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In einer Schmusekatze hat er das Raubtier geweckt. Der junge Jimmy Smith (1928-2005) holte Töne aus der Hammondorgel, die niemand darin vermutet hatte. Es war eine Sound-Explosion, nach der der Jazz nicht mehr derselbe war. „Ich habe die Hammondorgel eigentlich erfunden“, sagte Jimmy Smith mit einigem Recht.

Jazz History (6): Jimmy Smith
Als ein Pianist ein Jahr lang in einer Lagerhalle saß
(2020)

Von Hans-Jürgen Schaal

Über die schlechten Klaviere in den Clubs hatte sich der junge Pianist häufig genug geärgert. „Wann lässt du das Piano endlich stimmen?“, fragte er die Clubbesitzer regelmäßig – und wurde immer wieder vertröstet. Dann, eines Tages im Harlem Club in Atlantic City, hörte er den Kollegen Wild Bill Davis auf der Hammondorgel spielen. Dieses Instrument war nichts Neues. Es gab Laurens Hammonds Elektroorgel seit 20 Jahren, Exemplare davon standen in manchem amerikanischen Wohnzimmer, aber auch in Caféhäusern, Kinosälen, Freizeitzentren. Meistens wurde darauf banale Hintergrundmusik gespielt, irgendwelche süßlichen Melodien. Die Afroamerikaner kannten die Hammond vor allem aus den kleinen Gospelkirchen – von dort schaffte sie den Sprung in den schwarzen Rhythm&Blues. Immer mal wieder hatten auch namhafte Jazzpianisten sich an dem Instrument versucht: Fats Waller, Milt Buckner, Count Basie, Earl Hines. Sie spielten es wie ein Klavier oder wie ein braves Harmonium.

Als er damals Wild Bill Davis hörte (der nicht umsonst so hieß), verstand Jimmy Smith, dass man dieses Instrument auch anders spielen konnte, nämlich heiß, rau und aggressiv. Heimlich schlich er sich tagsüber auf die Bühne des Clubs und probierte Davis’ Instrument aus. Später ging er zu einem Musikalienhändler in Philadelphia und mietete eine Hammond für einen Dollar pro Tag. Man sagte ihm, es seien vier Jahre Übung nötig, um das Spiel der Basspedale zu beherrschen. Doch Jimmy Smith besaß einen ausgesprochenen Sturschädel und einen grenzenlosen Ehrgeiz – er galt als „ein wenig verrückt“. Vier Jahre Üben? Lächerlich! Immerhin hatte er nicht nur Klavier, sondern auch Kontrabass gelernt und etwas Harmonielehre abgekriegt. Jimmy Smith fasste einen ambitionierten Plan.

Eines Tages – es war wohl im Jahr 1953 – fuhr er mit einem Chevrolet-Pickup beim Musikalienhändler vor und lud sich so ein 200-Kilogramm-Monstrum auf die Ladefläche. Sein Vater, der als Gipser arbeitete, hatte ihm ein Plätzchen in der Lagerhalle seiner Firma beschafft – dorthin brachte Smith seine Neuerwerbung. Von einem befreundeten Künstler ließ er sich einen Plan der Basspedale malen, etwa einen Quadratmeter groß, und beschriftete ihn. Den hängte er in der Lagerhalle an die Wand, so dass er ihn beim Spielen der Orgel immer im Blick hatte. Ein Jahr lang ging Jimmy Smith jeden Tag in diese Lagerhalle – nachts erledigte er weiterhin seine Klavier-Gigs in den Clubs. „Ich ließ meine Orgel in der Halle, weil niemand erfahren sollte, dass ich diesen Hurensohn noch nicht spielen konnte – ich konnte es wirklich nicht. Ich nahm mir Essen mit, drei Sandwiches, und übte den ganzen Tag darauf.“

Es kam Jimmy Smith zugute, dass er etwas Erfahrung als Tapdancer hatte. Wenn er mit Ferse und Spitze über die Basspedale wirbelte, ließ er dabei die Fußgelenke locker. Seine Basslinien improvisierte er am liebsten zu seinen Lieblingsscheiben – der Plattenspieler stand neben ihm. Von den Lagerarbeitern musste er sich dabei manche Neckerei anhören. Sie schienen nicht zu glauben, dass er Hammonds dicke Vierteltonne mit ihren 91 Metallzahnrädern jemals meistern könnte. Doch eines Tages, fast ein Jahr später, war es so weit: Jimmy Smith packte zusammen. Er brachte seine Orgel aus der Halle, lud sie auf seinen Truck und fuhr zu Spider Kelly’s, dem Jazzclub in der Mole Street von Philadelphia. Dort hatte er seinen ersten Auftritt als Orgelspieler. Angeblich waren die Lagerarbeiter am ersten Abend vollzählig im Publikum versammelt.

Dass Jimmy Smith die alte, verschlafene Hammondorgel zu einem neuen, wilden Leben erweckt hatte – das sprach sich wie ein Lauffeuer in der Szene herum. Francis Wolff vom Label Blue Note kam eigens aus New York, um sich den Organisten anzuhören. Geradezu atemlos berichtete er von dem „betäubenden Anblick“, der sich ihm bot: „Ein Mann in Krämpfen, das Gesicht verzerrt, verkrümmt wie im Todeskampf, mit fliegenden Fingern, und die Füße tanzten über die Pedale. Die Luft war mit Wogen eines Sounds erfüllt, den ich nie zuvor gehört hatte. Der Lärm zerschmetterte einen.“ Für den Trompeter Miles Davis war der Organist einfach nur „das achte Weltwunder“.

Jimmy Smith unterschrieb damals einen Vertrag bei Blue Note und machte für das Label in nur sieben Jahren rund 30 Platten – mehr, als man zeitnah veröffentlichen konnte. Sein Orgelspiel wurde ein wichtiger Teil der Hardbop-Message von Blue Note. Den Charakter der Hammond revolutionierte er dabei so gründlich wie einst Coleman Hawkins den des Saxofons. Mehr noch: Jimmy Smith löste eine richtiggehende Hammondorgel-Mode aus. In seinem Sog waren zahlreiche weitere Organisten erfolgreich, darunter Jack McDuff, Jimmy McGriff, Shirley Scott, Richard „Groove“ Holmes, „Big“ John Patton, Don Patterson, „Sir“ Charles Earland, Billy Gardner, „Baby Face“ Willette, Freddie Roach, Lonnie Liston Smith, Leon Spencer, Larry Young usw. usf.

Als er erstmals in New York auftrat, im Club Smalls’ Paradise, kamen all die prominenten Jazzkollegen, um ihm auf die Finger und die Füße zu sehen – Sonny Rollins, Thelonious Monk, Art Blakey. „Sie dachten nämlich, ich hätte auf der Debütplatte Overdubs verwendet“, meinte Smith. Tatsächlich konnte er zuweilen klingen wie eine ganze Band: rasante Bebop-Läufe mit der Rechten, bigbandartige Akkordexplosionen mit der Linken, Bassläufe mit den Füßen – dazu der perkussive Registeranschlag. „Viele meiner Ideen kommen von Bläsern“, sagte er. „Ich spiele nicht Klavier, ich spiele keine Tasten. Ich spiele wie ein Bläser.“

Jimmy Smith agierte an der Hammondorgel immer mit vollem Körpereinsatz. Sein Spiel war athletisch, schweißtreibend, aggressiv – bis zur Erschöpfung. In dieser offensiven, herausfordernden Art spiegelt sich auch sein charakterliches Temperament: „Jeder sagt, Jimmy Smith sei verrückt, leg dich nicht mit ihm an. Besonders wenn er NICHT spielt.“ Einmal schlug er den Bop-Sänger und Talent-Scout Babs Gonzales im Streit k.o. – vor den Augen des entsetzten Blue-Note-Produzenten Alfred Lion. In seiner Jugend hatte Jimmy Smith das Boxen gelernt, später trug er den schwarzen Shotokan-Karategürtel. Aber er kämpfte auch noch mit anderen Mitteln – Voodoo zum Beispiel. „Ich habe immer mein Mojo-Pulver bei mir. Ich verteile es überall auf der Bühne, ein bisschen davon um meine Orgel herum, und ich lasse meinen Tenorspieler auf ein bisschen Puder treten. Damit sein Arsch heiß bleibt.“

An Selbstbewusstsein hat es Jimmy Smith nie gefehlt. Das Album „A New Sound, A New Star (Vol. 2)“ von 1956, sein eigentlicher Durchbruch, trug den alternativen Titel „The Champ“ – es war schon damals keine Frage, wer gemeint war. Die Triobesetzung nur mit E-Gitarre und Schlagzeug sollte zum Standardformat aller Hammondorganisten werden. „Diese Idee hatte schon Wild Bill Davis“, erklärte Smith. „Es war immer Orgel, Gitarre, Drums. Das passte einfach.“ Zu welcher Intensität sich eine solche Besetzung steigern konnte, hört man in den Club-Aufnahmen „Groovin’ At Smalls’ Paradise“ von 1957. Ausgerechnet bei den langsamen Balladen („Imagination“, „Lover Man“, „Body And Soul“) schaffen Smiths schnelle, bohrende Läufe eine brütend heiße Stimmung. Und selten war sein Sound erdiger als hier. Dass das Orgeltrio auch zusammen mit Bläsern funktioniert, bewies im gleichen Jahr „A Date With Jimmy Smith“. Volume 2 beginnt mit einer 17-Minuten-Jamsession über den Ellington-Titel „I Let A Song Get Out Of My Heart“. Die grandiose Ballade „I’m Getting Sentimental Over You“ ist ein unbegleitetes Duett mit dem Altsaxofonisten Lou Donaldson. Jimmy Smith war übrigens der einzige Musiker, bei dem Donaldson gerne Sideman war.

© 2020, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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