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Wer an Jazz denkt, hat meistens diesen unwiderstehlichen Rhythmus im Kopf. Swingende vier Viertel, ein federnder „Walk“, ein fließender Schwung, befeuert von Akzenten neben dem Beat. Der Musikwissenschaftler Jan Slawe schrieb vor 70 Jahren: „Das Erlebnis des Swing-Rhythmus ist sensomotorischer Art und deshalb echter, natürlicher und aufrichtiger als jedes andere intellektuelle Erlebnis.“

Rump-rump-rump-rump
Der swingende Rhythmus
(2018)

Von Hans-Jürgen Schaal

Nach den Worten des Jazzhistorikers Marshall Stearns begann die Swing-Ära am Abend des 21. August 1935. Damals eröffnete das Orchester des Klarinettisten Benny Goodman sein Gastspiel im Palomar Ballroom von Los Angeles. Tausende von begeisterten Zuhörern und ekstatischen Tänzern kamen jeden Abend – einige Wochen lang. Danach war Amerika ein anderes Land: Alle sprachen nur noch vom „Swing“ und machten daraus das nationale Zauberwort des Aufschwungs. Die Bigbands schossen aus dem Boden. Jimmy Dorsey, Tommy Dorsey, Artie Shaw, Woody Herman, Count Basie, Benny Carter, Bob Crosby, Charlie Barnet, Glen Gray und Hunderte anderer Bandleader gründeten eigene Swing-Orchester. Die Beschäftigungsrate für Musiker stieg sprunghaft um 30 Prozent. Als Benny Goodman im nächsten Jahr wieder im Palomar gastierte, zahlte man ihm die dreifache Gage.

Spätestens im März 1937, als das Goodman-Orchester drei Wochen lang im Paramount Theatre in New York City auftrat, hielt der „Swing Craze“ auch an der Ostküste Einzug. Was sich da schon am ersten Tag – und zwar bereits am frühen Morgen! – im Publikum abspielte, hatte die Welt bis dahin nicht gesehen. „Das Theater kochte“, schreibt der Jazzhistoriker James Lincoln Collier. „Die Kids tanzten in den Gängen und drängten sich vor der Bühne um Autogramme. Später kletterten sie sogar auf die Bühne, um dort Jitterbug zu tanzen. Anfangs schritten noch die Saalordner ein, um Ordnung zu halten. Der Manager des Theaters war entsetzt, fürchtete die Verwüstung seines Theaters. Die Publikumsreaktion blieb den ganzen Tag über gleich, fünf Shows lang.“ Eine Teenager-Mode war geboren. Jugendliche sprangen im Konzertsaal auf und tanzten – so wie später zum Rhythm & Blues, zum Rock’n’Roll, zum Beat, zum Rock. „Variety“, das Magazin des amerikanischen Showbiz, nannte Goodmans Eröffnungskonzert eine „historische Sensation“. Es war die Geburtsstunde der Popkultur.

Jazz oder Swing?

Anfang 1936 erhielt das beispiellose Jugend-Phänomen seinen Namen: „Swing“. Doch was genau war Swing? Die Älteren fanden, diese Musik sei doch nur eine Wiederkehr des Jazz unter einem veränderten Produktnamen. „Ihr weißen Leute habt jetzt einfach ein neues Wort für unsere altmodische Hot-Musik“, sagte W.C. Handy, der „Vater des Blues“. Man witzelte, der einzige Unterschied zwischen einer Jazzband und einer Swingband sei: Swingbands haben einen Presse-Agenten. Die Jugendlichen aber, die jetzt „Teenagers“ hießen, wollten von „Jazz“, der Musik ihrer Väter, nichts wissen. Swing – das war für sie etwas völlig anderes, denn es war ihre Musik, moderne Tanzmusik. „Swing ist das Tempo unserer Zeit“, so lautete das viel zitierte Bekenntnis eines Fans.

Die formalen Elemente des Bigband-Swing – das verschränkte Satzspiel, die anfeuernden Riffs, die ekstatischen Soli, die komplexere Harmonik und die Vokaleinlagen –, all das gab es schon vor der explosionsartigen „Geburt des Swing“ im Palomar Ballroom. Auch das „klassische“ Bigband-Format mit 8 bis 9 Bläsern war längst die Norm der Club- und Radio-Orchester gewesen. Neu jedoch war die technische Perfektion. Goodmans Arrangeure lieferten Orchester-Partituren voller raffinierter Details, explosiver Dynamik und verschränkter Aktionen – und Benny Goodman hat an diesen kleinen Kunstwerken gefeilt, bis sein Orchester sie wie eine Hochleistungs-Maschine abspulte. Ganz wichtig war dabei die rhythmische Präzision. Die Rhythmusqualität, von der der Swing-Stil seinen Namen hat, ist das Swing-Feeling. Auch ältere Jazzbands besaßen schon ihren ganz eigenen Drive. Aber sie swingten noch nicht im Sinn der Swing-Bigbands.

Was ist rhythmischer Swing?

Manche glauben, dass der Schlagzeuger Zutty Singleton, ein Freund von Louis Armstrong, als Erster den Swing in den Jazz brachte. Er schlug den regelmäßigen Vierviertel-Beat auf der Bassdrum („four to the bar“) und darüber ein galoppierendes Ride-Cymbal, das Akzente „neben“ den Beat setzte. Als dann die Tuba vom leiseren Kontrabass verdrängt wurde, wanderte der Grundpuls der Schlagzeuger in die Hi-Hat oder ins Becken. Aber das Swingen ist keine Sache des Schlagzeugers allein. Jede Phrase im Satzgeflecht einer Bigband muss „swingen“ – erst dann entsteht der ekstatische, federnde, scheinbar beschleunigende Drive, der die Jugendlichen der Swing-Ära so mitgerissen hat. Jazztheoretiker haben vielfach versucht, diesen Swing-Rhythmus zu definieren. Da fallen dann Begriffe wie „Offbeat“, „Synkope“ oder „Rubato“. Es ist nicht leicht, die kleinen Verschiebungen gegen den Beat zu beschreiben, die den Swing-Rhythmus so wirksam machen. Exakte Messungen zeigen, dass jeder Jazzsolist seine rhythmisch eigene Auffassung von „Swing“ hat. Im Bläsersatz allerdings muss es einen einheitlichen Swing geben.

Am nächsten kommt man dem Swing-Feeling, indem man sich die Viertelnote triolisch unterteilt vorstellt. Die Theoretiker sprechen von einer „ternären“ oder „trinären“ (dreigeteilten) Auffassung der Viertel. Eine Phrase von Achtelnoten beginnt demnach dann zu swingen, wenn man die Note, die zwischen zwei Beats liegt, näher zum folgenden Beat hinrückt, also sozusagen zu einer Achteltriole verkürzt. Beim Swingen gibt es also längere Achtel (in etwa: Triolenviertel) und kürzere Achtel (in etwa: Triolenachtel). Wenn das Schlagzeug diesen Triolen-Galopp durchgängig markiert, spricht man von einem Shuffle-Rhythmus.

Häufig enden swingende Phrasen – ob notiert oder improvisiert – auf „2 und“ (der Achtel nach dem zweiten Beat) oder auf „4 und“ (der Achtel nach dem vierten Beat). Das „und“ ist dann „gefühlt“ der vorweggenommene nächste Beat. Wichtig ist allerdings, dass der Grundbeat sehr strikt gehalten wird: Die ganze Band muss den Beat „spüren“. Denn erst aus der Spannung zwischen diesem festen Vierviertel-Beat und den triolischen Akzenten „neben“ dem Beat entsteht das federnde Swing-Feeling. Einige Jazztheoretiker glauben, diese Spannung sei ein Überrest afrikanischer Polyrhythmik.

Gespielt oder gefühlt?

Zutty Singleton (1898 bis 1975), der Schlagzeuger, der angeblich den Swing-Beat erfunden hat, erzählte darüber Folgendes: „Die Sängerin Ethel Waters kam nach New Orleans, um im Lyric Theatre aufzutreten, und für eine ihrer Spezialnummern zeigte sie mir den Charleston-Beat. Ich habe ihn zuerst nicht gepackt, doch dann fand ich heraus, dass es leichter war, wenn ich auf der Basstrommel alle vier Schläge spielte statt nur zwei.“ Jo Jones (1911 bis 1985), eine andere Swing-Legende, berichtet aus Kansas City: „Bennie Motens Band spielte einen Two-Beat-Rhythmus mit der Betonung auf eins und drei. Walter Pages Band betonte zwei und vier. Als diese beiden Rhythmen sich in Basies Band trafen, entstand ein gleichmäßig dahinfließender Strom – eins, zwei, drei, vier.“ Count Basie nannte den sanften, aber strikten Grundbeat des Swing den „steady rump-rump-rump-rump“. Andere sprachen von einem „heiteren Uhrwerk“.

Der Grundbeat muss aber nicht immer durch einen Schlag markiert werden. Wichtig ist, dass die Band ihn fühlt. Schlagzeuger wie Elvin Jones oder Tony Williams waren bekannt dafür, dass sie über den Beat „hinweggespielt“ haben. Wenn eine Bläserformation ganz ohne Rhythmusgruppe swingt, zum Beispiel ein Saxofonquartett im Jazz, kann der Swing sogar besonders intensiv werden. Von der Swing-Ära bis in den Hardbop der späten 1950er Jahre war der swingende Rhythmus im Jazz eine Selbstverständlichkeit. Als die Latin-Rhythmen aufkamen, verwendete man häufig auch Rhythmuswechsel zwischen Latin und Swing. Wenn ein Latin-Stück im Mittelteil in einen Swing-Beat wechselt, hat das oft einen „erlösenden“ rhythmischen Effekt. Erst im Soul-Jazz (etwa ab 1960) und im Rock-Jazz wurden auch „straighte“ Rhythmen mit gleichmäßigen Achtelnoten bei den Jazzbands populär.

Duke Ellington prägte den Satz (und schrieb die Komposition) „It Don’t Mean A Thing If It Ain’t Got That Swing“. Das hat sich die Jazzwelt jahrzehntelang so übersetzt: „Es hat keinen Wert, wenn es nicht swingt“. In neuerer Zeit allerdings – und auch schon in der Free-Jazz- und Fusion-Ära – sind unzählige Jazzalben erschienen, auf denen man das Swing-Feeling vergebens sucht. Der Jazztheoretiker Ekkehard Jost schrieb einmal: „Swing stellt eine historische Kategorie begrenzter Reichweite dar, da sie für die Jazzmäßigkeit einer Musik kein hinreichendes Kriterium zu liefern vermag.“ Witzbolde haben neuerdings vorgeschlagen, Ellingtons berühmten Satz so zu übersetzen: „Es macht doch nichts, wenn es mal nicht swingt.“

© 2018, 2020 Hans-Jürgen Schaal

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