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Das Saxophon sei „nur Karikatur“ und „von erschütternder Komik“, so schrieb man in Deutschland Mitte der Zwanzigerjahre über das vermeintliche Varieté- und Zirkusinstrument. Doch alles änderte sich, als Coleman Hawkins kam...

Lester Young (1909-1959)
Die befreite Melodie
(2009)

Von Hans-Jürgen Schaal

Inspiriert von Louis Armstrongs Gastspiel bei der Fletcher-Henderson-Band, entwickelte Hawkins fast über Nacht das Tenorsaxophon zu einer kraftvollen, selbstbewussten Stimme des Jazz. Laut, schwer und aggressiv, mit donnerndem Vibrato und unerbittlicher Intensität biss sich Hawkins’ Kraftkanne durchs Labyrinth der Akkorde, zerlegte die Changes mit der Konsequenz einer Bachschen Invention. Hawkins schien Anfang der Dreißigerjahre das Saxophon ganz neu zu erfinden.

„Lebloser Hornklang“

Als „Hawk“ 1934 bei Henderson kündigte, um im Triumphzug als „der Welt größter Saxophonist“ durch Europa zu reisen, brauchte die Band dringend Ersatz. Der Agent John Hammond, damals schon ein Fan der Moten/Basie-Band von Kansas City, empfahl Basies Tenoristen, den 25-jährigen Lester Young. Henderson mochte Young – doch damit war er der Einzige in der Band. „Fletchers Ehefrau führte mich immer runter in den Keller“, erzählt Lester Young, „sie stellte einen dieser alten Aufzieh-Plattenspieler an und sagte: ‚Lester, kannst du nicht auch so spielen?’ Coleman-Hawkins-Platten! ‚Hörst du das nicht? Kannst du das nicht?’ Jeden Morgen weckte mich die Kleine um 9 Uhr auf, um mir beizubringen, wie Coleman Hawkins zu spielen.“ Bei den Auftritten tuschelten die Bandkollegen, sobald Young ein Solo hatte, denn er klang nicht im Geringsten wie Hawkins. Nach sechs Monaten trennte man sich.

Was dachte sich dieser Lester Young eigentlich? Da hatte das Tenorsaxophon gerade erst eine Identität im Jazz gefunden, Coleman Hawkins war ein Star, alle Welt wollte so spielen wie Hawk – und dann kam Lester daher und scherte sich nicht drum! Vor allem sein „schlechter“ Sound war es, der die Henderson-Leute in Rage brachte. Im Vergleich zu Hawkins’ voluminösem, maskulinem Ton klang Lesters vibratoarmes Spiel geradezu körperlos: zu hell, zu sanft, zu weich – einfach untenoristisch. Der Saxophonist Jerry Jerome verglich Lesters Sound mit einem Waldhorn: „Eine Art lebloser, holzfreier Hornklang.“ Andere nannten den Ton rein, silbrig, samtig oder „marshmallow-like“. 1934 schien er definitiv unangebracht.

Woher kam Lesters Sound? Als Sohn eines Musiklehrers und Teil der professionellen Familien-Band hatte Lester viele Instrumente erlernt. In seiner Jugend spielte er Geige, Trompete, Schlagzeug, schließlich das Altsaxophon. Mit 18 Jahren entdeckte er die Plattenaufnahmen von Frank Trumbauer und erkor ihn zu seinem Vorbild: „Ich musste mich zwischen Frankie Trumbauer und Jimmy Dorsey entscheiden. Sie waren die einzigen, die in ihrem Spiel eine Story erzählten, die ich hören wollte. Damals wusste ich noch nichts von Hawk.“ Vor allem Trumbauers Solo in „Singin’ The Blues“ von 1927 hatte es Lester angetan: die Art, wie Trumbauer auf dem C-Melody-Sax die Töne ineinander gleiten ließ und wie er im Solo aus dem Thema eine kleine Geschichte entwickelte. Lester lernte sämtliche Soli Trumbauers auswendig nachzuspielen und blieb auch, als er 1928 aufs Tenor wechselte, seinem Idol treu: „Ich versuchte, den Klang des C-Melody auf dem Tenor zu bekommen.“ Das war das Geheimnis von Lesters weichem, hellem, körperarmem Sound: „Er klang nur ein klein wenig anders als auf seinem Alt“, meinte sein Kollege Buddy Tate. Lester selbst nannte sein Spiel „alto tenor“.

„Gandhi des Jazz“

Der „untenoristische“ Sound war aber nicht allein für die Irritationen verantwortlich, die Lester Youngs Spiel auslöste. Mit dem weichen Klang einher ging eine ungewohnt leichtfüßige, fast lakonische Art zu phrasieren – weit entfernt von der forcierten Spielweise eines Coleman Hawkins. Lesters Lieblingswort, wenn es um Musik ging, war „pretty“: Nichts sollte hart, rau und kantig sein. Schon seine Art, ins Saxophon zu blasen, das er gerne in einem schrägen Winkel vom Körper weghielt, verriet eine entspannte, lässige Haltung. Dieser Saxophonist wollte sich nicht an den Akkorden abarbeiten wie der „barocke“ Hawkins, er wollte nicht auf den Changes „herumreiten“, sondern nur luftige, leichte, schlanke Melodielinien spinnen. Er tat dies scheinbar ohne Rücksicht auf Takt- und Akkordwechsel und schien zuweilen hinter oder ganz frei von der Zählzeit zu sein: ein souveräner „Sänger“ ganz neuartiger Melodien. Die Ausgestaltung einer Melodiephrase, die Übergänge zwischen den Tönen, das Spiel mit der „Time“, der Einsatz akkordfremder Noten oder die Färbung des Klangs durch „falsche“ Fingersätze: Die Nuancen wurden bei Lester Young zur Hauptsache. „Im Kopf spielen sich die wichtigsten Sachen ab“, sagte er gelegentlich. Mit seiner federleichten, friedlichen Spielweise verdiente er sich später Ehrennamen wie „Mozart des Jazz“, „Cézanne des Jazz“ oder „Gandhi des Jazz“.

Dabei liebte der „sanfte“ Lester Young die Jamsessions, das Kräftemessen mit anderen. In Kansas City, dem Jam-Paradies der dreißiger Jahre, trommelte er gern die Kollegen zusammen, um mit vereinten Kräften einen Gastmusiker „niederzukämpfen“: „Wir werden ihn aus dem Lokal blasen!“ Einmal hatte er sogar die Idee, das Tenor mit einem Baritonblättchen zu bestücken, um durch größere Lautstärke aufzutrumpfen. In den frühen Vierzigern, als er als „Freelancer“ durch die Clubszene New Yorks zog, wurde er bekannt für das Dutzend und mehr Chorusse, die ihm einfielen, wenn er erst in Fahrt kam: Er galt als der König der Jams. Buddy Tate erzählt von einer Session, bei der alle anderen aufhörten zu spielen, nur um Lester zuzuhören: „Mann, was können wir danach noch spielen?“ Es waren nicht Kraft und Lautstärke, mit denen Lester bei Jamsessions glänzte, sondern Einfallsreichtum und Erfindungsfreude. Mit jedem Chorus schien er sich weiter von der Melodie zu entfernen – immer freier, immer fantasievoller.

Ganz so, wie er spielte – ohne Kraftmeierei, aus einer inneren, sanften Welt schöpfend –, war er auch als Mensch: introvertiert, weich, sensibel. Sein Mädchen nannte er „Teddy Bear“, sie ihn „Uncle Bubba“. Lester war leicht zu verletzen und zog sich dann schnell zurück: Schon aus dem Elternhaus war er ein halbes Dutzend Mal abgehauen. Billie Holiday, die Seelenfreundin, die in ihren Männer-Beziehungen auf brutale Kerle stand, liebte den weichen Lester wie einen Zwillingsbruder: „Er spielte so, wie sie sang, und sie sang so, wie er spielte“, meinte Lesters Bruder Lee. Lester und Billie waren wie zwei Exoten derselben Art und wirkten auch beim Musizieren wie telepathisch verbunden. „Wie Lester sie begleitet hat, da musste sie sich wie in den Armen ihrer Mutter fühlen“, sagt Holidays langjähriger Pianist Jimmy Rowles. An Lester war so gar nichts vom Macho-Gehabe der frühen Jazzmusiker. Viele hielten ihn für schwul.

Mit seiner exzentrischen, etwas trägen Art hatte es Lester Young jedenfalls nicht leicht. Er kleidete sich auffällig mit rundem Filzhut, langem, schwarzem Mantel und Mokassins, hatte diese großen, feuchten Augen und einen seltsamen Gang. Oftmals benahm er sich wunderlich und rätselhaft, nur um seine Gefühle nicht zeigen zu müssen. Nach dem Tod seines Freunds und Kollegen Hershell Evans 1939 war er so verzweifelt, dass er seine Kündigung bei Basie provozierte, indem er ein Studiodate verweigerte – angeblich, weil es ihm unmöglich sei, an einem Freitag den Dreizehnten eine Platte aufzunehmen.

„Rätselhafter Nomade“

Dass er den Musterungsbescheid der U.S. Army nicht zur Kenntnis nahm, hatte ebenfalls mit Weltfremdheit und Phlegma zu tun. Jedenfalls war ihm das FBI auf den Fersen und seine Militärzeit begann unter schlechten Vorzeichen: Bei der Armee wurde er prompt ein Opfer böser Schikanen und seiner eigenen Naivität. Als er 1945 „unehrenhaft“ entlassen wurde, schien er noch wunderlicher und verschlossener als zuvor. Er floh bald in Drogen und Alkohol, trank bis zu drei Flaschen Gin am Tag, ließ Auftritte platzen, erlitt Zusammenbrüche, vielleicht auch epileptische Anfälle, aß kaum noch und musste sich Klinikaufenthalten unterziehen. Um musikalisch sich selbst treu zu bleiben, fehlte ihm der Durchsetzungswille: Die jungen Cool Jazzer klangen alle wie er. In der extrovertierten Leistungsschau der JATP-Konzerte konnte er sich aber auch nicht daheim fühlen. Für seinen Vater blieb er zeitlebens ein „rätselhafter Nomade“.

Schon die Kommunikation mit Lester war schwierig. Mancher Agent ist daran verzweifelt, dass er mit dem Eigenbrötler kein vernünftiges Gespräch führen konnte und nur Auskünfte wie „Ding-Dong!“ oder „Bells!“ erhielt. Jimmy Rowles meinte, man müsse drei Monate mit Lester zusammen sein, bevor man ihn verstehe: Es sei „wie Japanisch lernen“. Lester hatte seine eigenen Wörter für die Dinge und die Menschen. Seine Saxophontasten nannte er „my people“, die Bridge eines Stücks hieß „George Washington“, die Polizei „Bob Crosby“. Seine Mitmusiker nannte er in der Regel „Lady“: Aus Billie Holiday wurde „Lady Day“, aus Ella Fitzgerald „Lady Time“, aus Charlie Parker „Lady Bird“. Auch Harry „Sweets“ Edison und „Sir“ Charles Thompson verdanken ihm ihre Ehrennamen. Ausdrücke wie „bread“ (für „money“) und „cool“ (für „relaxt“, „unbeteiligt“, „wunschlos“) haben sich dauerhaft in der Umgangssprache etabliert.

Viele verglichen Lesters lakonische Art zu sprechen mit seiner innovativen Art, auf dem Saxophon zu phrasieren. Die Analogie ging so weit, dass man das Gefühl haben konnte, seine eigenwilligen Saxophonphrasen seien eigentlich gesprochene Sätze, denen nur die Konsonanten fehlten. Der Drummer Jo Jones, der auch mit Lesters verbalen Kapriolen vertraut war, behauptete, er verstehe fast immer, worüber Lester in seinen Soli gerade „spreche“. Tatsächlich entwickelte sich Lester zum Balladen-Spezialisten, zum Geschichten-Erzähler auf dem Saxophon. Er hörte (wie Miles Davis) mit Vorliebe Frank Sinatra und hatte die Songlyrics beim Improvisieren immer im Kopf. „Die meiste Zeit verbringe ich damit, Platten von Sängern zu hören und die Texte der Songs zu lernen“, verriet er einmal. Kein Wunder, dass einige von Lesters „beredten“ Saxophonsoli zum Ur-Material der Vocalese-Sänger gehörten („Taxi War Dance“, „Jumping With Symphony Sid“, „Sometimes I’m Happy“, „These Foolish Things“).

„Lunte des Bebop“

Bekannt wurde Lester, als er mit der Basie-Band nach New York kam (1936/37). Jo Jones’ federleichter 4/4-Swing, das flüsternde Uhrwerk von Walter Page und Freddie Green, dazu Count Basies sparsame Klaviertupfer: In dieser Umgebung klang Lesters schlankes Saxophonspiel richtig und neu und modern. Aufnahmen wie „Lady Be Good“ oder „Shoe Shine Boy“ machten die junge Musiker-Generation hellhörig und wurden zu der Lunte, die den Bebop entzünden sollte. „Wir kapierten sofort, dass sich etwas veränderte“, beschreibt Max Roach sein Lester-Young-Erlebnis. „Bird liebte Lester“, erzählt Jay McShann: Immer wenn die Basie-Band im Radio kam, musste die McShann-Band Pause machen, damit Charlie Parker die Sendung nicht versäumte. Das Spiel des jungen Parker verriet deutlich den Lester-Young-Einfluss, diesen souveränen Umgang mit Changes und Time. Es war ein beliebter Sport unter den jungen Musikern, Young-Platten schneller abzuspielen (damit sie wie Parker klangen) oder Parker-Platten langsamer. Auch Dexter Gordon, der erste große Tenorist im Bebop, war sofort ein Fan von Lester Youngs „Storytelling“, verband dessen nuanciertes Phrasieren aber mit einem kräftigeren, schwärzeren Sound. Es war Billie Holiday, die Lester zum neuen „Boss Tenor“ erklärte: Für sie war er der „President“ oder kurz „Prez“. „Ich fand immer, dass er der Größte sei, also sollte er den Namen des Größten erhalten“, sagte sie. „Der Größte in unserem Land war damals Franklin D. Roosevelt und der war der Präsident.“

In seiner zweiten Zeit bei Basie (1943/44) erreichte Prez schon wieder eine neue Generation von Musikern, für die Charlie Parker bereits ein Held war. Nun war es vor allem Lesters sanfter, relaxter Sound, der den Unterschied machte und zur Geburt des Cool Jazz beitrug. Zoot Sims zum Beispiel wurde 1943 zum Lester-Young-Fan: „Ich verliebte mich in seinen Sound, dann in seine Melodik. Das war wirklich erfrischend.“ In seiner Zeit bei Woody Herman (1947) hatte Sims immer einen Stoß von Lester-Young-Platten dabei und konnte alle Soli auswendig. Sims’ Generation stand ganz im Banne Lester Youngs: Allen Eager, Stan Getz, Lee Konitz wurden lebenslange Fans. Lennie Tristanos Schüler lernten Prez-Soli nachzusingen. Auch Art Pepper, John Coltrane oder Sonny Rollins, die später in andere Richtungen gehen sollten, konnten sich dem Einfluss nicht entziehen. Lester Youngs Beispiel schuf damals, so schreibt der Jazzhistoriker Gunther Schuller, „eine komplett neue Ästhetik des Jazz – für alle Instrumente“. Prez selbst empfand die vielen Nachahmer seines Stils als irritierend: „Was soll Prez noch spielen, wenn alle wie Prez spielen?“, fragte er oft.

© 2009, 2025 Hans-Jürgen Schaal


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