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Als Charlie Parker, das Idol der Bebop-Revolution, 1955 starb, diskutierten die Journalisten über einen möglichen Nachfolger. Wer war der vielversprechendste Altsaxofonist der Szene, wer war „the new Bird“? Zu den Kandidaten zählte damals schon Phil Woods, ein gerade 23-jähriger Newcomer.

Phil Woods (1931-2015)
Nichts als Expressivität
(2015)

Von Hans-Jürgen Schaal

Woods konnte 1955 noch nicht einmal ein eigenes Album vorweisen, aber er sorgte mit seiner feurigen, ungestümen Attacke und seinem lauten, runden Ton bereits für einiges Aufsehen. In mancher Hinsicht sollte er dann tatsächlich in Charlie Parkers Fußstapfen treten. Zum Beispiel heiratete er 1957 „Birds“ Witwe Chan und wurde der neue Vater von Parkers Sohn Baird und Parkers Stieftochter Kim. Die Ehe hielt fast 20 Jahre. Die finanzielle Verantwortung für die Familie lastete anfangs allerdings schwer auf Phil Woods. Einmal musste er sogar sein Saxofon versetzen und trat dann mit Charlie Parkers Instrument auf – es war im Besitz der Witwe. Arrivierte afroamerikanische Musiker haben den jungen weißen Heißsporn damals gefördert und in ihre Bands geholt. So spielte er schon 1956 an der Seite von Dizzy Gillespie – da, wo einst Charlie Parker gespielt hatte.

Seine ganze Karriere stand im Zeichen von „Bird“, denn der Bebop war und blieb Phil Woods’ musikalische Heimat. Schon als Teenager hatte er Charlie Parker persönlich getroffen – dank dem Pianisten Lennie Tristano, bei dem Phil ein paar Stunden nahm. Ob er „Bird“ kennenlernen wolle, fragte Tristano eines Tages, und der Junge antwortete begeistert: „Klar, ich wollte schon immer Gott treffen.“ Woods sollte diese erste Begegnung nie mehr vergessen: Parker saß im Künstlerzimmer eines Clubs, aß Kirschkuchen und gab ihm ein großes Stück davon ab – man könnte die Geste symbolisch nennen. Danach lief er seinem „Gott“ immer mal wieder auf der 52nd Street über den Weg. Einmal durfte er ihm sogar sein Saxofon leihen und ihm danach vorspielen – ein wichtiges Motivationserlebnis. Auch noch das allerletzte Konzert, das Phil Woods in seinem Leben gab – im September 2015 –, war keinem anderen gewidmet als Charlie Parker.

Das ererbte Saxofon

Zu seinem ersten Saxofon kam Phil Woods durch einen glücklichen Zufall – das Instrument war nämlich ein Erbstück. „Als ich all dieses glänzende Metall sah, fiel mir nur ein: Man könnte es einschmelzen und Spielzeugsoldaten daraus machen.“ Es war das Jahr 1942, Phil war zehn Jahre alt. Etwa ein Jahr verging, bis er dem Drängen seiner Mutter nachgab und mal versuchsweise eine Saxofonstunde nahm. Und er hatte Glück mit dem Lehrer: „Sein Name war Harvey LaRose, und er veränderte mein Leben. Er gab mir immer die vier erfolgreichsten Popsongs der Woche zum Spielen – und heute sind das natürlich alles Standards. Ich bin mit dem American Songbook großgeworden.“ Mit 13 Jahren brauchte Phil Woods keine Spielzeugsoldaten mehr. Er wollte nur noch Musiker werden.

Phils erste Vorbilder am Instrument hießen Benny Carter und Johnny Hodges – das waren die großen Swing-Pioniere des Altsaxofons. Aber immer öfter stahl er sich nach New York, um den aktuellen Beboppern zu lauschen und sich selbst in den Clubs zu erproben. „Jazz gab es dort in jeder Kneipe. Die Leute tanzten zu ‚All The Things You Are‘ und ‚How High The Moon‘. Du hast dein Horn geblasen, und niemand nannte es Jazz oder Kunst. Du hast einfach die amerikanische Musik gespielt. Es war eine andere Welt als heute.“ Schließlich begann Woods ein Studium an der Manhattan School of Music und danach an der Juilliard School. Juilliard war damals allerdings noch ganz auf Klassik fixiert und bot keinen Studiengang Saxofon an. Woods belegte dort klassische Komposition und Klarinette. „Also spielte ich nachts mein Bebop-Alt und übte tagsüber Brahms und Mozart auf der Klarinette. Ich bin ein ausgebildeter professioneller Musiker.“ Später featurete Woods seine Klarinette gelegentlich auch in exquisiten Jazzballaden.

Ausdruck bis zum Anschlag

Was alle umhaute, das war sein Spiel auf dem Altsaxofon. Im Rückblick nannte sich Woods später einen „zornigen jungen Mann“ – so laut und fordernd blies er sein Sax. Noch in den 1980er Jahren war er bekannt dafür, dass er auch in großen Clubs ohne Mikrofonierung auftrat. Woods hat den Bebop-Stil mit Temperament und Druck und Growl interpretiert, mit persönlicher Autorität, überragender Technik, enormer Intensität und rhythmischer Raffinesse. Er bediente sich dabei nicht nur der Mittel Charlie Parkers, wie der Jazzkenner Martin Kunzler ausführt: „Seine weit geschwungenen Melodien, die sich mit List und Nachdruck ihren Weg durch die Changes bahnen, korrespondieren ständig mit der gesamten Jazzgeschichte. Neben der Bebop-Artikulation findet sich der erzählerische Bogen eines Johnny Hodges genauso wie der Charme des Benny Carter und der Drive der Jump-Altisten Pete Brown und Tab Smith.“ Ausdruck und Leidenschaft bis zum Anschlag: Das war Phil Woods’ Devise. „Ich kenne nichts als Expressivität“, sagte er einmal. Kein Wunder, dass der Hitzkopf einen Hang zum Wettkampf hatte. Mit zahlreichen Kollegen – von Benny Carter bis Richie Cole – machte er Aufnahmen im Saxofon-Wettstreit.

Schon der junge Phil Woods spielte mühelos vom Blatt, beherrschte sein Instrument herausragend und hatte den richtigen Sound – die Angebote mussten kommen. 1956 ging er mit Dizzy Gillespie für das US-Außenministerium auf internationale Tournee – das war der Durchbruch in der Jazzwelt. Danach spielte er auch in den Orchestern von Friedrich Gulda (1956), Buddy Rich (1958), Quincy Jones (1959), Benny Goodman (1962) oder Gil Evans (1964). In den 1950er und 1960er Jahren war er zudem Sideman auf Platten von Benny Bailey, Gary Burton, Milt Jackson, John Lewis, Herbie Mann, Thelonious Monk, Oliver Nelson, Lalo Schifrin, Jimmy Smith und Clark Terry – und diese Liste ist nur eine kleine Auswahl. Sein Förderer Quincy Jones machte schon 1960 klar, dass er vor allem Woods’ Improvisationskunst schätzte: „Er ist als Solist so weit vorgedrungen, dass er fortlaufend äußerst logische Melodielinien entwickelt, ohne einfach einzelne Partikel aneinanderzureihen. Während er spielt, komponiert er fortwährend.“

Nach Frankreich und zurück

Rund 30 mal in seiner Karriere wurde Phil Woods von den Lesern des Jazzmagazins „Downbeat“ zum besten Altsaxofonisten des Jahres gewählt. Seinen Sound und Stil erkannte man sofort. Genau so, fanden viele, muss ein Altsaxofon klingen. In den 1960er Jahren war Woods als Orchester- und Studiomusiker praktisch ausgebucht. Es gab keinen Coca-Cola-Werbespot, auf dem er nicht gespielt hätte, meinte er einmal. 1968 zog er die Reißleine und ging mit seiner Familie nach Frankreich. „Ich hatte genug davon, für Buick und Coca-Cola Werbung zu machen. Diese Studioarbeit saugte mich auf. Sie brachte Geld, aber ich hatte keine Zeit mehr für meine eigene Musik. Und sobald ich Amerika verließ, wurde ich dort als Künstler wieder ernst genommen.“ Woods gründete in Europa eine eigene Band, seine European Rhythm Machine. Man spielte einen hart swingenden Turbo-Jazz mit gelegentlichen modischen Einschüben aus Free und Rock. Für Bass und Schlagzeug gewann er das Pariser Traumgespann Henri Texier und Daniel Humair.

Schwieriger verlief die Rückkehr nach Amerika fünf Jahre später – es war für Phil Woods ein Neuanfang in der gründlich veränderten Musikwelt von 1973. Seine erste Studioarbeit nach der Rückkehr in die USA machte er ausgerechnet für den Franzosen Michel Legrand – in Paris waren sie praktisch Nachbarn gewesen. Legrands Song „You Must Believe In Spring“ sollte Woods’ Lieblingsstück werden, denn es brachte ihn zurück ins Business. „Michel Legrand rettete meine Karriere“ – eine Karriere, die bald ganz neue Züge annahm: Auch Pop-Produzenten entdeckten nun Phil Woods’ packenden Sound als Solist. Man hört sein großartiges Saxofonspiel unter anderem in Aretha Franklins „Somewhere“ (1973), Paul Simons „Have A Good Time“ (1975), Steely Dans „Doctor Wu“ (1975) und Billy Joels „Just The Way You Are“ (1977). Der Billy-Joel-Song, der in den USA 27 Wochen lang in den Single-Charts stand und bis auf Platz 3 kletterte, machte Phil Woods berühmt.

Die letzte Band

Mehr als 100 Alben hat er unter eigenem Namen gemacht – als Sideman ein Vielfaches davon. 1974 startete er seine bekannteste und dauerhafteste Bop-Band, die bis ins 21. Jahrhundert hinein bestehen sollte. Sie war zunächst ein Quartett, später ein Quintett und gelegentlich ein Sextett. Der Bassist Steve Gilmore und der Schlagzeuger Bill Goodwin gehörten jahrzehntelang dazu. Besonders die kraftvolle Besetzung mit Hal Galper (Piano) und Tom Harrell (Trompete) sorgte international für Furore und trieb das Bop-Revival mächtig voran. Die englischen Kritiker Cook & Morton nannten sie „eine der großen Live-Bands der Achtziger“.

Als Phil Woods Anfang September 2015 sein letztes Konzert gab, eine Hommage an Charlie Parker, war er 83 Jahre alt. Gesundheitliche Gründe zwangen ihn, mit dem Spielen aufzuhören. „Vor der letzten Nummer“, hieß es in der Konzertkritik, „verkündete Mr. Woods, dass dies seine letzte Nummer sei. Für immer. Am Ende des Abends, nachdem er im Rollstuhl bei stehenden Ovationen hinausgeschoben worden war, blieb Mr. Woods’ Sax auf der Bühne zurück – ähnlich wie bei einem Wrestler, der nach seiner letzten Runde seine Schuhe im Ring lässt.“ Phil Woods’ allerletztes Stück hieß übrigens „Rocker“.

© 2015, 2025 Hans-Jürgen Schaal


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