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"Raggin’" (zerfetzen) nannten es die schwarzen Jazzmusiker in New Orleans, wenn sie eine Melodie durch zusätzliche Noten und neue rhythmische Akzente spontan variierten. Das "Raggin’" inspirierte aber auch die Bar-Pianisten von St. Louis: Sie schufen eine ganz eigene Kunstform des Klavierspiels, die bis heute ein Synonym für Amerikas Optimismus und Pioniergeist ist: den Ragtime.

Zwischen Maiskuchen und Dadaismus
Die Geschichte des Ragtime
(2002)

Eine beliebte Veranstaltung auf den nordamerikanischen Plantagen des 19. Jahrhunderts war der Cakewalk. Dieser Tanz entstand möglicherweise als Parodie auf die im kreolischen Süden populäre französische Quadrille. In schriller Fantasie-Kleidung stolzierten die schwarzen Paare zum Pling-Pling der Banjospieler, in deren Schlagtechnik ein Echo afrikanischer Polymetrik nachklang. Das Paar, das sich zu den Synkopen am exzentrischsten bewegte, gewann als Preis einen frisch gebackenen Maiskuchen. In den Minstrel-Shows, den fahrenden Varietés, war der clowneske Cakewalk – mit schwarzen oder auf schwarz geschminkten Darstellern – eine Paradenummer und gewöhnlich das große Tanzfinale. Nach 1880, als die reisenden Zeltshows immer mehr durch feste Theaterhäuser ersetzt wurden, erreichte der ländliche Cakewalk auch die Metropolen und stieg zum Modetanz auf. Das Jazz Age kündigte sich an.

Zur Ausstattung der festen Vaudeville-Theater gehörte natürlich ein Klavier. Der Siegeszug des Instruments, dessen Allgegenwart Heinrich Heine schon 1848 in Paris beklagte ("in allen Häusern, in jeder Gesellschaft, Tag und Nacht"), machte auch vor Amerika nicht Halt. Im Jahr 1860 verkauften amerikanische Piano-Firmen über 20.000 Instrumente, bis 1910 wuchs die Zahl auf 370.000 jährlich an. Mit dem Eisenbahnbau eroberte sich das Klavier den Wilden Westen, nistete sich in jeden Saloon ein, in Bordelle, Sporting Houses, Bars und Cafés. Eine dieser Städte auf dem Weg nach Westen war St. Louis im Staat Missouri am Zusammenfluss von Missouri und Mississippi. St. Louis bildete ein wichtiges Verkehrskreuz in Nord-Süd- und in West-Ost-Richtung und war im Jahr 1870 die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten. Ab 1890 entstand dort ein großer Entertainment-Bezirk, und auch die kleineren Städte im Umkreis profitierten vom anwachsenden Verkehr. Sedalia (an der Bahnlinie von St. Louis nach Kansas City) besaß um 1900 schon 35 Saloons, Joplin (zwischen St. Louis und Oklahoma City) sogar 55, und jeder dieser Saloons hatte ein Klavier. Die Pianisten, weiß oder schwarz, spielten zum Tanz oder nur zur Unterhaltung. Sie spielten Märsche und Polkas, schottische Tänze und leichte Klassik, aktuelle Gassenhauer und natürlich auch die Coon Songs und Cakewalks der Minstrel Shows. Aus dieser multikulturellen Mischung entstand der Ragtime: eine Art Umsetzung des Cakewalk in europäisch geschulte Klaviertechnik.

Ein Ragtime besitzt gewöhnlich mehrere Melodie-Abschnitte (A, B, C....) von 8, 16 oder 32 Takten Länge: Scott Joplins "Maple Leaf Rag" beispielsweise hat die Form AA-BB-A-CC-DD. Das ruhige Marschtempo der Cakewalk-Tänzer wird von gleichmäßigen Achteln der linken Hand markiert. Die bizarren Banjoklänge, die mit den Verrenkungen der Tänzer korrespondierten, sind in stark synkopierte Melodien der rechten Hand übersetzt. Beispiel: Im ersten Abschnitt des "Maple Leaf Rag"(2/4-Takt) fallen die hohen (betonten) Noten der Melodie häufig auf den dritten, vierten oder sechsten Sechzehntelnotenwert, also gezielt neben die "natürlichen" Betonungen des Takts (erste und fünfte Sechzehntel). So entsteht die "ragged time", eine Akzentuierung gegen das regelmäßige Metrum, ein Echo der Polyrhythmik afrikanischer Trommeln. Typisch ist eine melodische Gliederung des Takts als 3+3+2 oder 3+2+3 oder auch die Spannung zwischen 2/4-Takt und 3/8-Figur. Beispiel: Der erste Abschnitt von "The Entertainer" beginnt mit der dreimaligen aufsteigenden Sext e-c (Sechzehntel plus Achtel). Denkt man sich einen 8/16-Takt, so fällt die hohe Note zunächst auf die "2", wird dann "zurechtgerückt" auf die "5" und erklingt schließlich auf der "8", wo sie den ersten Schlag des nächsten Takts "antizipiert". Solche Überlagerungen von "3 gegen 4" sind bis in die Kompositionen des modernen Jazz lebendig geblieben.

Die Kunde von der pfiffigen Saloonmusik aus St. Louis drang rasch nach New York. Dort veröffentlichte ein gewisser Ben Harney schon 1897 ein Ragtime-Lehrbuch, erklärte sich zum Erfinder dieser Musik und machte "Rag" zum Modewort. Anders als Scott Joplin, der vom Ragtime als Kunstform träumte, verstand Harney ihn schlicht als die Fertigkeit, jede beliebige Melodie zu synkopieren. Um den Titel "Erste Ragtime-Komposition" stritten 1897 William Krells "Mississippi Rag", Walter Starcks "Darktown Capers", Warren Beebes "Ragtime March", Theodore Northrups "Louisiana Rag" und der erste Ragtime eines schwarzen Komponisten, Tom Turpins "Harlem Rag". Turpin gründete im gleichen Jahr einen eigenen Saloon in St. Louis und drei Jahre später die Rosebud Bar, das Mekka aller Ragtime-Pianisten, die sich dort echte Wettkämpfe lieferten. Turpin selbst spielte gewöhnlich im Stehen: ein mächtiger Mann von 150 Kilo an einem aufgebockten Klavier. Der überragende Pianist im Rosebud war sein Schüler Louis Chauvin, der nie das Notenlesen lernte, aber als Ko-Autor von Joplins "Heliotrope Bouquet" (1907) registriert ist. 1904 stand die Stadt des Ragtime im Mittelpunkt des Weltinteresses: In diesem einen Jahr fanden dort der Nationalkonvent der Demokratischen Partei, die Weltausstellung und auch noch die Olympischen Spiele statt. Danach war Ragtime eine Weltmode und die Pianisten zog es nach Chicago und New York. Das Rosebud wurde 1906 geschlossen.

Scott Joplin (1868-1917), der bedeutendste Ragtime-Komponist, war viele Jahre lang als Pianist durch die Saloons und Bars gezogen, bevor er berühmt wurde. Mit 11 Jahren hatte er im Wohnzimmer einer weißen Familie, für die seine Mutter arbeitete, sein Interesse am Klavier entdeckt. Ein deutschstämmiger Musiklehrer namens Julius Weiss wurde auf den Jungen aufmerksam, begann ihn kostenlos zu unterrichten, machte ihn mit der europäischen Musik bekannt und weckte seinen Ehrgeiz, ein "richtiger Komponist" zu werden. Um 1890 begegnete Joplin in St. Louis dem Ragtime, der damals von schwarzen Bar-Pianisten weitgehend improvisiert wurde, und nahm sich vor, "klassischen Ragtime" zu komponieren. Ermutigt wurde er vom Beispiel Louis Moreau Gottschalks, des ersten Konzertpianisten Amerikas. Gottschalk (1829-1869), Sohn eines englischen Geschäftsmanns und einer französischen Adligen, stammte aus New Orleans und ging mit 13 Jahren zum Studium nach Paris. Er hinterließ zahlreiche Kompositionen, die an schwarze Minstrel-Shows erinnern, darunter ein "Cakewalk Ballet" und eine "Pasquinade".

Joplin vertiefte ab 1896 seine Musikstudien am George Smith College in Sedalia (Missouri) und war der führende Barpianist und Klavierlehrer der Stadt. Nach einigen Songs, Walzern und Märschen veröffentlichte er 1899 seine ersten beiden Ragtimes, darunter den "Maple Leaf Rag", benannt nach seiner wichtigsten Arbeitsstätte, dem schwarzen Maple Leaf Club in Sedalia. Die Komposition besteht aus vier Melodieteilen, von denen Joplin mindestens einen bereits 1894 gespielt haben soll. Im ersten Jahr wurden nur 400 Notendrucke verkauft, doch bis 1909 stieg die Zahl auf eine halbe Million und machte Joplin zum "King of Ragtime". Während der Rag im Norden als wilder, authentischer Südstaaten-Tanz zur Mode wurde, träumte Joplin von "seriösen" Ragtimes, vergleichbar den Walzern und Mazurken Chopins. Er hatte weitere große Erfolge mit "The Easy Winners" (1901), "Elite Syncopations" (1902) oder "The Entertainer" (1902), später in New York komponierte er auch experimentelle und harmonisch mutigere Rags ("Euphonic Sounds", "Magnetic Rag"). Als die große Zeit des Ragtime um 1910 zu Ende ging, verbiss er sich in sein ehrgeiziges, zu seinen Lebzeiten erfolgloses Opern-Projekt "Treemonisha", an dem er allein drei Jahre lang orchestrierte.

Neben Joplin gelten James Scott (1885-1938) und Joseph Lamb (1887-1960) als die wichtigsten Komponisten des Ragtime; Joplin hat sie beide gefördert und unterrichtet. Scott, Sohn einer ehemaligen Sklavin, stammte aus Neosho, Missouri, studierte bei dem schwarzen Klavierprofessor John Coleman und war ein hervorragender Pianist. Er hatte es nie nötig, in Saloons und Bordellen zu spielen, sondern fand ausreichend Beschäftigung als Theater- und Kinomusiker, Klavierlehrer und Mitarbeiter von Musikverlagen und Musikalienhandlungen. In Carthage (Missouri) war er als "unser kleiner Professor, unser Mozart" bekannt. "Summer Breeze" (1903) war sein erster veröffentlichter Rag, "Frog Legs" (1906) sein erfolgreichster, "Grace And Beauty" (1909) sein Meisterstück. Im Gegensatz zu James Scott war Joseph Lamb ein Weißer aus dem Raum New York. Dort lernte er 1907 im Büro von Scott Joplins Verleger sein großes Idol kennen, und Joplin half ihm, seinen ersten Rag zu veröffentlichen: "Sensation" (1908). Lamb hat bis in die 50er-Jahre Ragtimes komponiert, etwa den "Alaskan Rag" (1959), verdiente seinen Lebensunterhalt aber ab 1914 als Mitarbeiter einer Finanzfirma.

Der Ragtime war eine beispiellose Mode. Menschen aller Art – schwarz und weiß, alt und jung, Profis und Amateure – spielten diese Musik. Zwischen 1897 und 1917 sollen allein in den USA über 6.000 Ragtime-Kompositionen entstanden sein. Auch Arrangements für Bläser, Streicher oder Banjos überschwemmten den Markt. Die "ragged time" fand auch in populäre Songs der Tin Pan Alley Eingang wie Gershwins "Fascinating Rhythm" (1924) oder Irving Berlins "Puttin’ On The Ritz" (1929). Allein von der Popularität des Worts "Ragtime" zehrte Berlins Song "Alexander’s Ragtime Band", der 1911 in Amerika und 1912 in Europa zum Mega-Hit wurde. Euday Bowmans "Twelfth Street Rag" von 1914 stieg zum erfolgreichsten Ragtime aller Zeiten auf. Die mechanischen Klaviere (Player Pianos) verbreiteten ab 1910 eine neue Spielart, den Novelty Rag: hoch virtuose, harmonisch kapriziöse, abenteuerlich rasante Wunderstückchen, die von menschlichen Spielern nur drei- oder vierhändig zu realisieren waren. Sogar die Komponisten in Europa waren von der Ragtime-Welle beeindruckt. Einflüsse des Cakewalk, der auch in Paris zum Modetanz wurde, findet man schon in Erik Saties "Jack In The Box" (1899) und Claude Debussys "Golliwog’s Cake-Walk" (1908). Debussy verwendete Rag-Elemente auch in seinen Préludes, etwa in "Minstrels" und in "General Lavine – Eccentric" (einem Akrobaten gewidmet).

Die pochende Motorik und die Synkopen des Ragtime passten durchaus ins kompositorische Konzept einer europäischen Moderne der Desillusion. Die schlichte Harmonik und naive Formgebung des Ragtime wirkten dagegen auf avancierte Komponisten eher trivial und wurden gern als Holzpuppen-Ballett verspottet. In mancher europäischen Rag-Adaption vom Anfang des 20. Jahrhunderts ist die viertaktige Einleitung zum "Entertainer" (mit ihrem Lauf durch drei Oktaven und ihrem Marcato-Akkord) harsch parodiert. Statt eines synkopierten 2/4-Takts notierten europäische Avantgardisten lieber ständige Taktwechsel. Igor Strawinsky (1882-1971) beschäftigte sich in den Jahren 1918 und 1919 mehrfach mit dem Ragtime, hat dabei aber die eigentliche Kompositions-Idee – den Kontrast zwischen gleichmäßigem Bass und zerrissener Melodie – völlig aufgebrochen. Der "Ragtime" aus der "Geschichte vom Soldaten" (1918) jongliert mit losgelösten Bau-Elementen des Rag (Synkope, Basspuls), kapriziösen harmonischen Sprüngen und falschen Modulationen. Strawinskys "Piano Rag-Music" (1919), Arthur Rubinstein gewidmet, kommt teilweise sogar ohne Taktstriche aus und hebt damit die "zerrissene Zeit" des Ragtime ins Abstrakt-Philosophische auf. Von da ist es kein weiter Weg mehr zu Conlon Nancarrows Pianowalze "Study No. 1", auf der Ragtime-Bauteile in verschiedenen Tempi nebeneinander zu erklingen scheinen.

Der Prager Komponist Erwin Schulhoff (1894-1942) gestand 1921 seine "unerhörte Leidenschaft zum modernen Tanz". In mehreren mehrsätzigen Klavierwerken wie den "Fünf Pittoresken" (1919) oder der "Partita für Klavier" (1925) verwendete er typische Ragtime-Figuren als dadaistische Form-Elemente. In den "5 Études de Jazz" (1927) verarbeitete er sogar den berühmtesten aller Novelty Rags, Zez Confreys "Kitten On The Keys". Paul Hindemith (1895-1963) provozierte 1921 mit einem Ragtime über ein Thema aus dem "Wohltemperierten Klavier" und schrieb: "Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden oder zum mindesten in die anständige Musik aufgenommen." In anderen Klavierwerken wie dem Foxtrott aus "Tuttifäntchen" und dem Ragtime aus "1922 – Suite für Klavier" verwendet Hindemith Rag-Elemente teils fast schulmäßig, teils dissonant parodistisch mit einem maschinenartigen Rhythmus. Auch Milhaud, Antheil, Ravel und Martinu haben in den 20er-Jahren noch Ragtime-Einflüsse verarbeitet.

Zu dieser Zeit war der Ragtime in Amerika längst abgemeldet und hatte der nächsten Mode weichen müssen: dem Jazz. Fast übergangslos entwickelten sich aus dem Rag-Piano nach 1910 Jelly Roll Mortons Stomp-Stil, James P. Johnsons Stride-Piano oder Pinetop Smiths Boogie-Woogie. Die komponierte Kunstform Ragtime war ein Intermezzo und unterlag gegen die Lust am Improvisieren. 1914 verkündete man in Kansas City die Heilung von der "Ragtime-Krankheit", neue Modetänze wie Charleston und Foxtrot fegten den gemächlichen Cakewalk davon und Jazzbands hotteten um die Wette. Nichts wirkt zickiger als die Mode von gestern. Erst in den 40er- und 50er-Jahren regte sich parallel zur Dixieland-Bewegung ein erstes Ragtime-Revival im Westen: Die Yerba Buena Jass Band, Turk Murphy und Bob Darch machten in Nostalgie, der "Twelfth Street Rag" stieg in die Charts auf und Max Morath hatte sogar ein Ragtime-Programm im TV. Dann kamen das Honky-Tonk-Piano und Rudi Bleshs Buch "They All Played Ragtime", die definitive Fan-Bibel. Die Heimatstadt des Rag, St. Louis, veranstaltete 1965 ihr erstes Ragtime-Festival und Richard Zimmerman gründete zwei Jahre später die Zeitschrift "Rag Times". 1973 schlug der Film "The Sting" (Der Clou, mit Robert Redford) wie eine Bombe ein und machte Joplins "The Entertainer" zum Welthit. Daraufhin entdeckten Klassik-Labels den Ragtime, der über 90-jährige Eubie Blake wurde der Star des Revivals, Joplins Oper "Treemonisha" reüssierte endlich am Broadway und brachte ihrem Komponisten postum einen Pulitzer-Preis ein. Nun erwiesen selbst Avantgarde-Jazzpianisten wie Muhal Richard Abrams oder Myra Melford dem "Maple Leaf Rag" ihre Reverenz. Seit 1983 feiert Sedalia in Missouri ein jährliches Scott-Joplin-Festival. Joplins Traum hat sich erfüllt: Der Ragtime ist klassisch geworden.

© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal

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