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Am 6. September 1877 wurde Buddy Bolden geboren, der Vater des Jazz. Doch nach einer angeblich existierenden Tonaufnahme des ersten Jazzmusikers wird seit Generationen vergeblich gefahndet. Wie Buddy Bolden aus 1000 musikalischen Zutaten den richtigen Zaubertrank mischte, ist daher der Stoff vieler fantasievoller Legenden.

Buddy Bolden
Der Tiger aus der Praline
(2002)

Von Hans-Jürgen Schaal

Jeden Sonntag zog es Buddy Bolden in die Fourth Baptist Church in New Orleans. Die Nachbarn in der First Street beschwerten sich gelegentlich – trotz aller Frömmigkeit – über den Lärm des Gottesdiensts: dröhnende Call-und-Response-Gesänge, Holy-Roller-Rhythmen, ekstatisches Tänzeln mit Händeklatschen auf 2 und 4. Völlig angetörnt stolperte Bolden danach ins Freie: "Hey, Reverend, das hatte ja wieder richtig Swing heute!" In Musikerkreisen hieß es, Bolden ginge da nur hin, um Ideen zu klauen. Klang sein Spiel neuerdings nicht wie der Gesang des Baptisten-Predigers? Trugen seine langsamen Tanznummern nicht das Echo frommer Hymnen? Erinnerten seine Auftritte im Lincoln Park nicht ein wenig an spirituelle Camp Meetings? So ganz geheuer war das alles nicht, denn gleichzeitig tönte aus Boldens Kornett der Blues, die Musik des Teufels. Und wenn er nachts die stillen, verführerischen Töne des Bösen durchs offene Fenster blies, waren die Nachbarn zu Tränen gerührt. Trotz aller Frömmigkeit.

Am 13. Mai 1896 um 13.05 Uhr Ortszeit erfand Buddy Bolden in New Orleans den Jazz. In dieser Minute nämlich kündigte er dem letzten Geiger, der aus Charles Galloways alter Band noch übrig geblieben war. "Geh mir aus den Augen mit deinen kratzigen Schweinsdarmsaiten und stinkenden Pferdehaarbogen! Und dann gib Acht, was passiert, wenn wir diese alten kreolischen Walzer, Quadrillen und Schottischen Tänze im Stil einer Marching Band aufpäppeln! Wenn wir Rags und Blues auf die heiße Blechpfanne legen!" Das war in der Tat neu: ein Tanzorchester ohne Noten, ohne Geigen, ohne Steifheit. Die in New Orleans beliebte Quadrille "La Praline" mutierte zum "Rag No.2", dem "Tiger Rag", über dessen Urheberschaft noch heute gestritten wird. Charles Joseph Bolden, genannt "Buddy", befreite nicht nur diesen Tiger aus der Praline, er erfand den instrumentalen Blues, die kollektive Improvisation, die Hot-Tongebung, den verblüffenden Solo-Break, die Basis-Sprache des Jazz. Nur dass es das Wort "Jazz" noch gar nicht gab.

Der schräge Bugle Call der Lumpensammler blies zum Sturm auf die kreolische French Opera. "Any Rags?", so riefen die Junkmen seit jeher durch die Straßen der Stadt und trompeteten auf billigen Tröten, die den Ton nicht halten konnten. Buddy Bolden konnte ihn halten, aber er liebte es, wenn die Töne schwankten, baute Glissandi und Blue Notes auch in Walzer und Mazurken ein. Sein Kornett bekam diesen groben, verschmierten Straßenklang und erinnerte an das Wiehern des Lumpensammler-Gauls. Der Alkohol half mit, die Growl-Töne so richtig shaky klingen zu lassen. Bei zwei Flaschen Whiskey pro Tag lässt sich gut zittern.

Boldens laute, vulgäre "Stink Music" fand viel Anklang in den Hurenhäusern des Black Storyville, wo man eher den Revolver zog als den Hut. Bolden riss die Melodien in Lumpen, "raggte" und zerfetzte sie durch zusätzliche Noten und sprunghafte Akzente. Seine Lieblingsphrasen prägten "Careless Love", den "St. Louis Blues" und andere frühe Jazz-Themen. Fürs Bordellpublikum entstanden Stücke wie "If You Don’t Shake You Get No Cake" oder "Make Me A Pallet On The Floor", deren pornografische Texte einen ins Gefängnis bringen konnten, aber gut fürs Geschäft waren. Der "Funky Butt" (Stinke-Arsch) wurde zu Boldens größtem Hit. Aber King Bolden beherrschte auch die leisen Töne und stand dann ganz im Mittelpunkt: Im todtraurigen "Low Down Blues" konnte man das Schlurfen der Paare hören, die sich in engem Körperkontakt langsam über die Tanzfläche schoben. Zur Nachahmung dieses Schlurf-Geräuschs wurde der Jazzbesen erfunden.

Dass Frauen einen manchmal in den Wahnsinn treiben können, bestätigen Millionen von Ehemännern. Aber dass eine einzelne Tänzerin am Straßenrand einen erfahrenen Womanizer wahrhaft seines Verstandes beraubt, kennt man nur aus der Lebensgeschichte Buddy Boldens. Bei der Parade zum Labor Day 1906, als Bolden mit der Brass Band von Henry Allen Sr. marschierte, da ist es passiert, und zwar an der Ecke von Liberty Street und Iberville Street. Wahrscheinlich war etwas Voodoo-Zauber mit im Spiel, denn später erlitt Boldens bester Freund, der Ventilposaunist Will Cornish, ganz in der Nähe bei einer anderen Parade einen Schlaganfall. Welche Ursachen kommen sonst noch in Frage? Hyperaktivität, zu wenig Schlaf, zu viel Whiskey? Oder etwa der uns bekannte journalistische Stress? (Bolden editierte eine Publikation, in der er den Friseurtratsch der Stadt sammelte.) Eine wichtige Theorie wurde noch nicht überprüft: die mentale Erschütterung der Jazz-Revolution. Immerhin ist diesem Mann die Lumpen-Quadratur des Quadrillen-Zirkels gelungen.

Am 5. Juni 1907 wurde King Bolden ins Jackson Insane Asylum eingewiesen. Dort hielt er sich in den ersten Wochen mit ekstatischem Klatschen und Fußstampfen bei Laune, nannte das Irrenhaus eine Holy Roller Church und drängte auf die Gründung einer Tanzband. Später fiel er mehr und mehr in Apathie, ging ziellos herum, berührte verschiedene Gegenstände und murmelte oft: "Hoffentlich habe ich keinen Fehler gemacht." In den späten 20er-Jahren soll auch der Klarinettist Leon Rappolo eine Zeit lang Insasse der Anstalt gewesen sein. Die Legende will, dass Bolden ihn dort spielen hörte und voller Glück rief: "Ich hatte Recht!" Dass Weiße und Schwarze zusammen jammten, war damals zwar verpönt, ist aber unter diesen Verrückten nicht völlig auszuschließen.

© 2002, 2005 Hans-Jürgen Schaal


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