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Ein Käfig voll Tiger und Löwen
Die Clarke-Boland Big Band (1961-1972)
(2008)

Von Hans-Jürgen Schaal

Es gibt Leute, die fahren im Februar nach Köln – des Karnevals wegen. Und es gibt Leute, die fliehen jedes Jahr aus Köln – aus demselben Grund. Auch Gigi Campi konnte die „Karnevalsschundmusik“ nicht ausstehen, blieb aber trotzdem in der Stadt. Schließlich hatte sich der angehende Architekt um sein Lokal in der Hohen Straße zu kümmern, die älteste, kultigste Eisdiele Kölns. Böll und Beuys, die Gréco und die Callas verkehrten dort. Und natürlich die Jazzmusiker von der Kurt-Edelhagen-Band, die gleich gegenüber beim WDR arbeiteten. Gigi Campi war Jazzfan seit den Kriegsjahren, spätestens seit seiner ersten Charlie-Parker-Platte. 1953 hatte er sogar ein Jazzlabel gegründet, er organisierte Konzerte, Festivals und Tourneen. 1956 hatte er damit ziemlich viel Geld verloren, seitdem hielt er sich etwas zurück. „Wenn ich je wieder eine Band promote, dann nur mit einer guten Rhythm Section“, schwor er sich.

Geburt einer Band

Konzerte veranstaltete Campi weiterhin, zum Beispiel in seinem Lokal und ausgerechnet im Karneval. Moderner Live-Jazz – das war sein ganz persönliches Anti-Karnevals-Programm. Im Februar 1960 spielte im „Campi“ der Saxofonist Don Byas, und unter den Begleitmusikern waren Francy Boland (Klavier) und Kenny Clarke (Schlagzeug). Und da passierte es dann: Gigi Campi hörte jene „gute Rhythm Section“, von der er immer geträumt hatte: „Ich wusste sofort, dass ich mit ihnen eine Big Band starten würde.“

Den Schlagzeuger Kenny Clarke hatte Campi erstmals 1949 in Zürich erlebt – damals in der Band von Charlie Parker und Miles Davis. Clarke war der Erfinder des modernen Schlagzeugspiels und eine Schlüsselfigur der Bebop-Revolution. Die Kollegen bewunderten nicht nur seine inspirierende Art zu begleiten, sondern auch sein distinguiertes, selbstsicheres Auftreten. Seit 1956 lebte Clarke in Paris und galt als der „Chef“ der amerikanischen Exil-Musiker, die ein Leben im Ausland dem amerikanischen Alltag vorzogen. Paris wurde durch Kenny Clarke zum europäischen Mekka der Jazz-Schlagzeuger. Clarkes Größe zeigte sich auch darin, dass er in der Clarke-Boland-Band bestens mit einem zweiten Drummer harmonieren sollte, dem Engländer Kenny Clare [sic!].

Den belgischen Pianisten Francy Boland hatte Campi 1955 als Sideman von Chet Baker kennen gelernt. Bolands Big-Band-Arrangements hörte er erstmals bei Kurt Edelhagen im WDR: Besonders seine Fassung von „Johnny One Note“, ursprünglich für Count Basie geschrieben, beeindruckte Campi. Boland schien Basies Relaxtheit und Ellingtons Farbensinn mit der Sprache des modernen Jazz zu verbinden. Mit 13 Jahren hatte er begonnen, für Jazzorchester zu arrangieren, und später in den USA auch für Benny Goodman, Woody Herman und Dizzy Gillespie gearbeitet.

Bolands Arrangiertalent (und sensibles Klavierspiel), verknüpft mit dem magischen Groove von Kenny Clarkes Schlagzeug – darin sah Campi Kern und Motor einer möglichen Band. Eine erste Oktett-Aufnahme mit den beiden gelang überzeugend und wurde prompt von Blue Note veröffentlicht („The Golden Eight“). Und als die Sängerin Billie Poole im Dezember 1961 eine Aufnahme in den Electrola-Studios in Köln kurzfristig absagte, nutzte Campi die bestellte Studiozeit für die Premiere „seiner“ Big Band. In nur vier Stunden entstand die Debütplatte: „Jazz Is Universal“. Die Botschaft dieses Titels war klar: Bester Big-Band-Jazz muss nicht aus Amerika kommen. Für das US-Magazin Down Beat formulierte es Kenny Clarke so: „In Deutschland ist der Standard genauso hoch wie in Amerika, wenn nicht höher.“

Die Bläser-Familie

Die Substanz einer Big Band bilden natürlich die Bläser. Einige fand Campi gleich in der Edelhagen-Band, andere ließ er aus verschiedenen europäischen Städten einfliegen – darunter die US-Exilanten Benny Bailey, Idrees Sulieman, Johnny Griffin, Sahib Shihab oder Nat Peck, alle mit jahrelanger Profi-Erfahrung in amerikanischen Big Bands. Die Schlüsselpositionen als Satzführer übernahmen der Amerikaner Benny Bailey (Trompete), der Engländer Derek Humble (Saxofon) und der Schwede Åke Persson (Posaune). Auch Musiker aus Holland, Österreich, Deutschland, Jugoslawien und Schottland durchliefen die Band – eine unwahrscheinliche Mixtur der Nationalitäten, Religionen, Ideologien und Hautfarben, ein Modell multikultureller Koexistenz, ein gelebtes Vorbild der United Nations. Und ein Glücksfall der Jazzgeschichte.

Jeder der jeweils 12 oder 13 Bläser der Clarke-Boland Big Band (CBBB) war ein gewachsener Solist und potentieller Bandleader. Unterordnung und Disziplin gehörte daher nicht gerade zu den Stärken der Orchestermitglieder. Der Kritiker Mike Hennessey beschrieb die CBBB als „ein verheerendes Sortiment von Egos“, der Saxofonist Johnny Griffin sprach von einem „Zoo mit Tigern, Löwen und Gorillas“. Für die Jazzsängerin Carmen McRae, die mit der CBBB 1970 das Album „November Girl“ aufnahm, war die Band „so ziemlich der undisziplinierteste Haufen Musiker, den ich in meinem Leben gesehen habe“.

Dass die CBBB dennoch ein Jahrzehnt lang funktionierte, verdankte sich der Persönlichkeit der beiden Bandleader. Clarke und Boland waren alles andere als Einpeitscher oder Dompteure. Beide fielen vielmehr durch vornehme Zurückhaltung aus dem Rahmen und hatten die Band allein durch die Autorität und Qualität ihres Könnens im Griff. Denn so unterschiedlich die Musiker der Band sein mochten: Allen ging es am Ende nur um eines, die brillante Musik. Man fühlte sich daher wie eine große, laute, bunte, widersprüchliche, aber unzertrennliche Familie. „Wenn wir jemanden ersetzen müssen, weinen wir beinahe“, erzählte Campi damals. „Wir waren Freunde und wir waren eine der fröhlichsten Bands, die ich je kennen gelernt habe“, erinnerte sich Clarke.

Die Arrangements

Francy Boland beherrschte die Kunst, so zu arrangieren, wie Jazzmusiker improvisieren. Standard-Themen erhielten bei ihm immer diesen jazzmäßigen Zuschnitt: Hier ließ er ein paar Töne weg, dort fügte er welche hinzu, veränderte die rhythmische Gruppierung der Melodie, setzte Schlüsseltöne und kommentierende Akzente zwischen die Beats – vor die Eins, vor die Drei. Einmal stand Kenny Clarke bei einer Probe vom Drumset auf, hörte der schlagzeuglosen Band zu, drehte sich in Seelenruhe einen Joint und meinte nur: „Diese Band braucht gar keinen Drummer. Dieser belgische Motherfucker schreibt seine Stücke so, dass sie von selbst swingen.“

Boland komponierte effektiv und schlicht, ohne Pomp und Angeberei. Mit präziser Dynamik verband seine Musik die Tugenden der großen Swing-Orchester mit der Welt des Bop und Cool. Verglichen mit den gleichzeitigen Neuerungen eines Thad Jones oder Don Ellis war Boland Traditionalist: Der Free Jazz fand in seiner Musik kein Echo. Insofern war die CBBB auch ein nostalgischer Protest gegen den Zeitgeist.

Eine besondere Spezialität Bolands waren durchkomponierte Chorusse für den kompletten Saxofonsatz – als hätte er ein Meistersolo transkribiert und nachträglich fünfstimmig harmonisiert. Der Saxofonist Ronnie Scott meinte über diese Passagen: „Sie waren sehr schwer zu spielen – ‚Sax No End’ habe ich wirklich nie ganz hingekriegt. Aber sie waren herrlich geschrieben und klangen wunderbar. Derek war der Steuermann, und Shihab warf die Anker.“

Boland beherrschte das Spiel mit den Klangfarben, aber er verfügte noch über eine andere Ellington’sche Tugend: Er schrieb für konkrete Musiker und ihre individuellen Stärken und nicht für einen bloßen Klangkörper. Das wurde sofort deutlich, wenn ein Mitglied der Band ersetzt werden musste und die Musik plötzlich ganz spezifische Qualitäten verlor. Die individuelle Zueignung verraten oft schon die Stücktitel, etwa „Griff’s Groove“ (für Johnny Griffin) oder „Lockjaw Blues“ (für den Gast Eddie „Lockjaw“ Davis). Das Album „Faces“ porträtierte sogar die ganze Band in Einzelnummern. Als improvisierende Solisten hatten die Bläser immer Gelegenheit, ihre Stärken konzentriert auszuspielen: Man spürt geradezu, wie sie auf ihr Solo hinfiebern und darin explodieren. Derek Humble glänzte gewöhnlich mit brillanten Charlie-Parker-Läufen, Sahib Shihab mit spaßigen Zitaten auf dem Bariton. Der experimentellste Solist der CBBB-Geschichte war Tony Coe, vor allem an der Klarinette.

Glanzzeit und Ende

Über ein Jahrzehnt lang bestand die CBBB und machte in dieser Zeit beinahe 40 Schallplatten. Boland hatte genug Raum, um – nach Ellingtons Vorbild – auch mehrsätzige Big-Band-Suiten zu verwirklichen, etwa „All Blues“, „Faces“, „Inferno Suite“, „Change Of Scenes“, „Fellini 712“ oder „Middle East Suite“. Es gab eine Blues- und eine Walzerplatte, hin und wieder hatte man namhafte Feature-Gäste – Eddie „Lockjaw“ Davis, Phil Woods, Stan Getz – oder spielte für Sängerinnen.

Gigi Campi war mit der Organisation der mindestens 15-köpfigen Ad-hoc-Band gut beschäftigt, denn das Abklären möglicher Termine und das Einfliegen der Musiker aus ganz Europa verlangten logistisches Geschick. Ihr erstes Live-Konzert gab die Band daher erst nach fünf Jahren, 1966 in Mainz. Es folgten dann aber Auftritte in mehr als einem Dutzend europäischer Länder von Finnland bis Jugoslawien. 1969 hatte die Band ihren Höhepunkt erreicht: Beim zweiwöchigen Gastspiel in Ronnie Scotts eigenem Club in London wuchs sie über sich hinaus und nahm bei dieser Gelegenheit ein Doppel-Album auf. Kurz danach in Prag ging sie aus dem direkten Vergleich mit dem Duke Ellington Orchestra einstimmig als Sieger hervor. Der Melody Maker feierte die CBBB als „die beste heute existierende Bigband“.

Der nächste Schritt hätte Amerika sein müssen. Nicht nur die europäischen, auch die emigrierten amerikanischen Musiker brannten darauf, im Heimatland der Big Bands Eindruck zu machen. Doch aus irgendwelchen Gründen kam die Amerika-Tournee nie zustande. Die Moral der Truppe litt darunter. Als 1971 Derek Humble, der Saxofonsatzführer, mit 39 Jahren starb, schien die Seele der Band dahin: „Manchmal wird man sich der Wichtigkeit eines Menschen erst bewusst, wenn er gegangen ist“, sagte Kenny Clarke. Im Juni 1971 entstand die letzte Platte, Herb Geller übernahm den Altsax-Part. Anfang 1972 gab die CBBB ihr Abschiedskonzert. Letzte Hoffnungen, dass sie sich doch noch erholen könnte, endeten 1975 mit dem Tod des 42-jährigen Åke Persson, des Lead-Posaunisten.


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