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Mal Waldron mußte 72 Jahre alt werden, bevor ein Major Label in ihm einen der letzten Giganten aus großer Zeit entdeckte. Anläßlich seines Geburtstags entstand im Sommer 1997 für BMG die neue CD "Soul Eyes", benannt nach Waldrons berühmtestem Stück, Jahrgang 1957. Der einstige Weggefährte von Mingus, Coltrane, Dolphy und Billie Holiday kommentiert den unerwarteten Karrieresprung mit Humor: "Wenn einer so viele Minors spielt" (soll heißen: Stücke in Moll), "dann ist ein Major doch eine nette Abwechslung."

Mal Waldron
Signale vom Piano
(1998)

Dah-dah. Di-dah. Di-dah-di-dit. Wie Morsezeichen kommen die oberen Klaviertöne, folgen unbeirrt ihrer eigenen Logik, führen ein rhythmisches Eigenleben über dem geraden Beat: insistierende Signale, scheinbar stolpernd, wie durch Wiederholungsschleifen gezerrt. In trägem Tempo antworten im Baß dunkle Akkordgebilde, repetitive Donner, schwer von rollendem Blues und romantischem Moll. So greift das Zweiergespann der Hände hinaus in den zu gestaltenden Zeit-Raum, schafft flirrende, verwirrende Punktmuster, die auf der Stelle treten, einer Ligeti-Etüde nicht unähnlich, und sich in sich selbst verschieben, verharren gegen den melodischen Fluß...

Mal Waldron ist einer der letzten großen Einzelgänger am Piano, einer vom Kaliber eines Thelonious Monk, Herbie Nichols, Randy Weston. Das war nicht immer so. Als der Bassist Julian Euell den 28-Jährigen seinem Lehrer Charles Mingus empfahl, stand Waldron noch ganz unterm Einfluß der Bud-Powell-Schule. "Ich hörte Bud Powell und Horace Silver und versuchte nachzuahmen, was ich hörte. Aber Mingus sagte: 'Wenn du hier irgendjemanden imitierst, breche ich dir das Genick.' Na ja, da habe ich es mir lieber anders überlegt und mich auf meine eigenen Qualitäten besonnen. Mit gebrochenem Genick läßt sich schwer arbeiten." Mal Waldrons Humor ist unwiderstehlich: Auch dem 72-Jährigen erscheint die Welt noch wunderlich und zuweilen grotesk. "Ich hatte ein gutes Verhältnis zu Mingus. Er war wie ein großer Bruder zu mir. Der darf dem kleinen Bruder jederzeit den Hintern versohlen, aber der kleine nie dem großen." Wieder dieses Lachen, schelmisch und alterslos.

Auf dem Weg zum eigenen Stil entdeckte Waldron dann Thelonious Monk als Orientierungshilfe. "Monk spielte ökonomisch. Er brauchte nur einen einzigen Ton, um das zu sagen, was andere mit zehn Tönen sagen. Ich hörte Monks Musik und wuchs daran." Waldrons Pianistik nahm Monks bohrende Sperrigkeit an und radikalisierte sie noch: Die Phrasierung schrumpfte zu einem Ensemble vereinzelter Noten, zu pointillistischen Figurationen, abstrakten Patterns, einem fast technizistischen Code. Der gewaltige Eindruck, den Mingus' "Pithecanthropus Erectus" von 1956 noch heute macht, geht mit aufs Konto dieser futuristischen Klavier-Ästhetik.

Als Mingus im Folgejahr keine dauerhafte Beschäftigung mehr bot, nahm Waldron das Angebot an, Billie Holidays Pianist zu werden. Über diesen unwahrscheinlichen Richtungswechsel wunderte sich damals noch niemand: "Ich hatte ja noch keinen Namen in der Szene, ich war ein Nobody. Ich glaube, meine erste eigene Platte erschien erst später." Und er ergänzt mit einem koboldhaften Lachen: "Ganz sicher bin ich mir aber nicht, was die Daten angeht. Weißt du, Mr. Alzheimer steht schon bei mir vor der Haustür." Die vermeintliche Rückwendung zur Swing-Tradition Billie Holidays war indes für den Pianisten Mal Waldron auch ein Schritt nach vorne. "Ich lernte von Billie Holiday, hinterm Beat zu phrasieren und nicht stur in 4/4 zu denken. Ich begriff auch, wie wichtig die Songtexte sind. Ich begann, die Worte der Stücke mitzudenken, und fand plötzlich mehr, über das ich improvisieren konnte: Schmerz und Glück. Wenn sie länger gelebt hätte, hätte ich für Billie sicherlich noch mehr Songs geschrieben."

Ein guter Stückeschreiber war er ja immer: Schließlich hat der Mann mal bei einem Bartók-Schüler studiert und machte am Queens College seinen B.A. in Komposition. In den späten Fünfzigern arbeitete er daher für die Plattenfirma Prestige/New Jazz erfolgreich als Hauspianist und künstlerischer Leiter ihrer Aufnahmesessions. Er übernahm den Klavierpart, lieferte die Arrangements und oftmals die Kompositionen, erklärte, wie die Stücke gespielt werden sollten, und dirigierte die Ensembles. Als Prestige im März 1957 zwei Tenoristen und zwei Trompeter ins Studio lud und man kurzfristig beschloss, es solle mehr als nur eine Jam-Session daraus werden, schrieb Waldron über Nacht jene vier Stücke, die dann unter dem Titel "Interplay" auf Platte erschienen.

Eines davon war die Ballade "Soul Eyes", speziell für John Coltrane komponiert. "Ich wußte, daß Coltrane dabei sein sollte, und ich kannte seinen Sound. Fünf Jahre später hat er 'Soul Eyes' dann auch mit seinem eigenen Quartett aufgenommen." Und mit einem Grinsen fügt Waldron hinzu: "Ich bin sehr froh, daß ich dieses Stück geschrieben habe, denn es ist äußerst beliebt. Allein in den letzten Monaten haben es wieder drei Leute aufgenommen, und ich werde Mühe haben, da mit dem Geldzählen hinterherzukommen." Nicht ohne Grund hält Waldron "Interplay" für eine der drei wichtigsten unter den rund 200 Platten-Dates, die er für Prestige leitete.

Natürlich machte er auch eigene Aufnahmen für das Label: Sechs Waldron-Alben entstanden zwischen November 1956 und Juni 1961, und unter den Sidemen finden sich Namen wie John Coltrane, Booker Ervin, Elvin Jones, Jackie McLean, Art Farmer oder Eric Dolphy. Die künstlerische Verbindung mit Dolphy war besonders fruchtbar - nachzuprüfen auf Platten von Ron Carter, Abbey Lincoln und Max Roach oder auf Waldrons "The Quest" und Dolphys legendären Five-Spot-Aufnahmen. "Ich glaube, ich lernte Eric Dolphy durch Max Roach kennen. Wir spielten die 'Freedom Now Suite' in einem Club, es war wohl die Jazz Gallery, und Eric gehörte zur Band. Er war ein relaxter Typ, aber immer mit seiner Musik beschäftigt. Wir waren gute Freunde, obwohl wir nicht viel miteinander reden konnten, denn er nahm ja kaum mal sein Horn aus dem Mund. Es war, als wüßte er, daß er keine Zeit verlieren durfte, daß er nicht lange leben würde. Leute wie ich gingen es gemütlicher an: Wir machten mal eine Pause, aßen einen Hamburger oder einen Hot Dog, gingen in eine Bar und quatschten. Wir wußten wahrscheinlich, daß uns etwas mehr Dauer beschieden war. Dolphy und Coltrane dagegen übten die ganze Zeit wie Besessene."

Zu den Überlebenden jener Jahre gehören auch Joe Henderson und Abbey Lincoln, die im Sommer 1997 bei der Party zu Waldrons 72. Geburtstag musikalisch gratulierten. Seit die beiden von einem Major-Label vermarktet werden, sind ihnen vorderste Plätze in den Charts und Polls sicher - ein gutes Omen auch für Waldron. "Ich hatte Joe Henderson viele Jahre lang nicht gesehen. Er wurde extra aus San Francisco eingeflogen, aber wir konnten ihn nur für ein einziges Stück auf der CD unter Vertrag nehmen, er war zu teuer." Abbey Lincoln war dagegen ohnehin für das Festival gebucht und zudem für zwei komplette Stücke zu haben. Das eine ist ein Remake von "Straight Ahead", das sie 1961 mit Waldron schrieb und aufnahm, das andere ein Billie-Holiday-Klassiker, den Waldron in Billies letzten Jahren wohl unzählige Male begleitete: "God Bless The Child". Die Wahl macht Sinn: "Abbey erinnerte mich damals sehr stark an Billie. Sie hatte dieselbe stolze Haltung, dieses Auftreten als starke schwarze Frau. Das waren wir damals noch nicht gewöhnt."

Obwohl man auf große Namen und einige Waldron-Evergreens nicht verzichten wollte, sieht der Pianist seine neue CD nicht als Retrospektive. "Ich benützte zwar ein paar alte Stücke, aber ich spielte sie so, wie ich sie heute spiele." Es sind vor allem Steve Coleman und Jeanne Lee, die frische, unverbrauchte Gefühle in die Musik bringen. Coleman fehlte zwar bei der Party der Veteranen und nahm seine Tracks erst zwei Monate später in New York auf, doch sein boppig verwinkeltes Spiel auf "Judy" verträgt sich bestens mit Waldrons eigenwilligem Klangkosmos. Der von Jeanne Lee gesungene "Fire Waltz", einst für Eric Dolphy geschrieben, erklingt hier so sanft und melodisch wie nie und scheint ein ganz anderes Stück geworden zu sein.

Nun gibt also auch Mal Waldron, einst die Ikone der europäischen Independent-Labels, in diesen immergleichen, riesigen Major-Etagen seine Interviews nach Zeitplan. Etwas verloren wirkt der schmächtige Mann in dem großen Raum am Ende eines unübersehbaren Flurs mit unzähligen solchen Räumen. Ein Karrieresprung mit 72 Jahren? Vielleicht wäre Waldron längst ein Jazz-Denkmal, hätte er nicht 1963 die Szene verlassen - und bald darauf Amerika. Der Auslöser: eine Überdosis Heroin, die zu einem Nervenzusammenbruch führte. "Danach konnte ich meine Hände nicht mehr gebrauchen, sie zitterten wie verrückt. Ich wußte meinen Namen nicht mehr, ich konnte mich an keine Changes erinnern, ich wußte nicht, wie man einen Akkord greift und wo auf dem Klavier welche Töne sind. Sechs Monate lang wurde ich im East Elmhurst Hospital behandelt. Man gab mir Elektroschocks und machte Rückenmarks-Punktionen, um die mentale Blockierung zu lösen." Als er entlassen wurde, war er noch immer unfähig, Improvisationen zu spielen oder die Time zu halten. Er trainierte anhand der eigenen Platten und reproduzierte im Konzert Soli, die er vorher eingeübt hatte. "Es dauerte zehn Jahre, bis ich wieder meinen Ausgangspunkt erreicht hatte."

Zum Glück erhielt Waldron damals ein paar Kompositions-Aufträge für Filmmusiken, so daß er nicht völlig aufs Klavierspielen angewiesen war. Einer dieser Aufträge führte ihn nach Paris, und diese Erfahrung veränderte sein Leben für immer. "Ich war weg von der Drogenszene, weg von Amerika. Wenn du schwarz bist und Jazz-Musiker, steht es in Amerika 0:2 gegen dich, aber in Europa 2:0 für dich." Waldron wählte "die andere Seite der Medaille": Für europäische Jazz-Fans war er eine lebende Legende. Er machte Schallplatten in Frankreich und Italien und kam 1969 nach München, wo er mit seinen Aufnahmen gleich zwei Jazz-Labels den Startschuß gab: ECM und ENJA. Platten wie "Free At Last" und "Black Glory" ließen die 50er Jahre endgültig hinter sich und machten Waldron zu einem Protagonisten des befreiten Jazz. Seine pianistischen Morse-Signale klangen nun womöglich noch zerrissener, noch unberechenbarer als zehn Jahre vorher, seine Bässe noch dunkler, noch rockender. Rund 20 Jahre lebte er in der Bayern-Metropole - ein Einzelkämpfer der Innovation, Aktivposten der lokalen Szene, Förderer unzähliger Musiker. Waldron wehrt lachend ab: "Kann nix dafür, kann nix dafür", ruft er auf deutsch, und: "Man tut, was man kann!"

Auch einen alten Bekannten fand er in Europa wieder. Steve Lacy, der Archimedes des Sopransaxophons, zog 1969 nach Paris und bildete bald mit Waldron das unkonventionellste, verquerste Jazz-Gespann, das man sich vorstellen kann. "Wir kannten einander aus den Staaten. Wir spielten oft im Five Spot bei Jazz-and-Poetry-Auftritten von Allen Ginsberg oder Kenneth Rexroth. Dann wollte mich Steve auch auf seiner Platte 'Reflections' dabeihaben. Er wohnte gleich neben dem Five Spot, also saßen wir oft bei ihm, redeten und rauchten einen Joint. Nein, laß das mit dem Rauchen weg, wir saßen nur da und redeten!" Noch immer arbeiten der Klavier-Minimalist und der Sopran-Philosoph gerne miteinander: Im letzten Jahr waren es etwa 10 gemeinsame Konzerte. Das Interesse an Monk hält sie zusammen, aber auch die Liebe zu Herbie Nichols, Duke Ellington und Billy-Strayhorn-Songs. "Und wir sind beide im Sternzeichen des Löwen geboren."

Nicht nur Europa hatte ein offenes Ohr für den sperrigen US-Exilanten Waldron. Die Platte "All Alone", die in Italien entstand, machte seinen Namen auf einen Schlag in Japan populär. "Sie mochten die Musik, weil sie fanden, daß sie nach Einsamkeit klingt. Die Japaner sind ein Inselvolk und daher sehr einsame Menschen. Alles Traurige und Stille zieht sie an, und sie mögen Moll-Töne. Also spielte ich für sie nur noch traurige, einsame Stücke in Moll, bis sie mich den 'lonely poet' nannten und beschlossen, ich müßte ein einsamer Mensch sein und einsam bleiben bis zu meinem Tod. Sie bauten da so einen Mythos auf um mich und Billie Holiday und bauen immer weiter daran. Vergeblich habe ich versucht, diesen Mythos zu erschüttern. Ich sagte: Ich habe zwei Kinder, und sie sagten: Nein, du bist ein einsamer Mensch. Ich sagte: Ich habe jetzt fünf Kinder, und sie sagten: Mach bloß keinen Ärger. Ich sagte: Ich habe sieben Kinder und zwei Enkel, und sie sagten weiterhin: Nein, du bist einsam."

Mal Waldron erzählt es lachend, aber mit Liebe. Das japanische Jazz-Magazin Swing Journal holte ihn 1970 erstmals für zwei Wochen ins Land. Man zeigte ihm die Städte und Tempel und nahm zwei Platten mit ihm auf. Seitdem wird er jedes Jahr nach Japan eingeladen, ist inzwischen mit einer Japanerin verheiratet und engagiert sich in Musikprojekten zur japanischen Kultur und Geschichte. "Einmal spielte ich eine Drei-Monats-Tournee, 86 Konzerte in 90 Tagen. An den freien Tagen mußte ich in Plattenläden Autogramme geben. Als ich nach Hause kam, war ich absolut erledigt. Das japanische Publikum ist sehr speziell. Sie besorgen sich alles Lesbare über dich, kaufen alle deine Platten und hören sie intensiv an, bevor sie in dein Konzert kommen. Nach dem Konzert bildet sich dann eine lange Schlange von Leuten: Die bringen ihre CDs mit und lassen jede einzelne signieren, 20 bis 30 Stück pro Person. Das ist eine Aufgabe von drei Stunden und anstrengender als das Konzert selber. Wenn du so oft deinen Namen schreibst, weißt du am Ende wenigstens, wer du bist."

Wie er so dasitzt, schmal, weise, freundlich, immer zu Scherzen aufgelegt, scheint sein Gesicht selbst japanische Züge anzunehmen. "Als ich zum ersten Mal nach Japan kam", bestätigt er mir gerade, "hatte ich das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein. In einem früheren Leben war ich wohl Japaner. Ich habe festgestellt, daß viele meiner Melodien an alte japanische Weisen erinnern." Grau steigt der Qualm seines dunklen Zigarillos über die schwarze Stirn und das weiße Haar. Denkt er sich weg zu schwarzweißen Klaviertasten? Oder zu einem schwarzweißen Schachbrett, seiner zweiten Leidenschaft? "Ich spiele jeden Tag Schach - mit meinem Schachcomputer. Wenn es da einen Zusammenhang gibt mit dem Klavierspiel, dann jedenfalls keinen bewußten. Doch, ja: Ich summe Melodien beim Schachspielen, da geht meine Frau jedes Mal beinahe die Wände hoch." Ich sehe ein Schachbrett vor mir, unregelmäßig verteilte Figuren im Raum, ein willkürliches Muster aus punktuellen Signalen, und ich höre im Kopf eine Improvisation von Mal Waldron. Dah-dah. Di-dah. Di-dah-di-dit.

© 1998, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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