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Tenor Madness
Ein Porträt des Saxophonisten Ralph Lalama
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

An manchen Abenden drohte New Yorks Jazzclub Visiones aus den Nähten zu platzen. Der Grund dafür war nicht der Auftritt eines Superstars, die Premiere einer All-Star-Band oder die Wiederkehr einer heimlichen Jazz-Legende. Der Grund war eine schlichte Jam Session ganz ohne große Namen. Bei nur 5 Dollar Eintritt stand dort nämlich einmal in der Woche New Yorks Jazz-Nachwuchs Schlange: Die 15- bis 20jährigen Greenhorns, vielfach Studenten der nahen Universität, brachten ihre Instrumente mit, um auf einer richtigen Live-Bühne ihr Können zu demonstrieren und das echte Feeling zu tanken. Ein älterer schwarzer Herr stellte mit Humor die Ad-hoc-Formationen zusammen, gewöhnlich Quintette mit zwei Bläsern, ließ sie das Real Book durchpflügen, schickte sie wieder von der Bühne und organisierte die nächste Band. "We need a trumpet player! Any trumpet players out there?" Saxophonisten gab's immer im Überfluß, Baßspieler waren meist Mangelware. Merke: Ein guter Bassist kriegt immer einen Job.

Hinten am Tresen stand etwas verschwitzt ein kräftiger Mann mit grauem Wuschelkopf und Brille und betrachtete das improvisierte Treiben wohlwollend und sichtlich interessiert. Ralph Lalama, Organisator und Gastgeber der wöchentlichen Jam Session, hatte zur Einstimmung den ersten Set bestritten und überließ dann der Jazz-Zukunft den Spielplatz. An einem anderen Tag der Woche tat er dasselbe im St. Mark's Cafe im East Village. Seitdem das Visiones geschlossen ist, findet die Jam-Session donnerstags im Savoy statt, sonntags im C Note. Am Montagabend, der klassischen Big-Band-Nacht, steht Lalama mit dem Orchester des Village Vanguard auf der Bühne. An zwei weiteren Tagen der Woche unterrichtet er an der Universität: private Saxophon-Einzelstunden und Combo-Spiel. Daneben tritt der Tenorspieler mit seinem eigenen Quartett regelmäßig im Jazz Standard auf (am Klavier: Richard Wyands) und ist Mitglied in Jon Faddis' Carnegie Hall Orchestra. Jazz in New York City: ein voller Terminkalender.

Der Italo-Amerikaner, entfernt mit Henry Mancini verwandt und bestens mit Joe Lovano befreundet, blickt auf einen Werdegang zurück, wie er seit der Ära des Swing für Jazzmusiker typisch ist. Mit 9 lernte er Klarinette, mit 14 kam er zum Tenor, mit 16 wurde er Profi-Musiker, mit 24 kam er nach New York und ging bei den Big Bands in die Lehre. "Das Woody Herman Orchestra war die erste professionelle Big Band, in der ich spielte. Woody verlangte viel von jedem, und er lehrte mich vieles: was das Publikum von dir erwartet, was ein Bandleader erwartet und wie man versteht, was ein Bandleader möchte. Einige aus Woodys Band wurden für mich Freunde fürs Leben. Auch Joe Lovano war schon bei Woody Herman mein Kollege wie später bei Mel Lewis. 1980 ging ich dann zu Buddy Rich: Da waren die technischen Anforderungen schon härter. Man mußte schneller spielen, mehr Noten spielen, ganz bestimmte Techniken entwickeln."

Kurz nach Lalamas Ankunft in New York wurde der Trompeter Thad Jones (1923-1986) sein Förderer: Er berief den Saxophonisten mal als zweiten Bläser in seine Combo oder als Ersatzmann ins Jones-Lewis-Orchester. Ab 1983 gehörte Lalama fest dem Mel Lewis Orchestra an und war 1988 mit von der Partie, als die beiden CDs "The Definitive Thad Jones" aufgenommen wurden. Dick Oatts, Ted Nash, Joe Lovano, Ralph Lalama und Gary Smulyan - so hieß der Saxophonsatz. "Das Mel Lewis Jazz Orchestra war wie das Leben: eine komplette Erfahrung. Deine Musikalität war gefordert, deine Technik, deine Fähigkeit als Solist. Die Soli gingen über weite Strecken, die Musik war anspruchsvoll, aber mit viel Gefühl. Erst Herman, dann Rich, dann Lewis: Für meine Entwicklung war das wie High School, College, und dann hinaus in die weite Welt."

Sein CD-Debüt als Leader hatte Ralph Lalama 1990. Im gleichen Jahr nahm Kollege Lovano seine erste Blue-Note-Scheibe auf, die ihn international bekannt machte. Bei Lalama erkannten vorerst nur die Kritiker das große Potential und diagnostizierten selbstbewußte Anklänge an John Coltrane, Dexter Gordon, Hank Mobley und - immer wieder - Sonny Rollins. Neben drei eigenen Stücken und einer Komposition von Thad Jones enthielt Lalamas Debüt-CD "Feelin' And Dealin'" fast nur Stücke, deren Bezug zu großen Tenoristen unübersehbar und unüberhörbar war: zu Harold Land, Hank Mobley, Joe Henderson, Sonny Rollins. "Ich spiele ein Stück, weil es mir gefällt. Aber ich höre natürlich viele Tenorsaxophonisten und lerne so die meisten Stücke durch deren Aufnahmen kennen. Ihre Versionen inspirieren mich, sie geben mir den Unterbau, aber ich spiele die Stücke dennoch auf meine Art. In meinem Arrangement von 'Giant Steps' zum Beispiel wähle ich ein langsameres Tempo und verwende eine Vamp-Figur. Ich will mich nicht mit den Großen messen, eher klingt in meinem Spiel Respekt an."

Die Geschichte des modernen Tenorsaxophons zieht sich wie ein roter Faden durch Lalamas CDs. "Momentum", sein zweites Album und im Jahr 1993 eines der meistgespielten auf New Yorks führendem Jazz-Sender WBGO, bot Neufassungen von so selten gehörten Stücken wie Dexter Gordons "Rainbow People", Hank Mobleys "The Breakthrough", Sonny Rollins' "Kids Know". Auf CD Nummer 3 und 4 folgten weitere Kompositionen großer Tenoristen wie Wayne Shorter, John Coltrane, Joe Henderson, Sonny Rollins: Lalamas Welt scheint nur aus Tenorsaxophonen zu bestehen. "Joe Lovano und ich, wir beide mögen Hardbop, und wir beide schätzen große Saxophonisten. Wir sitzen gerne zusammen, hören uns Saxophonisten an, stellen fest, wer wen beeinflußt hat, und konstruieren 'Schulen'."

Mit zwei anderen Tenor-Verrückten fand Lalama in der Formation "Tenor Triangle" zusammen. In bester Tenor-Battle-Tradition mißt man hier die Kräfte und die Phantasie aneinander und ehrt damit zugleich das Instrument und seine Meister. "Tell It Like It Is" hieß die erste CD, und Wayne Shorters gleichnamiges Stück bildete auch den Auftakt. Eric Alexander eröffnet den Tenorsax-Reigen, der Mann aus Chicago mit den leichtfüßigen Bebop-Läufen. Tad Shull ist der zweite, ein Tenorist mit schwerem, nostalgischem Hawkins-Ton. Und dann kommt Lalama und verblüfft durch Autorität: Seine Phrasen stehen da wie gemeißelt, melodisch originell, harmonisch raffiniert. Im direkten Vergleich mit seinen Mitstreitern wird Lalamas größtes Vorbild erkennbar: Es heißt Sonny Rollins.

"Ja, Rollins! Es ist vor allem sein Sound, der ihn auszeichnet. Ich habe einfach eine Schwäche für diesen mächtigen, dicken Ton. Und für Sonnys melodische Art zu improvisieren: Wie auch immer die Harmonien sich entwickeln, er kommt immer mit großartigen melodischen Ideen daher. Und natürlich sein Rhythmus! Joe Hendersons Ton zum Beispiel ist natürlich genauso effektiv, nur eben kleiner. Joe verfügt auch über eine tolle Rhythmik, seine Harmonik ist wunderbar, entwickelter als die von Sonny, er arbeitet mehr mit Substitutions-Akkorden und solchen Sachen. Ich möchte nicht sagen, einer wäre besser als der andere, sie sind einfach verschieden. Mein Favorit allerdings ist Sonny. Ich weiß nicht, ob meine Persönlichkeit der seinen ähnelt, aber musikalisch ist er jedenfalls genau mein Fall: großer Ton, ausgeprägte Rhythmik, harter Drive."

Aus Lalamas Worten spricht Bescheidenheit. Der 47jährige kennt keine Künstler-Allüren, sondern hält sich für einen ganz normalen Menschen, der nur zufällig sein Geld mit Saxophonspielen verdient. Der ständige Kontakt mit seinen Schülern hilft zudem, die Realität nicht aus dem Auge zu verlieren. "Ich liebe es zu unterrichten. Ich gebe mein Wissen gerne weiter. Nicht jeder meiner Schüler wird ein großer Saxophonist werden, aber ich lehre auch gern die Saxophonlehrer von morgen." Einer bestimmten pädagogischen Methode folgt Lalama allerdings nicht, denn das Niveau seiner Schüler ist dafür zu verschieden. "Manche haben noch keinerlei Technik, denen kann ich nichts über Jazz erzählen. Ich habe ein paar Intonations-Übungen entwickelt, die vielleicht helfen, und ich benütze einige uralte klassische Saxophon-Lehrbücher. Aber ansonsten lehre ich einfach, was ich weiß." Und das ist eine Menge, denn Lalama hat selbst verschiedene "Lehren" absolviert. Ursprünglich lernte er sein Instrument nach Noten zu spielen, löste sich wieder davon, um das Improvisieren zu üben, und vertiefte danach auf College und Universität sein Jazz-Wissen. "Man muß Theorie und Gehör verbinden können. Als ich mit 14 anfing, Soli zu improvisieren, war ich erst nervös und gehemmt, denn ich starrte nur auf die Noten vor mir. Daraufhin übte ich, nur nach Gehör zu spielen: Wenn du improvisierst, mußt du lernen, Töne mit dem Ohr, nicht mit dem Auge aufzunehmen. Improvisation bedeutet, alles spielen zu können, was du in dir hörst."

Im Booklet einer seiner CDs wird Lalama mit dem Satz zitiert: "Coltrane war der Himmel, Rollins ist die Erde." Wer aber ist Ralph Lalama? Der Saxophonist hat eine unpathetische und pragmatische Antwort parat: Er sieht sich selbst im Flugzeug sitzen zwischen Himmel und Erde - auf dem Weg zum nächsten Gig. "Ich habe wohl auch meine spirituelle Seite, aber im Grunde bin ich ein erdverbundener Mensch. Ich möchte meine Musik auf den Punkt bringen, die Akkorde treffen, mit dem Rhythmus spielen, Spaß haben und die Leute zum Lächeln bringen. Ich bin einfach eine Art Entertainer."

© 1998, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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