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Ein Vibrafon ist ein bisschen Klavier, ein bisschen Schlagzeug, ein bisschen Melodieinstrument – aber nichts davon so richtig. Wer Vibrafon spielt, muss sich vieles dazudenken und Fantasie entwickeln. Teddy Charles (1928-2012) war der Prototyp des denkenden Vibrafonisten.

Avantgarde anno ’55
Der Jazz-Innovator Teddy Charles
(2020)

Von Hans-Jürgen Schaal

Sie nannten ihn einen Experimentator, einen Avantgardisten, einen Wegbereiter des modalen und freien Jazz. Sein langjähriger Musikpartner Hall Overton schrieb, das Besondere an Teddy Charles’ Musik seien: 1) längere Formen als die übliche 32-taktige Songform, 2) eine wesentlich vielfältigere Harmonik (Polytonalität, Quartakkorde), 3) spontaner Kontrapunkt, 4) wandernde tonale Zentren. Teddy Charles spielte Klassik-Klavier und Dixieland-Schlagzeug – doch im abstrakten, kühlen Jazz der 1950er Jahre wurde er zum Visionär und Denker am Vibrafon, diesem strukturierenden, technischen Instrument. 1955 wählte man Teddy Charles zum „Musiker des Jahres“.

Er war nicht nur Vibrafonvirtuose, sondern Komponist, Konzeptionist, Arrangeur und Produzent, vor allem für die Labels Prestige und Bethlehem. Als Aktivposten der Third-Stream-, Cool- und Westcoast-Szene trieb er die Jazzentwicklung voran, inspirierte Miles Davis („Blue Moods“, 1955), arrangierte für John Coltrane („Dakar“, 1957), assistierte Charles Mingus („Mingus Dynasty“, 1959). Letzterer war es übrigens, der ihm seinen Künstlernamen verpasst hat. Eigentlich hieß Teddy Charles nämlich Theodore Cohen.

Die ersten eigenen Aufnahmen macht der Vibrafonist Teddy Charles 1951 im Trio mit E-Gitarre und Bass – es sind swingende Jazzstandards, aber im schlagzeuglosen, kunstvollen Kammersound-Arrangement. Zwei Jahre später nimmt er wieder im Trio auf, nun mit Hall Overton (Piano) und Ed Shaughnessy (Drums) – ein perkussives Avantgarde-Ensemble, in dem Charles neben den Vibes auch Marimba, Glockenspiel und Xylofon einsetzt. Die Stücke stammen von Overton, ihre abstrakten Titel verraten den experimentellen, polytonalen, formal offenen Ansatz: „Mobiles“, „Antiphony“, „Metalizing“, „Decibels“.

Zwischen den beiden Trios entstehen 1952 die berühmten Quartettaufnahmen mit dem Gitarristen Jimmy Raney, die später auch auf die B-Seite der „Ezz-thetic“-Session von Lee Konitz und Miles Davis gepackt wurden. Charles’ „Edging Out“ und Raneys „Composition For Four Pieces“ sind komplexe, polyphone Kammerstücke mit rasant swingenden Improvisationen – Entwürfe einer neuen Art von Jazzmusik: „New Directions“ (Prestige OJCCD-1927-2).

Von 1953 bis 1960 macht Charles über ein Dutzend epochaler Platten. Sieben davon finden sich in der 4-CD-Box „Seven Classic Albums“ (Real Gone Jazz RGJCD 532). Darunter sind die Aufnahmen mit den drei Westcoast-Visionären Shorty Rogers, Jimmy Giuffre und Shelly Manne (1953): Stücke wie „Variations On A Motive By Bud“, „Further Out“, „Etudiez Le Cahier“, „Bobalob“ (alle von Charles), „Wailing Dervish“, „Free“ (beide von Rogers) und „Evolution“ (Giuffre) – durchweg komplex-polytonale Experimente mit einem Anklang von Neuer Musik.

Dann ist da auch das Teddy Charles Tentet mit fünf Bläsern (u.a. Art Farmer und Gigi Gryce), ein absoluter Höhepunkt kontrapunktischer Jazz-Kammermusik, voller Brüche und Überraschungen und Atonalitäten. Die Konventionen des Jazz – Chorusform, durchgängige Zählzeit, klare Akkordstrukturen usw. – werden hier über den Haufen geworfen (1956). Fast noch übertroffen sind diese kühl-freien Provokationen im Titelstück der Platte „Word From Bird“, das für die Stuttgarter „Tage der Leichten Musik“ entstand. Mit den Alben „Coolin’“ und „Salute To Hamp“ enthält die Box außerdem gut gelaunte Ausflüge Richtung Hardbop und Swing und einige von Charles’ besten Uptempo- und Balladen-Improvisationen.

Einen kongenialen Partner findet Charles damals im Pianisten Mal Waldron. „The Prestige Jazz Quartet“ (Prestige OJCCD-1937-2) ist quasi der futuristische Gegenentwurf zum identisch instrumentierten Modern Jazz Quartet – experimentell statt barock, polytonal statt renaissancehaft. Charles’ dreiteiliges „Take Three Parts Jazz“ bietet eine Art modales Jazz-Concertino, am Stück gespielt. Mal Waldrons sperrige Klavierphrasen, die Taktwechsel in Waldrons Stück „Meta-Waltz“ und eine Komposition von Monk („Friday The 13th“) sorgen für weitere modernistische Brechungen. Die Musik swingt unwiderstehlich, aber in einer kühlen, experimentellen Nacktheit, die heute klassisch wirkt.

Um 1960 schien Teddy Charles’ Mission erfüllt – der Free Jazz war angekommen. Der Vibrafonist setzte seine Karriere auf Sparflamme, wurde Seekapitän und bot Charter-Cruises in die Karibik an. Schon 1959 war er zum Jazzfestival in Newport (Rhode Island) mit eigenem Segelboot gekommen. Allerdings ließ ihn der Wind im Stich – er verpasste seinen eigenen Auftritt.

© 2020, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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