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„Laut wird die Posaune klingen“, heißt es in der deutschen Übersetzung der katholischen Totenmesse. Auch Martin Luther benutzte in seiner Bibel-Übertragung gern das Wort „Posaune“: „Posaune“ steht für frommes Blasen. Zu einem Posaunenchor gehören aber auch Kornette, Trompeten, Flügelhörner, Alt-, Tenor-, Baritonhörner, Waldhörner, Tuba oder Euphonium. Zuweilen sogar Holzbläser.

Gloria sei dir geblasen!
Das Phänomen Posaunenchor
(2012)

Von Hans-Jürgen Schaal

Im Evangelischen Posaunendienst in Deutschland e.V. – kurz: EPiD – haben sich 1994 alle evangelischen Posaunenwerke und -verbände zusammengeschlossen. Das sind rund 7.000 Posaunenchöre mit mehr als 120.000 Bläserinnen und Bläsern. Sie alle musizieren zum Lob Gottes, denn: „Lobet ihn mit Posaunen“, so heißt es im Bibelpsalm 150. Man will bläserisch das Evangelium weitertragen, den christlichen Glauben auch außerhalb der Kirchen verkünden. Spaß machen darf die Musik freilich auch. Wie groß und ansteckend der Spaß am Blasen tatsächlich sein kann, verriet der Deutsche Evangelische Posaunentag, der 2008 in Leipzig stattfand. Es war der erste seiner Art seit mehr als 50 Jahren. Zum Abschlussgottesdienst versammelten sich über 16.000 Mitwirkende mit ihren Instrumenten im Leipziger Zentralstadion (heute: Red Bull Arena) und bildeten dort einen einzigen, gewaltigen Posaunenchor. Das war die größte Bläseraktion der Geschichte und erhielt sogar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Den Abschluss im Stadionrund bildete Bachs „Gloria sei dir gesungen“, der Schluss-Choral aus der Kantate BWV 140.

Böhmische Brüder

Michael Praetorius lobte 1619 die Posaune als das vielseitigste aller Blechblas-Instrumente. Denn nur auf der Posaune waren – dank des stufenlosen Zugs – alle Töne und Halbtöne spielbar, sogar in den entlegenen, schlecht temperierten Tonarten. Außerdem mischt sich die Posaune gut mit anderen Klängen und wird deshalb auch zur Verstärkung von vokalen Chorstimmen verwendet. Schon vor der Reformation hat man Motetten gelegentlich ganz auf ein Posaunen-Ensemble übertragen. Dabei konnten Zink, Schalmei oder Flöte als Oberstimme eingesetzt werden. Dagegen war eine Vermischung mit Trompeten lange Zeit unüblich: Die ventillose Trompete war erstens laut und zweitens unflexibel. Meist blieben die Trompeten deshalb unter sich und in ihrer angestammten Tonart. Es ist also nicht unverdient, dass das chorale Blechbläser-Ensemble unter dem Namen „Posaunenchor“ bekannt wurde, auch wenn die Posaune darin heute längst nicht mehr dominiert.

Einer der ersten Posaunenchöre der Reformations-Bewegung ist für das Jahr 1731 belegt. Der Ort: Herrnhut in der Oberlausitz – heute der äußerste südöstliche Zipfel Deutschlands. Dort war aus der böhmischen Reformation, gespeist von hussitischen Anfängen, die Herrnhuter Brüdergemeine [sic!] entstanden. International ist sie heute als „Moravian Church“ bekannt, denn neben den „Böhmischen Brüdern“ waren es vor allem Gläubige aus Mähren, die sich in Herrnhut zusammenfanden. Böhmen und Mähren gelten traditionell als Hochburgen der Bläserkultur: Da ist es kein Wunder, dass Posaunenchöre noch heute bei den Herrnhutern eine große Rolle spielen. 1924 veranstalteten sie ihren ersten Internationalen Bläsertag in Gnadenberg (Schlesien), heute Godnów. Der 35. Brüderische Bläsertag wird zu Pfingsten 2013 in Bad Boll stattfinden, dem Kurort am Rand der Schwäbischen Alb. Es werden mehr als 300 Bläser erwartet, auch aus Südafrika und Nordamerika. Geplant sind u.a. öffentliche Themenkonzerte, ein großes Kurparkkonzert und ein Auftritt im Ulmer Münster.

Posaunenchöre organisieren sich

So richtig Schwung bekam der Posaunenchor-Gedanke im frühen 19. Jahrhundert. Ausschlaggebend waren dafür einerseits die Erfindung der Ventil-Instrumente, vor allem der Bügelhörner, andererseits aber die Erweckungsbewegung des Spätpietismus. Der Zulauf zu den Kirchen wurde so groß, dass man eine „Freiluft-Orgel“ gebraucht hätte: Da waren Bläser-Choräle die Lösung. Die ältesten bis heute noch bestehenden evangelischen Posaunenchöre wurden um 1850 gegründet. Weil die kirchliche Ausbildung am Instrument den Zusammenhalt der Gemeinde erhöhte und soziale Probleme entschärfte („Posaunen statt Branntwein“), hat man die Posaunenchöre dann den evangelischen Jugendorganisationen (CVJM) eingegliedert. Erst 1934 erzwang das Nazi-Regime die Gründung eines eigenen Posaunenchor-Verbands, um diesen der Reichskulturkammer zu unterstellen. Nach 1945 wurde die Organisation der Posaunenchöre zunächst regional verschieden gehandhabt.

Im EPiD sind heute 29 verschiedene Posaunenchor-Verbände vereinigt. Die zahlenmäßig größten sind der Verband evangelischer Posaunenchöre in Bayern e.V. (mit Sitz in Nürnberg), das Evangelische Jugendwerk in Württemberg (mit Sitz in Stuttgart) und das Posaunenwerk der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers [sic!] (mit Sitz in Hildesheim), die zusammen mehr als 50.000 Bläserinnen und Bläser vertreten. Die verschiedenen Verbände und Organisationen veranstalten regelmäßig ihre eigenen Posaunentage auf Kreis-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene ¬– und natürlich regelmäßige Freizeiten und Schulungen. Allein zum zweijährlich stattfindenden württembergischen Landesposaunentag in Ulm kommen fast 10.000 Bläserinnen und Bläser zusammen. Auch der Posaunenchor-Bund der Freikirchen (bcpd) ist mit seinen etwa 1.800 Mitgliedern Teil des EPiD. Im 19. Jahrhundert erreichte die Posaunenchor-Bewegung auch die Schweiz, wo sich 26 Bläser-Ensembles 1907 zum Verband Schweizerischer Posaunenchöre (VSP) zusammenschlossen. Eine Variante des Posaunenchors ist auch die „Brass Band“ der Heilsarmee, die – nach britischer Tradition – keine Trompeten verwendet. Die erste Bläser-Formation der Heilsarmee – ein Quartett – bildete sich in der Adventszeit 1879 in der englischen Kleinstadt Consett.

Der Posaunengeneral

Der evangelische Pastor Johannes Kuhlo (1856 bis 1941) wird häufig als „Vater“ der Posaunenchöre bezeichnet. Tatsächlich hat Kuhlo, der ein begnadeter Flügelhornist war und mit 15 Jahren seinen ersten Posaunenchor gründete, die Entwicklung und Organisation der Posaunenchor-Bewegung zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Sein Motto lautete: „Durchs Horn zum Herrn!“ Als begeisterter Nationalist organisierte „Posaunengeneral“ Kuhlo um 1900 aber auch „Kaiserhuldigungen“ mit Tausenden von Sängern und Bläsern.

Da er den Vokalchor als Vorbild des Posaunenchors verstand, gab Kuhlo dem weichen Klang der Bügelhörner meist den Vorzug vor Trompete und Posaune. Auf seine Anregung geht die Erfindung des Kuhlo-Horns zurück, eines ovalen Flügelhorns. Sein „Kuhlo-Horn-Sextett“, das in den 1920er-Jahren sogar in London, Paris und Moskau auftrat, bestand aus drei Kuhlo-Hörnern, Waldhorn, Euphonium und Tuba. 1926 wurde Kuhlo zum evangelischen „Reichsposaunenwart“ ernannt. Als 1934 von der Politik die Gründung eines Posaunenchor-Verbands erzwungen wurde, machte man ihn natürlich zum Ehrenpräsidenten: Kuhlo war NSDAP-Mitglied und überzeugter Antisemit. Ihm zu Ehren fand auch 1936 in Bielefeld der erste Reichsposaunentag statt – mit rund 4.500 blasenden Teilnehmern.

An Kuhlo erinnert noch heute die Kuhlo-Notation, auch „klingende Notation“ oder „Klangschreibweise“ genannt, die lange Zeit für alle Posaunenchöre verbindlich war. Um mit der singenden Gemeinde reibungslos zusammenarbeiten zu können, sparte sich Kuhlo nämlich das Transponieren und übernahm die Noten, wie sie im Gesangbuch stehen. Soll der Trompeter ein klingendes c’ spielen, so wird ihm auch ein c’ notiert. Lernt er das Instrument im Posaunenchor, so muss er sich außerhalb der Kirche also umgewöhnen: In der üblichen transponierenden Notation für die B-Trompete ist ein notiertes c’ ein klingendes b und ein klingendes c’ ein notiertes d’. Hat der Trompeter aber zuerst nach dieser Notation gelernt, muss er sich im Posaunenchor umstellen und ein d’ greifen, wo ein klingendes c’ steht, und es erklingt ein b, wenn er c’ greift. Hier gilt das Motto: „Wir lesen beim Spielen transponierend.“

Repertoire

Wer im Posaunenchor bläst, lernt eine Menge alter und neuer Choräle und geistlicher Hymnen. Bach natürlich, Scheidt, Stölzel, Pachelbel, Telemann, viel Barock, auch Purcell, Byrd, Gabrieli, Corelli. Dann natürlich das 19. Jahrhundert: Mendelssohn, Reger, Brahms, Rheinberger, Gade. Zu den beliebtesten neueren Posaunenchor-Komponisten zählen Gustav Gunsenheimer, Michael Schütz oder Traugott Fünfgeld. Dazu gibt es Bearbeitungen von Gospels und Spirituals, aber auch weltliche Melodien eignen sich für die Zwecke des Posaunenchors – vor allem, wenn sie feierlich und lyrisch sind: Händels „Largo“ etwa oder Liszts „Liebestraum“. Sogar swingende und rockende Klänge sind heute erlaubt, oft mit Schlagzeugbegleitung. Denn Posaunenchöre spielen ja nicht nur bei Gottesdiensten und Gemeindefeiern, sie geben Ständchen im Krankenhaus und im Altenheim, auf dem Weihnachtsmarkt und bei Stadtfesten. Selbst auf katholischen Fronleichnams-Prozessionen hat man schon evangelische Posaunenchöre gehört. Dabei ist das fromme Blasen auch in der katholischen Kirche längst weit verbreitet. Allein in der Diözese Mainz wirken rund 3.500 Musikerinnen und Musiker in Bläserchören.

© 2012, 2015 Hans-Jürgen Schaal


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