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Vom Metzgerssohn zum Millionär: Die Geschichte von Johann Jacob Astor ist der wahr gewordene amerikanische Traum. Im folgenden Text geht es außerdem um einen Fußballclub, ein Autobahnkreuz, Opium, Whisky und Zigaretten, das Empire State Building, die Titanic, einen Selleriesalat und vieles mehr. Blasinstrumente spielen natürlich auch eine Rolle.

Ein Millionär aus Kurpfalz
Über die Familie Astor
(2017)

Von Hans-Jürgen Schaal

Der Pokal hat seine eigenen Gesetze – so heißt es in der deutschen Fußballwelt. Dieser Satz muss meistens dann herhalten, wenn im DFB-Pokal mal wieder ein hoch favorisiertes und hochbezahltes Profiteam gegen einen scheinbar chancenlosen Amateurclub ausgeschieden ist. Für Spott und Schadenfreude ist da gesorgt. Und eben das ist ja das Schöne am Pokal: dass hier die Kleinen manchmal die Großen ärgern.

Der Fußballclub, der im jetzt laufenden Pokalwettbewerb für die größte Furore sorgt, heißt FC-Astoria Walldorf. Die Mannschaft spielt in der Regionalliga Südwest (also viertklassig), hat im Pokal aber bereits einen Zweitligisten und einen Erstligisten aus dem Wettbewerb geworfen und steht jetzt in der dritten Runde. In Walldorf wohnen gerade mal 15.000 Menschen. Man kennt den Ort am ehesten von Autobahnfahrten her – das Kreuz Walldorf, ein klassisches „Kleeblatt“, verknotet die A5 mit der A6. Doch in Wirklichkeit hat der Ortsname Walldorf längst schon Weltkarriere gemacht. Es ist diese badisch-kurpfälzische Kleinstadt, die zum Namen der Hotelkette „Waldorf=Astoria“ inspirierte. Auch im Waldorfsalat steckt dieses Walldorf drin. Und in den Waldorfschulen.

Viele Fußballfans glauben wahrscheinlich, der Vereinsname „FC-Astoria“ sei nur ein Marketing-Gag, ein schlauer Wortwitz, weil „Astoria“ neben „Walldorf“ irgendwie nach großer Welt klingt. Tatsächlich aber hieß schon der Vorgängerclub von 1908 „SG Walldorf-Astoria“, und tatsächlich ist in Walldorf alles Astor und Astoria. Es gibt dort ein Astorstift, eine Astor-Straße, die Astoria-Halle, das Astorhaus, sogar einen Astor-Garten und eine Astor-Büste. Auch Restaurants und der Campingplatz tragen Astor im Namen. Des Rätsels Lösung: In Walldorf wurde der Stammvater der internationalen Millionärsfamilie Astor geboren, und zwar im Jahr 1763.

Rund 75 Jahre vorher hatte Walldorf seine vielleicht traurigste Stunde erlebt. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg – Ludwig XIV. hatte mal wieder Machtgelüste – wurde Walldorf völlig zerstört. Um den Ort neu zu besiedeln, ließ man religiös Verfolgte („Flüchtlinge“) aus dem Ausland in die Pfalz. Darunter war damals auch eine Familie Astor aus Savoyen oder der Schweiz, die dem waldensischen Glauben angehörte. Die Astors betrieben bald die Metzgerei in Walldorf. Doch das Geschäft reichte nicht aus, um eine große Familie zu ernähren. Also wurden die Söhne angehalten, in die weite Welt zu ziehen und dort ihr Glück zu machen.

Musikinstrumente aus London

Johann Jacob Astor (1763 bis 1848) war der vierte Sohn des Metzgers von Walldorf (damals noch: Waldorf) und folgte 1779 dem Beispiel seiner Brüder. Zunächst ging er nach London, wo Georg, der älteste der Brüder, in der Wych Street bereits eine Musikalienhandlung betrieb, Holzblasinstrumente und Klaviere herstellte und einen Notenverlag besaß. Als Johann zu seinem Teilhaber wurde, hieß die Firma vorübergehend „George & John Astor“.

Einige Instrumente aus der Astor-Werkstatt befinden sich heute im Museum des Astorhauses in Walldorf. Es handelt sich dabei um ein Barockfagott, eine Piccoloflöte, eine Traversflöte, eine Oboe, eine Klarinette und ein Tafelklavier. Hin und wieder kommt eines dieser Instrumente noch bei Konzerten zum Einsatz – so spielte der Schweizer Fagottist Sergio Azzolini das Astor-Barockfagott 2010 bei einem Auftritt in der Walldorfer Laurentiuskapelle. Als Prachtstück der kleinen Sammlung gilt das sechsoktavige Tafelklavier, ein schön verziertes, aus verschiedenen Hölzern gefertigtes Stück. Es entstand um 1800, damals firmierte der Hersteller unter dem Namen „G. Astor & Co.“.

In seiner Londoner Zeit absolvierte Johann Jacob Astor auch eine Ausbildung beim Klavierhersteller John Broadwood, einem der Miterfinder des Fortepianos (Hammerklaviers). Möglicherweise hat Astor dort begriffen, dass die Firma seines Bruders dringend einen größeren Absatzmarkt brauchte. 1784 zog er deshalb weiter nach New York (die Überfahrt dauerte vier Monate!), wo der zweitälteste der Brüder lebte. Dort in New York baute Johann Jacob einen eigenen Musikalienhandel auf. Kernstück seines Geschäfts war der Import von Instrumenten aus der Londoner Werkstatt seines Bruders Georg.

Der erste Millionär der Geschichte

Offenbar besaß er Talent fürs Business – schon nach einem Jahr weitete Johann Jacob Astor seine Tätigkeit auf den Pelzhandel aus, dessen Zentrum damals in Montreal lag. Kanada jedoch war britische Kolonie und durfte keinen direkten Handel mit den USA betreiben. Importe von dort mussten über London verschifft werden, was die Logistik vieler Pelzhändler überforderte. Astor aber besaß durch den Instrumente-Import bereits Erfahrung mit Geschäften zwischen London und New York. Im Sommer ging er nach Montreal, kaufte die Ware und verschickte sie nach London, im Herbst nahm er sie im New Yorker Hafen wieder in Empfang. Eine gut überlegte Heirat 1785 brachte ihm das nötige Investitionskapital.

Binnen kurzer Zeit wurde J.J. Astor zum größten Pelzhändler Amerikas, 1808 gründete er die American Fur Company. Selbst an der Westküste ließ er eine Niederlassung errichten – er nannte sie Fort Astoria. Da der Westen noch kaum erforscht war, erfolgte die Gründung der Siedlung vom Meer her. Das Schiff musste dafür Kap Hoorn umfahren, die Südspitze Südamerikas. Sogar bis nach China verkaufte Astor seine Pelze und importierte von dort im Gegenzug Porzellan. Es heißt allerdings, dass er auch am britischen Opiumhandel mit China beteiligt war. Indianische Pelzjäger soll er gelegentlich auch mit Waffen und Whisky bezahlt haben.

Als die Pelze aus der Mode kamen, hatte er sich längst ein neues geschäftliches Standbein zugelegt: den Immobilienmarkt. New York wuchs damals explosionsartig. Astor kaufte Grundstücke am Stadtrand, solange sie billig waren, verpachtete sie dann an Bauherren und besaß nach Ablauf der Pacht ein bebautes Gelände. Durch Hypothekengeschäfte kam er auch an teure Grundstücke in der Innenstadt. Als er sich 1834 von seiner Pelz-Company trennte, galt er als der reichste Mann der Welt. Für den Metzgerssohn aus Walldorf wurde damals der Begriff „Millionär“ erfunden. Da Reichtum verpflichtet, stiftete er eine öffentliche Bibliothek in New York. Mit der Gründung der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft erleichterte er die Einwanderung in die USA. Und seinem Geburtsort Walldorf in Deutschland schenkte er 50.000 Dollar – nach heutigem Wert ein zweistelliger Millionenbetrag – für wohltätige Zwecke: die Astorstiftung.

Waldorf=Astoria und noch mehr Astors

Bei seinem Tod 1848 hinterließ J.J. Astor ein Vermögen von rund 20 Millionen Dollar, was heute mehreren Milliarden entspräche. Damit wurde er zum Begründer einer internationalen Millionärs-Dynastie. Sein Urenkel William Waldorf Astor (1848 bis 1919) errichtete 1893 an der Fifth Avenue in New York das „Waldorf Hotel“. Ein anderer Urenkel, John Jacob Astor IV (1864 bis 1912), ließ vier Jahre später direkt daneben das „Astoria Hotel“ erbauen. Beide wurden dann zum „Waldorf=Astoria“ vereint, das als größtes und luxuriösestes Hotel der Welt galt. Es musste zwar 1929 dem Empire State Building weichen, doch dem Wert des Grundstücks hat das sicherlich nicht geschadet.

Was die beiden Hotelgründer angeht: Der eine wanderte nach England aus, wurde 1916 geadelt und ist der Stammvater des britischen Astor-Zweigs, aus dem mehrere Oberhaus-Abgeordnete und Zeitungsverleger hervorgingen; der andere Urenkel war 1912 das prominenteste Todesopfer der Titanic-Katastrophe. In der Park Avenue von New York entstand 1931 ein neues Waldorf=Astoria – damals das größte und höchste Hotelgebäude der Welt. Es besitzt einen eigenen Zugang zur Grand Central Station und einen eigenen Bahnsteig dort (Track 61). Heute ist Waldorf=Astoria eine internationale Hotelkette mit 27 Filialen und seit 2013 auch in Berlin vertreten.

Den beiden Namen „Waldorf“ und „Astor“ kann man noch immer vielfach begegnen. Der Stadtteil Astoria in Queens zum Beispiel wurde zu Ehren des Wohltäters Johann Jacob Astor so benannt. In Florida gibt es die Stadt Astor, gegründet von einem Enkel des Pelzhändlers. Der Waldorfsalat (Äpfel, Sellerie, Nüsse, Mayonnaise) wurde einst im Waldorf Hotel an der Fifth Avenue erfunden. Auch die Kosmetikmarke Astor hat indirekt mit der Familie zu tun. Waldorf, Astor und Astoria waren lange Zeit aber auch einfach Signalworte für Luxus und Stil. Der schwäbische Unternehmer Emil Molt zum Beispiel gründete 1906 eine Zigarettenfabrik und nannte sie klangvoll „Waldorf Astoria“. Die Zigarettenmarke „Astor“ (mit einem Porträt von Johann Jacob Astor auf der Packung) gibt es noch heute. Für seine Fabrikarbeiter schuf Molt 1919 eine eigene Schule in Stuttgart – sie wurde die erste „Waldorf“-Schule.

Zurück zum FC-Astoria Walldorf. Der größte Arbeitgeber im heutigen Walldorf ist das Software-Unternehmen SAP. Walldorfs aktueller Johann Jacob Astor heißt Dietmar Hopp. 2010 wurde dem Walldorfer Bürger, SAP-Mitbegründer, Multi-Millionär und Fußballfan der Ehrenring der Stadt verliehen. Die Dietmar-Hopp-Stiftung hat dort die Astorstiftung abgelöst. Es gibt in Walldorf eine Dietmar-Hopp-Allee und einen Dietmar-Hopp-Sportpark – er hieß früher FC-Astoria-Stadion. Die Amateure des Fußballclubs agieren in einem hochprofessionellen Umfeld. Walldorf war und bleibt der Ort mit dem Flair der Millionäre.

© 2017, 2022 Hans-Jürgen Schaal


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