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Die siebente Hörhilfe 16.3.07

Archie Shepp

"Fire Music" (Impulse)
Archie Shepp (ts), Ted Curson (tp), Joseph Orange (tb), Marion Brown (as), Reggie Johnson (b), David Izenzon (b), Joe Chambers (dr), J.C. Moses (dr)

Die erste Schockwelle des Free Jazz war 1965 vorüber. Nun ging es nicht mehr darum, die Chorusformen aufzubrechen, die Funktionalharmonik außer Kraft zu setzen, die Zählzeit abzuwürgen. Das hatten andere erledigt, Leute wie Ornette Coleman, Cecil Taylor, John Coltrane. Nun ging es nicht mehr um den brachialen Befreiungsakt, die große Selbstfindung, den hermetischen Lärmblock. Nun war die soziale Rückkopplung gefragt. Black Unity. Bürgerrechtsbewegung. Der politische Kampf.

„Die Schwarzen sind Amerikas einzige Hoffnung auf Rettung. Jazz handelt von deiner Umwelt. Der Jazzmusiker ist wie ein Reporter.“ Der das damals verkündete, hieß Archie Shepp, war noch keine 30 Jahre alt, spielte Tenorsaxofon, schrieb Gedichte, Theaterstücke, Aufsätze und Kompositionen und arbeitete als Sozialhelfer und Lehrer an der High School. Die Musik dieses schwarzen Intellektuellen aus Florida war weder ein Ego-Trip noch ein Manifest künstlerischer Entrückung. Sie war vielmehr die Klang gewordene Dialektik der Gesellschaft. Eine Musik der Bruchstellen und Widersprüche, eine Musik voller Zorn, Ironie, Trauer und Spaß. Hier traf die Eruption des Free Jazz auf den Schmelz der Swing-Ballade, das Rhythm’n’Blues-Riff auf den Begräbnismarsch.

Das Album „Fire Music“ entstand am 16. Februar 1965. Vier Bläser waren beteiligt – Trompete, Posaune, Tenor- und Altsaxofon –, dazu Bass und Drums. Kein Klavier, kein Harmonie-Instrument. Das heilige Feuer gerechten Zorns sollte hier brennen, hell und unverfälscht und nicht harmonisiert. Mit zusammen über 20 Minuten Länge enthalten Shepps Stücke „Hambone“ (nach einer Figur aus dem Kinder-Fernsehen) und „Los Olvidados“ (nach einem Film von Luis Buñuel) schon die ganze Botschaft. Es sind spannungsvolle Konglomerate der Stilistiken, satirische Kompositions-Spiele mit überlebten Formen. In den ersten Minuten hören wir eine Art Rubato-Bläserchoral über rhythmischem Puls, abgerundet von einer wilden Bop-Melodie, mündend in eine Art swingender Free-Jazz-Hymne, das Ganze noch einmal und noch einmal. Im dritten Durchgang übernimmt ein wackliger Walzer (7/4 + 5/4, sehr schnell) mit freiem Trompeten-Solo. Der Mittelteil des ersten Stücks ist swingende Improvisation über einem Rhythm’n’Blues-Riff, zornig, kreischend, bodenständig. Dann wieder der Wackel-Walzer, erneut Choral, Bop und Hymne. Auch das zweite Stück beginnt mit einem kompositorischen Wurf, einer dramatischen, zerklüfteten Fantasie, die man sich als expressionistisches Streichquartett vorstellen könnte. Im Walzertakt soliert die Trompete, kommt mit einem Ritardando zum Halt. Das Stück schlägt um in Slow-Blues-Feeling, eingebettet in ein freies Klangpastell der Bläser...

Trotz aller Komplexität der Arrangements spielt Shepps Ensemble mit bewusster, trotziger, provozierender Schlampigkeit. Jede Intonation ist hier Protest und Verfremdung und Sardonik. In dieser Musik wird das Ungenaue, das Oszillierende wesentlich. In der Intensität liegt die Wahrheit. Statt wässriger Harmoniewechsel: insistierende, feurige Ostinati. Keine Spur jenes technischen Perfektionismus, der heute jede drittklassige Mainstream-Jazz-Produktion regiert. Joe Chambers, Shepps Schlagzeuger, hält mit großer Kunst die auseinander brechenden Teile zusammen, gibt der Motiv-Collage ihre Dynamik und Überzeugungskraft. Und dann natürlich Archie Shepps Saxofon: kreischend wie ein Rhythm’n’Blues-Honker, dumpf näselnd, die Töne aufschürfend, verschmierend, verschleifend zu Klangbändern, die Phrasen verknappend zu gehusteten Kürzeln. Bissige Kommentar eines Mannes, der sich der Musik bedient und die amerikanische Wirklichkeit meint.

Die übrigen Stücke sind wie Exkurse zum Thema. Fünf Tage nach der Studio-Session wurde Malcolm X ermordet, der radikale schwarze Bürgerrechtler. Shepp reichte zwei Wochen später das Trio-Stück „Malcolm, Malcolm – Semper Malcolm“ nach: Er liest ein eigenes Gedicht, die Musik entfaltet sich als balladenartige Free-Improvisation, eine fragile Elegie mit wütenden Einsprengseln. „Prelude To A Kiss“ ist dagegen ein frühes Beispiel für Archie Shepps Vorliebe für Ellington-Balladen, die er wie kein anderer entkleidet, entstellt, aufs Wesentliche reduziert hat. Das sind Sternminuten eines gebrochenen Romantizismus zwischen Atonalität und Vaudeville. Und dann die Schlussnummer: „The Girl Of Ipanema“, der Bossa-Nova-Hit, der seit dem Sommer 1964 in den amerikanischen Pop-Charts wütete. Shepp dekonstruiert das Stück, setzt das Hauptmotiv polyphon, macht daraus ein Stück Varieté-Satire. Sein Solo bewegt sich in denkbar größtem Gegensatz zu Stan Getz’ Solo auf der Hit-Platte: Ermüdend lange ergeht sich der überlegene Spötter Shepp in atomisierten, zornigen Motivkürzeln. Dieses verzehrende Schwelfeuer glüht lange nach.

Publiziert in Rondo 4/2003
Ungekürzte Version

© 2003, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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