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Ein Jahr des Jazz

1960: „Free“ ist das Zauberwort im Jazz-Moloch New York. Dabei gehen musikalischer und politischer Freiheitsdrang auf der Jazzszene Hand in Hand. Aber erst im Dezember entsteht jenes Album, das dem Jahr das Motto liefert: „Free Jazz“.

1960
Der Sommer der neuen Freiheit
(2010)

Von Hans-Jürgen Schaal

Es hatte sich angekündigt: Von der Westküste kamen jahrelang die innovativen Jazz-Ideen, während an der Ostküste die Afroamerikaner konzentriert an ihrem sozialen Selbstbewusstsein arbeiteten. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis diese beiden Impulse – die musikalische und die gesellschaftliche Emanzipation – zusammenfinden würden. Dass es 1960 geschah, war sicherlich kein Zufall. Es war das Jahr der Schwarzen. Nicht weniger als 17 afrikanische Staaten erlangten 1960 ihre Unabhängigkeit, 13 davon im Sommer – und die Afroamerikaner fühlten sich als Teil dieser Entwicklung. Cassius Clay, der nie ein Blatt vor den Mund nahm, wurde im Sommer 1960 Olympiasieger, der Sprinter Otis Davis holte zwei Goldmedaillen. Als Martin Luther King zu sechs Monaten Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil er seinen Führerschein nicht umgemeldet hatte (!), verlieh man ihm im liberalen New York demonstrativ eine offizielle Auszeichnung für seinen Kampf gegen die Rassentrennung. Was war noch in diesem Sommer? John F. Kennedy, bekannt als Freund der Schwarzen, wurde von seiner Partei zum Präsidentschaftskandidaten ernannt und kümmerte sich prompt um Martin Luther Kings Freilassung. Auch kam die Antibabypille auf den amerikanischen Markt: ebenfalls eine neue Freiheit. Nur das weiße Regime in Südafrika wehrte sich vehement gegen den Trend der Emanzipation und schuf sich eine weltweite Gegnerschaft. Auch das einte die Afroamerikaner.

Freiheit war das Zauberwort des Sommers: Sogar die Jazzmusiker trauten sich endlich. Charles Mingus, ein Kalifornier, zettelte beim Jazzfestival in Newport eine kleine Rebellion an. Newport, das war diese Hafenidylle der Schönen und Reichen in Rhode Island, der Treffpunkt der oberen Zehntausend, die Sommerresidenz des damaligen US-Präsidenten, 1956 noch Hintergrund des Grace-Kelly-Films „High Society“ und 1958 Thema der Filmdokumentation „Jazz On A Summer’s Day“. Aus Protest gegen die fortschreitende Kommerzialisierung des Newport Festivals stellten Mingus’ „Newport Rebels“ ein Gegen-Festival auf die Beine, direkt über den Uferklippen. Charles Mingus hatte musikalische Befreiung seit Jahren praktiziert, nun kämpfte er auch für institutionelle Emanzipation. Ein paar Wochen später traute er sich sogar, sein wunderbares Stück „Fables Of Faubus“ erstmals mit Gesangstext aufzunehmen: „Name me a handful that's ridiculous. – Faubus, Rockefeller, Eisenhower. –
Why are they so sick and ridiculous? – They brainwash and teach you hate.“ Es war eine Abrechnung mit Orval Faubus, dem Gouverneur von Arkansas, der 1957 mit US-Streitkräften versucht hatte, die Rassentrennung an den Schulen aufrechtzuerhalten.

Sowohl bei den „Rebels“ wie beim „Faubus“ war ein Musiker mit von der Partie, der zu einer Symbolfigur der neuen Freiheit werden sollte: der Multi-Instrumentalist Eric Dolphy, ebenfalls aus Kalifornien gekommen. Allerdings: Wo war Dolphy damals nicht dabei? In seinen ersten 18 Monaten in New York gastierte er bei Plattenproduktionen von Ornette Coleman, John Coltrane, Abbey Lincoln, Booker Little, Charles Mingus, Max Roach, Gunther Schuller, George Russell und vielen anderen. Auch drei Leader-Platten machte er 1960, es waren seine ersten unter eigenem Namen. Auf der zweiten, „Out There“ (Original Jazz Classics 023), ist er im August 1960 der alleinige Bläser und kann seine phänomenale Spieltechnik und extreme Expressivität ausführlich an vier Instrumenten demonstrieren (Altsax, Bassklarinette, Flöte, Klarinette). Aber nicht nur als Virtuose bewegt sich Dolphy in einer anderen Dimension, auch als Komponist und Harmoniker ist er weit in die Zukunft vorausgeeilt. In seinen Stücken „Out There“ und „The Baron“ rast er durch 7- und 9-taktige Formteile und interpretiert die Akkorde als polytonale Skalen. Seine raffinierten Blues-Themen „Serene“ und „17 West“ verwenden dicht gereihte Harmonien mit 9., 11. oder 13. Stufe. Für konventionelle Jazzfans von 1960 war das das Chaos: Nur wenige hörten, wie konsequent und bewusst Dolphy Freiheitsräume schuf.

Einer, der sich nie als Freejazzer verstand, aber Befreiung politisch und musikalisch einforderte, war Max Roach, der führende Drummer des modernen Jazz. Der Tod seines Mentors Charlie Parker 1955 hatte ihn ins Grübeln gebracht, die Bekanntschaft mit der Sängerin Abbey Lincoln machte ihn zum engagierten Kämpfer. Auch bei den Newport Rebels war er dabei. Und zusammen mit Oscar Brown Jr., dem Sänger und Songschreiber „mit Message“, sollte Max Roach dann im Auftrag der NAACP ein besonderes Werk liefern: ein musikalisches Manifest der afroamerikanischen Emanzipation. Der Anlass: der 100. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei in den USA. Die Auftragsarbeit erhielt den Titel „Freedom Now Suite“, aber die Autoren zerstritten sich über politischen Differenzen. Im Sommer 1960 entstand eine kondensierte Version unter dem Titel „We Insist!“ (Candid 9002) – ein Album von aufschreckender Emotionalität. Es ist eine Art Musikdrama mit kollektiven Bläserimprovisationen und afrikanischer Trommelmagie, mit Anspielungen auf Südafrika („Tears For Johannesburg“) und auf die Worksongs der Plantagen („Driva’ Man“ im 5/4-Takt). Vor allem im Duostück „Triptych“ überschreitet Abbey Lincoln die traditionelle Rolle einer Jazzsängerin und bietet kreischend „eine kochende Beschwörung des Stolzes und des Schmerzes der schwarzen Amerikaner“ – so der Kritiker Nat Hentoff. Auch dem großen Coleman Hawkins unterläuft im Tenorsolo ein Quieker – und er will ihn nicht korrigieren: „Wenn in einem solchen Stück alles richtig ist, dann ist etwas falsch.“ Jazz ist kein Spiel mehr.

Dann kam der Herbst und fuhr die Ernte des Sommers ein. John Coltrane stellte sein eigenes Quartett zusammen – mit McCoy Tyner und Elvin Jones – und nahm an drei Tagen im Oktober Material für drei Platten auf. Als die erste davon erschien – „My Favorite Things“ (Atlantic 81346) –, gab sie dem neuen, freien Jazz eine weitere, eine afrikanisierte Facette: Coltrane war es, der das modale Spiel von Miles’ Cool-Jazz-Betulichkeit befreite und in exotische Ekstasen überführte. Die enorme Wirkung, die das Titelstück hatte, kann man kaum übertreiben: ein Rodgers/Hammerstein-Song als modale Trance-Musik, das Sopransax neu entdeckt als eine Art orientalische Oboe. Manche hielten das Stück für indische Raga-Musik, dabei kam es aus einem aktuellen Broadway-Musical – ein trivialer Walzer über Apfelstrudel und Wiener Schnitzel. Auch die anderen Nummern des Albums – von Gershwin und Porter – sind Bühnensongs, die Coltrane hier reharmonisiert, modalisiert, fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Freiheit ist unüberhörbar geworden.

© 2010, 2021 Hans-Jürgen Schaal


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