 Am 24. September vor 100 Jahren wurde er geboren. Dem Ideal des „perfekten Trompetensolisten“ sei Fats Navarro am allernächsten gekommen, meint der Jazzjournalist Mark Gardner. Leider starb das Bebop-Genie bereits mit 26 Jahren – und noch vor der Einführung der Langspielplatte.
Fats Navarro
Ein unglücklicher Engel
(2023)
Von Hans-Jürgen Schaal
Am besten hat es der Schlagzeuger Roy Haynes formuliert. „Fats Navarro war ein spektakulärer Musiker“, sagte er, „denn er brachte alles mit. Er war ein guter Notenleser, er konnte hohe Töne spielen und überall die erste Trompetenstimme übernehmen, er konnte diese sanglichen, melodischen Soli spielen mit einem großen, schönen Sound, den man damals nicht für möglich hielt, und er konnte in den schnellen Tempi abheben – mit Stakkato und beißenden Tönen – und alles ausführen, was er wollte, offenbar ohne Stress und ganz sauber.“ Die Trompeter-Kollegen haben Fats Navarro bewundert und beneidet. Miles Davis nannte ihn „ein geborenes Genie“. Joe Newman bescheinigte ihm „Seele, eine starke Lippe, Beständigkeit und einen guten Sound – einen dieser vollen, butterweichen Sounds“. Für Kenny Dorham, Red Rodney oder Clifford Brown war er das wichtigste Vorbild.
Als Fats Navarro nach New York zog (1946), war der Bebop, der erste moderne Jazzstil, gerade das angesagte Ding. Der Star-Trompeter des Bebop hieß natürlich Dizzy Gillespie – der war der Mitschöpfer dieses Stils, sein Sprachrohr, sein Bühnenclown und ein wilder, dynamischer, überraschender Improvisator auf seinem Instrument. Der sechs Jahre jüngere Navarro spielte den Bebop ganz anders: klarer, überlegter, melodischer. Seine Chorusse hatten Balance und Struktur, und die Eleganz seiner swingenden Achtelnotenketten machte ihn geradewegs zu einer Art „Charlie Parker der Trompete“. Die Jazzkritiker bewunderten besonders Navarros vollen, runden Ton, wie ihn die alten Swing-Trompeter hatten. Vom Pianisten Lennie Tristano stammt der Satz: „Dizzy Gillespie ist ein guter Trompeter, aber er ist eben kein Fats Navarro.“
Der liebe, arme Kerl
Dass Fats Navarro längst nicht so bekannt wurde wie Gillespie, hat mehrere Gründe. Erstens war Navarro kein „Lautsprecher“ und Selbstdarsteller. Miles Davis nannte ihn vielmehr „lieb wie ein Baby“. Andere beschrieben ihn als „sehr netten Kerl, anständig und eher still“ oder als „wunderbaren Menschen, sehr warmherzig“. Die Sängerin Carmen McRae sagte: „Er hatte etwas von einem Engelchen – mit großen, dicken Wangen und einem großen Bauch. Er war nicht großgewachsen, nur dick.“ Durch seine Korpulenz hatte sich Navarro schon mit 17 Jahren den Spitznamen „Fats“ erworben. Wegen seiner weichen Art und seiner hohen Stimme nannten ihn manche sogar „Fat Girl“. Manche seiner Kollegen haben sich wohl über Navarro lustig gemacht. Der Pianist Bud Powell, der auch gerne Charlie Parker provoziert hat, soll Navarro häufig geärgert haben. Einmal reizte er ihn so sehr, dass Navarro wütend mit seiner Trompete zum Schlag ausholte. Zum Glück traf er den Pianisten nicht – aber die Trompete war danach verbeult.
Ein weiterer Grund, warum Navarro nicht weltberühmt wurde, war sein viel zu früher Tod. Kaum hatte er sich in New York niedergelassen, fing er leider damit an, Heroin zu spritzen, die Modedroge der Bebopper. Außerdem hat er sich damals mit Tuberkulose infiziert, einer Krankheit, die vor der Entwicklung von Antibiotika nur schwer zu behandeln war. Diese Kombination – zusammen mit seiner Korpulenz, einem gesteigerten Kokain- und Alkoholkonsum und einer allgemein schwachen Gesundheit – sollte sich als tödlich erweisen. Bereits Mitte 1949 fiel auf, dass der scheinbar perfekte junge Trompeter Probleme mit den High Notes bekam. Wegen seines schlechten gesundheitlichen Zustands litt er zudem unter Depressionen. Anfang 1950 hatte er bereits einen unkontrollierbaren Husten entwickelt und stark abgenommen: „Er war ein echter Junkie und nur noch Haut und Knochen“, schreibt Miles Davis. Bei seinem Tod soll Navarro keine 50 Kilo mehr gewogen haben. Er hinterließ eine Ehefrau und eine kleine Tochter.
Die Schule der Bigbands
Mit 13 Jahren hatte er begonnen, die Trompete zu blasen – das war 1936. Seine Vorbilder wurden Swing-Solisten wie Roy Eldridge, Duds Bascomb und Charlie Shavers (ein entfernter Verwandter). Auch sein Jugendfreund Leonard Graham spielte Trompete – er wurde später unter dem Namen Idrees Sulieman bekannt. Noch vor Beendigung der High School suchte Fats Navarro damals das Weite, schloss sich einer reisenden Band an und kehrte nie mehr ins heimatliche Florida zurück. In Ohio nahm er weiteren Unterricht – Fats hat immer fleißig geübt und konnte sich Stücke schnell erarbeiten. Das tägliche Handwerk hat er dann in professionellen Bigbands erlernt. Bei Snookum Russell (1941 bis 1943) begegnete er J.J. Johnson, der der führende Posaunist des Bebop werden sollte. Bei Andy Kirk (1943 bis 1944) schloss er Freundschaft mit Howard McGhee, der in der Band die erste Trompetenstimme spielte – auch McGhee wurde ein führender Bebopper. In dieser Zeit war Fats mehrfach in New York, spielte sein erstes Solo im Plattenstudio und jammte mit dem inneren Bebop-Zirkel um Miles Davis, Bud Powell und Max Roach.
Im Oktober 1944 hat Dizzy Gillespie den Youngster dann an Billy Eckstine empfohlen – als seinen eigenen Nachfolger. Das Orchester des beliebten Sängers Eckstine war damals ein Sammelbecken der Bebop-Bewegung. Dort spielten auch Charlie Parker, Dexter Gordon, Kenny Dorham, Miles Davis, Sonny Stitt, Tadd Dameron, Art Blakey und viele andere. Eckstine erinnert sich: „Dizzy sagte mir, ich solle mir die Kirk-Band anhören wegen eines Burschen namens Fats Navarro. ‚Er ist wunderbar‘, sagte Dizzy. Zwei Wochen später übernahm Fats dann Dizzys Parts und spielte sie einfach. Man merkte kaum, dass Dizzy nicht mehr da war. Fat Girl spielte Dizzys Soli, brachte aber seine eigenen Ideen ein. Das Feeling war dasselbe, und er hatte genauso viel Swing.“ Während seiner Zeit bei Eckstine gehörte Navarro bereits ganz zur New Yorker Bebop-Szene und nahm an vielen Sessions teil. Im Juni 1946 verließ er Eckstine und wurde zum Freelancer.
New York, New York
Die Bebop-Combos rissen sich damals um den erstaunlichen jungen Trompeter. Navarro war Sideman in heute legendären Aufnahmen von Kenny Clarke („Epistrophy“), Coleman Hawkins („I Mean You“), Eddie „Lockjaw“ Davis („Calling Mr. Jazz“), Dexter Gordon („Dextrose“) oder Bud Powell („Bouncing With Bud“). Bald machte er auch erste Plattenseiten unter eigenem Namen, etwa „Fat Boy“ (September 1946), „Fat Girl“ (Januar 1947) oder „Fats Blows“ (Dezember 1947). Im Herbst 1948 entstanden außerdem drei Stücke im grandiosen Zwei-Trompeten-Team mit Howard McGhee – das Sextett hieß The McGhee-Navarro Boptet. Die wichtigste Formation für Fats Navarro aber war die Band des Pianisten Tadd Dameron, die häufig im Jazzclub „Royal Roost“ auftrat. Auch J.J. Johnson und Kenny Clarke gehörten zum Ensemble. Fats Navarro wurde Damerons Starsolist und war glücklich über die regelmäßige Bezahlung von bis zu 750 Dollar pro Woche. Viele Musiker sollen sich aber geweigert haben, mit Dameron und Navarro aufzutreten, weil das glanzvolle Spiel des Trompeters alle in den Schatten stellte. Nicht so Charlie Parker: Der führende Bebop-Saxofonist holte Navarro gerne als ebenbürtigen Widerpart in sein Live-Quintett, etwa 1947 im „Three Deuces“ oder 1950 im „Birdland“.
Fats Navarro gehörte bis zu seinem Tod zu den größten Sensationen der Szene. Er spielte in Star-Besetzungen in der Carnegie Hall und im Lincoln Garden Center, gewann 1948 den Metronome Jazz Poll und trat mit den Metronome Allstars auf, ging mit der Lionel Hampton Band und mit „Jazz At The Philharmonic“ auf Tournee und war außerdem Mitglied bei den Birdland Allstars im Club „Birdland“. Selbst der Swing-König Benny Goodman wollte diesen Trompeter haben, aber da war Navarros Drogenkonsum schon so fortgeschritten, dass er mehrmals unpünktlich zur Probe kam – das konnte Goodman nicht tolerieren. Rund 150 Stücke hat Navarro bei Studiosessions aufgenommen, darunter auch etwa 15 eigene Kompositionen im besten Bebop-Stil (oft mit über 200 Beats pro Minute). Zu seinen eigenen Stücken gehören etwa die Blues-Titel „Fat Boy“ und „The Skunk“ oder die 32-Takter „Nostalgia“ und „Goin’ To Minton’s“. Navarro hatte freilich weitergehende Pläne. „Keiner von uns spielt diesen Bebop bereits so, wie wir ihn uns vorstellen“, sagte er. „Was man Bebop nennt, ist bis jetzt nur eine Reihe von Akkordfortschreitungen.“
© 2023, 2025 Hans-Jürgen Schaal
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