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Der Jazz ist unübersichtliches Gelände – leicht kann man da Bedeutendes übersehen. Hans-Jürgen Schaal präsentiert unbesungene Höhepunkte der Jazzgeschichte.

Die heimlichen Meisterwerke des Jazz (30)
Lennie Tristano: The New Tristano (1962)
(2019)

Von Hans-Jürgen Schaal

Er war der Guru der Improvisation, der Meister der mühelos strömenden Klavierlinien. Vom Beispiel großer Jazzbläser – Louis Armstrong, Lester Young, Roy Eldridge, Charlie Parker – hatte Lennie Tristano gelernt, seine Läufe frei perlen zu lassen, über Chorusgrenzen hinweg, auch gegen das Metrum, in einer stetigen Spannung zwischen Takt und Swing. Beim Improvisieren am Klavier überließ er sich ganz dem warmen Fluss seiner Intuition: den Kopf ausschalten, die bewusste Kontrolle außer Kraft setzen, den Gefühlen Raum geben. „Ich kann nicht zur gleichen Zeit denken und spielen“, sagte Lennie Tristano einmal. Angeblich half es ihm, dass er blind war und nicht durch visuelle Eindrücke abgelenkt wurde. Für Leonard Bernstein war Tristanos Improvisationskunst ein kleines Wunder: „Wie macht er das bloß?“

Seine Begleiter hatten mit Tristanos rhythmischer Flexibilität allerdings ihre liebe Not. Wenn seine genialen Notenflüsse strömten und die Akzente neben die Beats fielen, wurden die Bassisten und Schlagzeuger regelmäßig nervös. Der Bassist Peter Ind erzählt: „Man fühlte sich oft hin und her geworfen, musste auf jede überraschende Wendung gefasst sein und dennoch den Rhythmus stabil halten, was auch immer passiert.“ Tristano brauchte einen konstanten, sanften, nie schwankenden Begleitpuls. Daher ließ er Bass und Schlagzeug manchmal vorab aufnehmen und improvisierte dann zum Playback. Oder er ließ sich nur von einem Metronom begleiten.

Um 1960 fand er eine neue Lösung: Er begann sich seine Bassstimme selbst zu liefern – auf dem Klavier. Tristano entwickelte eine bemerkenswerte Walk-Bass-Technik – ein Jahr lang soll er nur mit der linken Hand geübt haben. Unerschütterlich markiert die Linke den 4/4-Basspuls mit Einzeltönen, während die Rechte ein polyrhythmisch swingendes Feuerwerk abbrennt – das alles aber im Rahmen konventionell harmonisierter Jazz-Chorusse. Die schönsten Dokumente dieser besonderen Kunstfertigkeit finden sich auf dem Soloalbum „The New Tristano“, das zwischen 1960 und 1962 entstand. In „Becoming“ spielt sich Tristano in mittlerem Tempo warm, „Deliberation“ glänzt mit unwiderstehlich swingenden Läufen, „Love Lines“ hat Balladencharakter. Die Höhepunkte des Albums liefern die Stücke „C Minor Complex“ und „G Minor Complex“, zwei der faszinierendsten Klavier-Improvisationen der Jazzgeschichte. Für Peter Ind übertrifft das rasend schnelle „C Minor Complex“ bis heute „jede andere Klaviersolo-Aufnahme“. Der Kritiker Barry Ulanov nannte das Stück das „eloquenteste Jazzsolo“ überhaupt und verglich es mit Bachs „Chromatischer Fantasie“. Als die Platte erschien, glaubten viele irrtümlich, es handle sich um Multitrack-Aufnahmen.

© 2019, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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