sich Monk an mich und fragte, wo wir fotografieren würden. Ich erzählte ihm von der Idee mit dem Cable Car, woraufhin er einen finsteren Blick bekam, den Kopf schüttelte und sagte: "O Mann, ich hab keine Lust auf dieses Cable-Car-Zeugs. Basta." Ich bestellte noch eine Runde Drinks. Während unseres Gesprächs sagte ich irgendwann zu Monk: "Wußtest du schon, daß man aus deinem Namen einen guten Schüttelreim machen kann? Thelonious Monk, das ergibt Melodious Thunk." Das brach das Eis.
Viele Champagner-Cocktails später und nach einem kleinen Imbiß toastete Monk uns zu und sagte: "Diese Cable-Idee klingt ziemlich lustig. Worauf warten wir noch?" Wir machten das Foto und hatten dabei viel Spaß. Es wurde ein ziemlich gutes Plattencover.
Später kamen wir an einem Gebäude vorbei, dessen Tür offen stand: Es war ein leerer Musiksaal mit einem Flügel in der Mitte. Monk setzte sich ans Klavier und spielte fast eine Stunde lang. Peggy und ich wurden also vom großen Monk zu einer Privatvorstellung eingeladen.
DUKE ELLINGTON, HINTER DER BÜHNE
Zum ersten Mal erlebte ich das Duke-Ellington-Orchester live im Orpheum Theatre, Downtown Los Angeles; da war ich 16 Jahre alt. Ich lauschte ziemlich ehrfürchtig, denn Johnny Hodges, Harry Carney, Lawrence Brown, Sonny Greer und Al Hibbler saßen nur ein paar Meter entfernt von meinem Platz, der in der ersten Reihe war.
Als der Vorhang fiel und der Film anfangen sollte, ergriff ich die Gelegenheit und ging hinter die Bühne, um den großen Duke zu treffen. Man machte mir keine Schwierigkeiten, zu ihm zu gelangen. Ich wurde in sein Garderobenzimmer geführt, wo er seinen violett-grauen Anzug, das pinkrosa Hemd und die dunkelrote Krawatte gegen eine gewaltige goldene Abendrobe tauschte. Er behandelte mich gütig und war sehr großzügig mit seiner Zeit. Was für eine Ehre!
Im Lauf der Jahre ging ich immer wieder nach den Auftritten hinter die Bühne, um den Duke zu sehen - gleichgültig, in welcher Stadt es gerade war. Und oft nahm ich meine jeweilige Freundin mit. Duke erinnerte sich jedesmal an mich und begrüßte uns herzlich. Dann wandte er sich gewöhnlich an die junge Dame, die mich begleitete, verbeugte sich und brachte eines seiner berühmten Komplimente an: "Sie sind so schön, man sollte Sie einsperren" oder "Sie sind ja total zum Anbeißen" oder "Die Götter haben sich selbst übertroffen, als sie Sie schufen, meine Liebe".
So war Duke.
PAUL DESMOND
Paul war einer der humorigsten, lustigsten, herzlichsten Musiker, denen ich je begegnet bin. Er war hervorragend im Spielen mit und Erfinden von Wörtern und ein origineller und reizender Satiriker. Falls wir auf der einsamen Insel doch mal aufhören sollten zu lachen, könnte Paul ja auf seinem Altsaxophon spielen - so wunderbar lyrisch und feinsinnig swingend.
An einem warmen, verregneten Abend in Washington D.C. schlichen Paul und ich einmal aus einem Jazzfestival davon, um uns in der schlimmsten Gegend von Baltimore eine Striptease-Show anzusehen. Für dieses Bedürfnis opferten wir Dizzy Gillespie, Gerry Mulligan und Thelonious Monk. Doch als sich die letzte Stripperin im Programm bis zum String-Tanga auszog, nahm sie zu unserem größten Erstaunen eine Klarinette zur Hand und spielte Artie Shaws Erkennungsmelodie "Nightmare", während sie vor uns und vier anderen Männern (alle in Regenmänteln) posierte und dann davonschaukelte. Vor dem Jazz gibt es wohl kein Entrinnen.
ORNETTE 1959
Ich sollte Ornette Coleman für sein erstes Plattencover fotografieren. Als er in meinem kleinen Studio in Hollywood eintraf, hörte ich ein vorsichtiges Klopfen an der Tür: Vor mir stand Ornette mit einem strahlenden, frischen Gesicht, fein angezogen und sehr schüchtern. Er war eben erst aus Texas angekommen und teilte mir als erstes mit, daß er noch nie vorher fotografiert worden sei.
Vor der Kamera hielt seine Schüchternheit an und näherte sich beinahe einem Angstzustand. Ich versuchte alles, damit er sich entspannte und wohlfühlte, aber es war nicht leicht. Meine Frau Peggy bot ihm Erfrischungen an und empfing ihn herzlich. Plötzlich wurde mir bewußt, daß er sein Instrument nicht in der Hand hielt. Deshalb bat ich ihn, sein Altsaxophon aus dem Koffer zu nehmen, und heraus kam dieses gelbliche Plastikhorn! Ich hatte so etwas noch nie gesehen und begann zu lachen. Meine ziemlich unhöfliche Belustigung muß ansteckend gewesen sein, denn Ornette fing auch zu lachen an. Wir fielen einander lachend in die Arme, und das Eis war gebrochen. Er entspannte sich so weit, daß ich ihn fotografieren konnte, und das Ergebnis wurde das Cover der Atlantic-Platte "The Shape of Jazz to Come".
SONNY ROLLINS, 1957 UND 1997
Als man in den 50er Jahren an der Westküste der USA den Jazz wiederentdeckte, reiste Sonny Rollins zum ersten Mal nach Los Angeles. Man bereitete ihm einen herzlichen Empfang, und Les Koenig von Contemporary Records wollte der erste sein, der hier eine Aufnahme mit Sonny machte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich, Sonny oder Les den Einfall hatte, ihn in Cowboy-Kluft zu fotografieren; jedenfalls ging ich mit Sonny zu Western Costumers in Hollywood und ließ ihm einen Zehn-Gallonen-Hut anpassen, besorgte einen Patronengurt, eine Pistolentasche und einen sechsschüssigen Revolver und fuhr mit Sonny in die Mojave-Wüste, um sein Plattencover zu fotografieren. Sonny und mir machte es viel Spaß, und das Cover wurde berühmt.
Als Sonny nach New York zurückging, fielen seine Jazz-Kollegen wegen des "abscheulichen" Cover-Fotos über ihn her. Ich hörte aus mehreren Quellen, er wäre nicht glücklich darüber, daß ich dieses Bild auf dem Albumcover benützt hatte.
Vierzig Jahre später beauftragte mich die Firma Rico, Sonny für eine wichtige landesweite Anzeigenkampagne zu fotografieren, bei der er für ihre Saxophonblättchen wirbt. Als Sonny und ich uns für das Foto trafen, behandelte er mich gnädig und verzieh mir das "abscheuliche" Bild von 1957, das seine Platte "Way Out West" ziert.
ART PEPPER 1956
Art Pepper ging es gar nicht gut, als ich ihn in seinem Haus hoch oben auf einem der steilsten Hügel von Los Angeles besuchte. Das war in der Fargo Street in einer Gegend, wo in den frühen 20er Jahren viele der Keystone-Cop-Filme entstanden sind. Art war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, und ich kam zu ihm, um ihn für das Cover seiner neuen LP zu fotografieren, die "The Return of Art Pepper" heißen sollte. Während wir die Kleidung für das Foto auswählten, klagte er darüber, daß er krank sei. Er jammerte, weil seine Connection noch nicht wie versprochen seine "Medizin" vorbeigebracht hatte. Aber er beschloß, die Fotos dennoch zu machen.
Trotz seiner Not hatte er tatsächlich Spaß dabei, fotografiert zu werden, und er sah auch ganz ordentlich aus. Gegen Ende unserer Fotositzung ließ ich ihn diesen steilen Hügel hinaufgehen und fotografierte ihn dabei. Für mich war das ein Symbol für seinen Kampf ums Überleben.
HALEMA UND CHET BAKER, REDONDO BEACH (KALIFORNIEN), 1955
An einem heißen Tag im Sommer 1955 fuhr ich zu Chet nach Redondo Beach, um einige Fotos zu schießen, die man für ein Plattencover benützen könnte. Ich hatte noch keine Idee, was und wie ich es machen wollte, doch als ich ankam, begrüßte mich eine junge Frau namens Halema an der Tür. Sie sah so frech und hübsch aus in ihrem Sommerkleid, daß ich sie einfach in die Bilder mit einbeziehen mußte. Ich ging mit Chet und Halema zum nächsten Haus, das unbewohnt war und gerade renoviert wurde. Ich ließ sie an einem kahlen Fensterplatz hinsitzen - sanft strömte das Licht von draußen herein - und bat Chet, Halema etwas zuzuflüstern: Schon war die richtige Stimmung geschaffen.
MILES
Im Sommer 1949 begegnete ich zum ersten Mal Miles Davis. Das war bei meinem ersten Besuch im "Apple" (New York City) seit meiner Jugend. Mein Freund, der Musiker Allen Eager, führte mich durch die Stadt. Eines Abends gingen wir durch den Theaterbezirk, und als wir an der Kreuzung Broadway und 44. Straße um die Ecke bogen, erspähte ich Miles, der uns entgegenkam. Er trug einen schwarzen Anzug von Brooks Brothers, ein weißes Hemd und eine dünne, schwarze Wollkrawatte. Er ging zwischen zwei der glanzvollsten Modemannequins, die ich je gesehen hatte: Links im Arm hatte er Dorian Leigh, rechts die superblonde Sunny Harnett. Beide Mädchen waren ebenfalls schwarz gekleidet, und ich hatte das Gefühl, nie zuvor chicere Menschen getroffen zu haben. Lachend und beinahe tanzend kamen sie die 44. Straße herunter und brauchten dafür die ganze Breite des Gehsteigs. Allen und Miles begrüßten sich, man stellte einander vor. Allen sagte: "Miles, das ist mein Freund aus dem fernen Westen, aus Kalifornien; er heißt Clax." Miles schüttelte mir die Hand und sagte mit dieser einzigartig kratzenden Stimme: "CLAX! Klingt wie ein Haushaltsreiniger!"
Jahre später - um genau zu sein: 1965 - traf ich Dorian Leigh wieder. Sie leitete eine erfolgreiche Modeagentur und besorgte meiner Frau, Peggy Moffitt, in ganz Europa ihre Jobs als Model. Dorian erinnerte sich an unsere Begegnung mit Miles und daß Miles von mir immer nur als dem "Cowboy aus Hollywood" gesprochen hätte - dem mit dem komischen Namen "Clax".
1957 trafen Miles und ich uns wieder. Columbia Records hatte mich dazu bestimmt, ihn für seine nächste LP-Veröffentlichung zu fotografieren, "Miles Ahead". Er erschien in meinem Studio in Hollywood in einer dunkelbraunen Wildlederjacke, einem hellen Seidenschal, grauen Plaidhosen und in Wildlederschuhen, passend zur Jacke. Er sah aus, als wäre er gerade den Modeseiten eines vornehmen Herrenmagazins entstiegen. Er genoß es, fotografiert zu werden, und die Fotos kamen auch bei der Plattenfirma gut an. Die Platte war Miles' erste Zusammenarbeit mit Gil Evans seit den "Birth of the Cool"-Aufnahmen von 1949, und das Bild sollte aufs Cover kommen. Aber als die Platte erschien, zeigte das Cover-Foto ein hübsches Mädchen mit Strohhut auf einem Segelboot. Ich war sehr enttäuscht. Wahrscheinlich glaubten die Produzenten, das Bild eines hübschen Mädchens auf dem Cover würde mehr Platten verkaufen. Heute denke ich, "Miles Ahead" ist ein so großartiges Stück Musik, daß die Platte mit so ziemlich jedem Cover erfolgreich gewesen wäre.
BIRD 1951
Ich hatte gehört, daß "Bird" (Charlie Parker) in die Stadt kommen sollte. Wenn ich ein Idol im Jazz hätte, dann wäre es sicherlich er. Ich mußte ihn also sehen und fotografieren. An einem Samstagabend borgte ich mir das Auto meines Vaters, nahm meine ebenfalls geborgte Kamera, eine 4x5 Speed Graphic, und fuhr los zum Tiffany Club in der 8. Straße, Downtown Los Angeles. Mit Bird auf der Bühne waren Harry Babasin am Baß, Lawrence Marable am Schlagzeug, Donn Trenner, Klavier, und - sehr blaß, aber attraktiv - Chet Baker, der für mich aussah wie ein Boxkämpfer mit einem Engelsgesicht. Bird spielte natürlich glänzend, und Chet klang völlig neuartig und frisch. Ich machte Bilder und lernte die Musiker kennen.
Nachdem der Club geschlossen war, zog Chet mit einer hübschen Blondine davon, und Bird fragte mich, ob wir etwas frühstücken könnten. Doch um halb vier in der Nacht waren alle Restaurants in der Gegend geschlossen. Ich wollte Bird eine Freude machen und schlug in meiner jugendlichen Begeisterung vor, wir könnten (zusammen mit ein paar anderen Fans) zu mir nach Hause gehen (wir wohnten in einem Vorort von Pasadena). Zum Glück, dachte ich bei mir, waren meine Eltern übers Wochenende verreist.
Wir machten Frühstück für Bird. Dann saß er in einem großen Sessel und sah aus wie Buddha - mit uns allen, den jungen Fans, zu seinen Füßen. Er versorgte uns mit Geschichten über seine Erlebnisse und mit Klatsch über andere Künstler. Einmal fragte ich ihn, wie er dazu komme, einen jungen unbekannten Musiker wie Chet Baker in seine Band zu holen, während ihm in Los Angeles doch so viele große Musiker zur Verfügung stünden. Bird antwortete: "Sauber und einfach, Mann, er spielt sauber und einfach, ein bißchen wie Bix. Er bläst mit Gefühl und Aufrichtigkeit. Verstehst du?" Nachdem Bird so über Chet Baker geurteilt hatte, begannen wir, diesem neuen, jungen Bläser mit dem hübschen Boxer-Gesicht aufmerksamer zuzuhören.
Mein berühmter Hausgast verbrachte das restliche Wochenende mit Schwimmen und Essen. Er besaß einen außerordentlichen Appetit. Ich fotografierte Bird in ausgelassener Stimmung, als er am Ende des Sprungbretts überm Swimmingpool stand. Er war splitternackt und nur von seinem Altsaxophon bedeckt, auf dem er eine sehr lustige Fassung von "Moon Over Miami" spielte. Leider ging das Negativ ein paar Jahre später bei einer Überschwemmung in meinem Studio verloren. Am Montagnachmittag kamen meine Eltern nach Hause. Ich begrüßte meine Mutter ganz aufgeregt und erzählte ihr, daß der größte Jazzmusiker der Welt an diesem Wochenende mein Hausgast gewesen sei. Meine Mutter lächelte und entgegnete: "Wie schön, mein Schatz. Hast du ihm auch etwas zu essen gegeben?"
Text: William Claxton
Übersetzung: Hans-Jürgen Schaal
aus: William Claxton, Jazz Seen, Benedikt Taschen Verlag 1999
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