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Wer "Tin Pan Alley" sagt, rümpft dabei meistens die Nase: Der Begriff steht für kommerzielle Unterhaltung und leichteste Broadway-Kost. Sehr zu Unrecht, denn in ihrer Blütezeit zwischen 1925 und 1945 erlebte die Alley die glückliche Geburt der amerikanischen Klassik aus dem Geiste des Jazz Age. Von diesen Meisterwerken des "Great American Songbook" profitiert der Jazz bis heute.

Tin Pan Alley
Die Straße der Standards
(1997)

Von Hans-Jürgen Schaal

Es gab eine Zeit vor der Schallplatte, da machten die Verleger das große Geschäft mit der Musik. In New York hießen sie Harms, Shubert, Shapiro-Bernstein, Schirmer oder Universal und versorgten Musiker und Fans zwischen Ost- und Westküste mit den gedruckten Noten der neuesten Schlager - in Millionenauflage. Ihren Sitz hatten sie in der 28. Straße in Manhattan, zwischen der 5. und 6. Avenue: Dort klimperten die Klaviere den ganzen Tag und ließen die Luft schwirren und klirren, als würde ständig ein ganzes Sortiment Blechtöpfe aneinandergeschlagen. Der Songschreiber und Journalist Monroe Rosenfeld taufte den Häuserzug daher Tin Pan Alley - die Straße der Zinnpfannen. Das war im Jahr 1900.

Das Klimpern gehörte in der Alley zum Handwerk, denn in einer Zeit ohne Rundfunk, Fernsehen, Tonfilm, Jukebox und DJs konnte man einen Hit nur machen, wenn man ihn oft genug live spielte. Dafür hatten die Verleger ihre Hauspianisten: Die saßen in kleinen Musikzellen und nudelten bis zu 10 Stunden am Tag die neuesten Schöpfungen der Komponisten. Ihr Publikum waren potentielle Multiplikatoren: Sänger, Tänzer, Instrumentalisten und Orchesterchefs, die auf der Suche nach publikumswirksamem Repertoire die Verlagshäuser abklapperten. Auch George Gershwin begann 1914 als Hauspianist und stieg im Verlag Jerome H. Remick bis zum Song Plugger auf - einem Musikagenten oder -promoter, der die Noten des Hauses den Musikalienhändlern und Theaterleitern verkauft.

Was die Zinnpfannen damals so richtig zum Schwirren brachte, war ein neuer Trend in der Unterhaltungsmusik: die Vermischung des traditionellen amerikanischen Balladenstils mit den wilden Rhythmen der Negertänze aus dem Süden. Irving Berlins "Alexander's Ragtime Band", heute ein Klassiker des Dixieland-Repertoires, begann sein Leben als Alley-Schlager im Jahr 1911 - sechs Jahre vor der ersten Tonaufnahme des Jazz. Viele Menschen im Norden und in Europa hörten Jazziges zum erstenmal durch den Filter solcher Songs, die durch rhythmischen Schwung, freche Texte und gutes Handwerk die alte, operettenhafte Routine schnell davonpusteten.

Der junge Gershwin, voller Bewunderung für Jerome Kern und Irving Berlin, begann damals von einer neuen, künstlerisch wertvollen Unterhaltungsmusik zu träumen. Die meisten Kollegen hatten dafür nur ein Lächeln übrig - so wie die Songschreiber Harry Ruby und Irving Caesar, die Gershwin regelmäßig in seiner Musikzelle besuchten und seine pianistische Virtuosität bestaunten. Gershwins Talent und Ausbildung, kombiniert mit seiner Begeisterung für den Jazz, machten schon seine frühen Songs ("Swanee", "Fascinating Rhythm", "That Certain Feeling") unwiderstehlich und durchbrachen zusehends die Grenzen zwischen U und E. Als Paul Whiteman 1924 Gershwins "Rhapsody In Blue" aufführte, saßen die berühmtesten Musiker der Zeit im Publikum: Strawinsky, Rachmaninow, Heifetz, Kreisler, Sousa, Stokowski.

Es waren die Jahre des Cotton Club und der Harlem Renaissance: Das Leben war elektrisiert, die Musik bekam einen nervösen Sound, die Menschen änderten ihren Rhythmus und ihre Sprache. Die Songschreiber der Alley gerieten in den kreativen Sog dieses neuen Lebensgefühls, verbanden den Witz der Zeit mit dem Willen zur Kunst und komponierten Schlager für die Ewigkeit. Gershwin, Berlin, Kern, Richard Rodgers, Cole Porter, Harold Arlen, Harry Warren und Arthur Schwartz schufen eine neue Ästhetik der Unterhaltungsmusik: den Lovesong als Kunstwerk, als klingende Miniatur, die über die wirre Broadway-Show und den banalen Hollywood-Film hinauswächst zum Klassiker.

Ihren Erfolg und ihr Niveau verdanken die großen Alley-Schöpfungen aber nicht der Musik allein, sondern ihrer Verschmelzung mit dem Songtext. Noch um 1900 gab es nach alter Theatertradition zuerst ein Libretto, danach entstand die Musik. In der Alley kam die Melodie zuerst: ein starker Einfall, der mit europäischer Harmonik, jazzigem Schwung und strenger Logik in klare, achttaktige Einheiten gefaßt wurde. Dann erst kam der "Lyricist" und schneiderte seinen Text genau auf die lebendige Rhythmik der Melodie hin - ein Silben-Mosaik. Für leeres Pathos und bloße Zeilenfüller war da kein Platz mehr: Die Songlyrics eines Ira Gershwin, Lorenz Hart, Johnny Mercer, Irving Berlin oder Cole Porter leben vom Slang, vom Wortwitz, vom reichen Reim. Sie gehören zum Besten, was amerikanische Literatur hervorbrachte, obwohl sie nur ein einziges Thema haben: "I love you" in 32 Takten.

Klar, daß sich die Swing-Musiker auf diese genialen Schlager stürzten und sie vollends in Jazz verwandelten. Auch wenn kein Sänger mit dabei war, klangen da immer leise die wohlbekannten Lyrics mit, und es gehörte lange Zeit zum Ethos eines Jazz-Instrumentalisten, daß er nicht nur über die Harmonien, sondern auch über die Gefühle des Songtexts improvisiert. So verhalf der Jazz den Schlagern aus der Alley zur zweiten Karriere: "The Man I Love" flog aus mehreren Broadway-Shows und wurde erst durch Nachtklubs und Plattenaufnahmen zum großen Hit. "Jeepers Creepers" sang Louis Armstrong in dem Film "Going Places" und machte den Song zu einer seiner Erkennungs-Melodien. "Body And Soul" ist seit Coleman Hawkins' Aufnahme von 1939 die große Herausforderung für jeden Tenorsaxophonisten.

Als nach dem II. Weltkrieg die Blütezeit der Alley vorüber war, die Schlager anders klangen und der Jazz modern wurde, war aus den Songs von Gershwin & Co. das "Great American Songbook" geworden: der klassische Kanon der Jazz-Standards. Mochten die Bebopper auch mit mancher Tradition brechen, mit dieser brachen sie nicht: Auch sie spielten "Out Of Nowhere", "Don't Blame Me" und "I Can't Get Started". Selbst der eigenwillige Thelonious Monk hielt den Songs der 30er Jahre wie "All the Things You Are", "April In Paris" und "Everything Happens To Me" die Treue. Sogar wenn man Eigenes schrieb, vertraute man den Harmonien der Alley: Allein über die Changes von Gershwins "I Got Rhythm" entstanden Dutzende von Bebop-Themen wie "Anthropology", "Chasin' The Bird", "Moose the Mooche", "Dizzy Atmosphere", "52nd Street Theme" oder "Steeplechase".

Was eine Ballade ist, das scheint die Tin Pan Alley ein für allemal für den Jazz definiert zu haben. So sehr sich die Stile änderten, die Instrumentierungen oder Tempi variiert wurden, an den Standards der Alley-Schreiber haben auch die Revolutionäre späterer Jazz-Epochen festgehalten. Als Ornette Coleman mit seinem Free-Jazz-Quartett Chorusgrenzen und Akkorde abschaffte, hatte er Gershwins "Embraceable You" im Programm. Als John Coltrane die Modalität an den Rand zur Ekstase trieb, war der Rodgers-Hammerstein-Walzer "My Favorite Things" sein Theme Song. Als Wayne Shorter bei Weather Report ein unbegleitetes Saxophon-Solo blasen sollte, wählte er "Thanks For The Memory" von 1937.

Und daran hat sich bis heute nichts geändert: Marcus Roberts spielt "Gershwin For Lovers", Roy Hargrove veröffentlicht einen Sampler "Approaching Standards", Dee Dee Bridgewater singt ihren "Tribute To Ella". Das "Great American Songbook" ist das heimliche Rückgrat der Jazz-Geschichte und verträgt wohl noch so manche Umdeutung und Neu-Interpretation. Einst vom Jazz inspiriert, scheint die Substanz der Alley-Hits erst in Jazzer-Händen so richtig aufzublühen. Wie sagte schon Ira Gershwin: "Ich wußte gar nicht, wie gut unsere Songs sind, bevor ich Ella Fitzgerald hörte."

***

Alley Standards
Hits der 30er Jahre

1930
Embraceable You (Gershwin/Gershwin)
On The Sunny Side Of The Street (McHugh/Fields)
I Got Rhythm (Gershwin/Gershwin)
My Ideal (Chase/Robin/Whiting)
Fine And Dandy (Swift/James)
But Not For Me (Gershwin/Gershwin)
Three Little Words (Ruby/Kalmar)
Puttin' On The Ritz (Berlin)
Body And Soul (Green/Heyman/Sour/Eyton)
Georgia On My Mind (Carmichael/Gorrell)
Time On My Hands (Adamson/Gordon/Youmans)

1931
Between The Devil And The Deep Blue Sea (Arlen/Koehler)
Mood Indigo (Ellington/Bigard/Mills)
Sweet And Lovely (Lemare/Arnheim/Tobias)
Just Friends (Klenner/Lewis)
When Your Lover Has Gone (Swan)
Out Of Nowhere (Green/Heyman)

1932
The Song Is You (Kern/Hammerstein)
Don't Blame Me (McHugh/Fields)
April In Paris (Duke/Harburg)
A Ghost Of A Chance (Young/Crosby/Washington)
I'm Getting Sentimental Over You (Bassman/Washington)
Alone Together (Schwartz/Dietz)
How Deep Is The Ocean (Berlin)
Willow Weep For Me (Ronell)
It Don't Mean A Thing (Ellington/Mills)
Isn't It Romantic (Rodgers/Hart)
I've Got The World On A String (Arlen/Koehler)
Night And Day (Porter)

1933
Yesterdays (Kern/Harbach)
Stormy Weather (Arlen/Koehler)
I Cover The Waterfront (Green/Heyman)
Everything I Have Is Yours (Adamson/Lane)
Smoke Gets In Your Eyes (Kern/Harbach)

1934
I Get A Kick Out Of You (Porter)
Blame It On My Youth (Levant/Heyman)
Solitude (Ellington/DeLange/Mills)
Autumn In New York (Duke)
I Only Have Eyes For You (Warren/Dubin)
You And The Night And The Music (Schwartz/Dietz)
My Old Flame (Coslow/Johnson)
Stars Fell On Alabama (Perkins/Parish)

1935
I Won't Dance (Kern/Hammerstein/Harbach/Fields)
Summertime (Gershwin/Gershwin/Heyward)
In A Sentimental Mood (Ellington/Mills/Kurtz)
Goodbye (Jenkins)
Lullaby Of Broadway (Warren/Dubin)
I'm In The Mood For Love (McHugh/Fields)
Begin The Beguine (Porter)

1936
A Fine Romance (Kern/Fields)
I Can't Get Started (Gershwin/Gershwin)
Glad To Be Unhappy (Rodgers/Hart)
Easy To Love (Porter)
I've Got You Under My Skin (Porter)
The Way You Look Tonight (Kern/Fields)

1937
A Foggy Day (Gershwin/Gershwin)
The Lady Is A Tramp (Rodgers/Hart)
By Myself (Schwartz/Dietz)
That Old Feeling (Fain/Brown)
Caravan (Ellington/Mills)
Nice Work If You Can Get It (Gershwin/Gershwin)
My Funny Valentine (Rodgers/Hart)

1938
This Can't Be Love (Rodgers/Hart)
Prelude To A Kiss (Ellington/Gordon/Mills)
I Get Along Without You Very Well (Carmichael/Thompson)
My Heart Belongs To Daddy (Porter)
Don't Be That Way (Goodman/Sampson/Parish)
You Go To My Head (Coots/Gillespie)

1939
All The Things You Are (Kern/Hammerstein)
I Concentrate On You (Porter)
What's New? (Haggart/Burke)
Over The Rainbow (Arlen/Harburg)

© 1997, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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