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Geht progressiver Rock überhaupt noch ohne Steven Wilson? Man könnte meinen, der sanfte Brillenträger aus England sei überall dabei, wo Prog oder experimentelle Rockmusik stattfindet – mal als Produzent, mal als Toningenieur, mal einfach an der akustischen Gitarre, mal als Background-Sänger.

Mr. Porcupine Tree – außer Dienst
Steven Wilson ist endlich Steven Wilson
(2016)

Von Hans-Jürgen Schaal

Seinen Namen findet man auf Alben von Anathema, Ian Anderson, Blackfield, Fish, Anja Garbarek, Steve Hackett, Mick Karn, Opeth, O.S.I., Paatos, Storm Corrosion, David Torn, Travis & Fripp und vielen anderen. Wenn irgendeine Band heute ihren Stil wechselt, wenn sie vielseitiger oder melodischer wird, vermuten die Fans die Schuld gleich bei Steven Wilson – manchmal zu Recht. Sogar bei den Klassikern des Prog-Genres mischt Wilson mit – als Remastering-Ingenieur nämlich. Etliche Aufnahmen von King Crimson, Jethro Tull, Emerson Lake & Palmer, Yes oder Gentle Giant hat er inzwischen in neue Stereo- und 5.1-Versionen gebracht. Dabei fühlt er sich oft in der Rolle des Fans, der die legendären Werke gegen Änderungsvorschläge seiner einstigen Idole verteidigen muss. „Die Originale sind mir heilig“, sagt Wilson, „sie sind der Soundtrack meiner Jugend. Es wäre ein Sakrileg, damit herumzuspielen. Robert Fripp hört nur Details, die ihm nicht passen, und will nachbessern. Und ich muss ihm dann klarmachen, dass seine Hörer an solchen Kleinigkeiten hängen. Ian Anderson ist genauso und möchte eigentlich jede alte Jethro-Tull-Platte neu aufnehmen.“

Steven Wilsons ungewöhnliche Musiklaufbahn begann mit acht Jahren in der englischen Kleinstadt Hemel Hempstead. Damals liefen zu Hause ständig „Dark Side Of The Moon“ und „Tubular Bells“, der Vater war Prog-Fan. Er war aber auch Elektro-Ingenieur und bastelte für Steven eine Multitrack-Bandmaschine – danach brauchte der Junge kein anderes Spielzeug mehr. Er bekam sein eigenes Studio, lernte Gitarre und Keyboards und brachte schon als Teenager Demotapes in Umlauf. Der progressive Rock blieb dabei seine eigentliche musikalische Heimat – ganz gegen den Zeitgeist. „Diese Klänge sickerten in meine DNA“, sagt er. „Als Teenie entdeckte ich King Crimson, Yes und Jethro Tull, während meine Freunde The Jam und The Police hörten. Mir dämmerte schnell, dass ich mit meinen Vorlieben in meiner Generation ziemlich allein war. Dann, als ich anfing Musik zu machen, haben sich alle nur für Grunge interessiert. Und ich machte Spacerock und Ambient-Zeugs mit langen Gitarrensoli... Das Timing hätte schlechter nicht sein können.“

Dennoch ging es um 1990 richtig los – da bekam Wilson die ersten Plattenverträge und hatte schon bald mehrere Projekte am Start. Porcupine Tree, No-Man, I.E.M. oder Bass Communion – die meisten davon waren Solo-Unternehmungen ganz ohne Band. Am bekanntesten wurde Porcupine Tree, deren zweites Studioalbum „Up The Downstair“ (1993) von der Presse bereits als „psychedelisches Meisterwerk“ gefeiert wurde. Auch dieses Projekt, 1987 gestartet, war anfangs nur ein Solo-Pseudonym, Wilson „erfand“ dafür fiktive Mitspieler und ihre fiktiven Biografien. Erst um 1995 wurde Porcupine Tree eine „richtige“, kollektive Band – mit Richard Barbieri (Keyboards), Colin Edwin (Bass) und Chris Maitland (Drums), der 2002 durch Gavin Harrison ersetzt wurde. Porcupine Tree galten als die größte Underground-Band der Welt und seit den Alben „The Sky Moves Sideways“ (1995) und „Signify“ (1996) als die Pink Floyd der Neunziger. Wilsons sanfte Gesangsstimme hypnotisierte die Fans.

Mehr als 20 Jahre lang hat das Kreativ-Kraftwerk Steven Wilson versteckt in solchen Bands und Projekten gewirkt. Erst 2009, als das 10. Studioalbum von Porcupine Tree erschien, veröffentlichte er auch einmal ein Album unter eigenem Namen. Danach traf er eine Entscheidung: Er ließ Porcupine Tree ruhen und machte unter eigenem Namen weiter. Steven Wilson konnte endlich er selbst sein, unbekümmert um Band-Geschichte und Projekt-Ausrichtung und Fan-Erwartung – gemäß seinem Credo: „Künstler sind eher egoistische und isolierte Personen, die sogar ihren Status aufs Spiel setzen, um ihre eigene Kunst weiterzuentwickeln.“

Schon auf dem Doppelalbum Grace For Drowning (2011) spürt man die Befreiung. Steven Wilson folgt seinen innersten Impulsen und erinnert sich daran, dass der von ihm geschätzte ProgRock der frühen 1970er Jahre viele Schnittstellen zu anderen Stilen hatte. „Damals spielten Jazzmusiker und klassisch ausgebildete Musiker zum ersten Mal Rock, das machte es so speziell. Ich wollte daher mehr Jazz in meiner Musik haben. Ich wollte, dass Jazzmusiker Rockmusik spielen.“ Man hört erlesene kleine Besetzungen – mit den „Jazzern“ Theo Travis (Holz & Flöte), Ben Castle (Klarinette) und Nic France (Drums), aber auch mit Musikern von King Crimson, Genesis und Dream Theater. Das meiste macht Wilson natürlich selbst – als betörender Sänger, solofreudiger Gitarrist, jazzaffiner Keyboarder. Geheimnisvolle Lyrismen, heavy Rock-Riffs, dröhnendes Mellotron – man zelebriert eine Prog-Ästhetik up-to-date. In „Remainder The Black Dog“ (9:26, mit Steve Hackett), dem Long-Longtrack „Raider II“ (23:21) und dem Instrumental „Sectarian“ (7:40) ballen sich die Höhepunkte. Weil Wilson mehr Material hat, als auf eine CD passt, konzipiert er zwei CDs von LP-Länge – auch das ein bewusster Rückgriff auf die frühe ProgRock-Ästhetik.

Bei The Raven That Refused To Sing (2013) arbeitet Wilson bereits mit einer festen Band, deren Mitglieder (z.B. Adam Holzman, Govan Guthrie, Marco Minnemann) einiges an Fusion-Jazz-Erfahrung mitbringen und das Album innerhalb einer Woche einspielen. Stilsicher und auf virtuosem Niveau versöhnt die Musik zwei große Prog-Traditionen – erstens die atmosphärische und zweitens die frickelige. Wilsons obercooler, weicher Gesang, der mächtige hypnotische Sog der Musik und die üppigen Gitarren-Exkurse lassen an die Psycho-Trance-Kultur von Pink Floyd denken und machen das Album zu einem echten Seelentrip. Die feinnervigen Episoden, die vertrackten Passagen und die jazzigen Einlagen erinnern dagegen häufig an die Tüftelfabrik von King Crimson, von deren Albumklassikern Wilson ja eine ganze Reihe bearbeitet hat. Diese Mixtur aus Bauch-Sog und Kopf-Akrobatik funktioniert hier wunderbar. Besonders die drei umfangreicheren Stücke „Luminol“ (12:10), „The Holy Drinker“ (10:15) und „The Watchmaker“ (11:42) bieten eine atemberaubende Wechseldusche an Grooves, Stimmungen und Intermezzi. Ein Prog-Klassiker vom Start weg.

Gelegentlich spricht Steven Wilson von seinen Ängsten. Dazu gehört die Sorge um die moderne Vereinsamung, um das Verschwinden der Person in Informations-Flut und Internet-Müll, die urbane Anonymität. Als er vom Schicksal von Joyce Vincent hört, der jungen Frau, die über zwei Jahre lang tot in ihrer Wohnung mitten in London lag, entsteht in ihm die Idee zum Album Hand. Cannot. Erase. (2015). Es enthält dunkle, traurige, wunderschöne Songs in Porcupine-Tree-Manier, aber auch handfeste, packende Prog-Abenteuer. Steven Wilson sagt: „Von Pop bis Elektro über Jazz, Prog und Ambient ist wirklich alles auf dem Album vertreten, was ich bisher in meinem Leben als Musiker gemacht habe.“ Speziell die Longtracks „3 Years Older“ (10:18), „Home Invasion/Regret #9“ (6:24/5:00) und „Ancestral“ (13:30) führen durch eine zerklüftete Landschaft der dynamischen Brüche – zwischen brutalen Metal-Riffs und akustischem Charme. Besonders in „Ancestral“ werden dabei King-Crimson-Einflüsse deutlich: insistierende Gitarrenpatterns, schwere Mellotron-Wogen, koboldhafte Flötentöne und ein Riff, das an „21st Century Schizoid Man“ erinnert. Wilson zeigt sich aber auch als Meister sanfter Vokalkunst: intervallarm, schwebend, fragil. Seine Gesangslinien haben fast keine Melodie – und stecken doch voller emotionaler Hooks.

© 2016, 2018 Hans-Jürgen Schaal


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