NEWS





Zurück

Der gewaltige Schatten, den Charlie Parkers Übergestalt warf, verdunkelt noch heute die Jazzclubs. Besonders in den Jahren zwischen 1945 und 1955 konnte sich kein junger Altsaxophonist dem Einfluss des großen Bebop-Pioniers entziehen. Ihm am ähnlichsten klang Sonny Stitt: Der Ruf, nur ein Parker-Klon zu sein, drohte ihm ein Leben lang anzuhängen – doch Stitt kämpfte sich frei.

Sonny Stitt (1924-1982)
Der einsame Präriewolf
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

Ob Lou Donaldson, Gigi Gryce, Sonny Criss, Art Pepper, Frank Morgan, Jackie McLean, Phil Woods oder Charlie Mariano: Alle diese Altsaxophonisten orientierten sich einst an Parkers Phrasierung und Rhythmik. Parkers Spielweise am nächsten kam der 1924 in Boston geborene Edward „Sonny“ Stitt, der aber immer beteuerte, er habe seinen Stil unabhängig von „Bird“ gefunden. 1943 – mit 19 Jahren – hatte er erstmals Parker-Soli auf Schallplatten von Jay McShann gehört. Noch im gleichen Jahr bot sich ihm in Kansas City die Chance, Parker kennen zu lernen: „Da kam aus einem Drugstore ein Mann mit einem Altsax, der einen blauen Mantel trug mit sechs weißen Knöpfen dran und eine dunkle Sonnenbrille. Ich rannte hinüber zu ihm und sagte kampfeslustig: ‚Bist du Charlie Parker?’ Er sagte Ja und lud mich auf der Stelle ein, ihn in ein Lokal namens Chauncey Owenman’s zu begleiten und dort mit ihm zu jammen. Wir spielten eine Stunde lang, bis der Besitzer hereinkam, und dann gab mir Bird mit einem kleinen Tönegestöber das Signal zum Aufhören... Er sagte: ‚Du klingst eindeutig wie ich.’“

Miles Davis, der Stitt 1942 in der Band von Tiny Bradshaw hörte, bestätigte später, dass der Bostoner damals wirklich schon seinen Stil gefunden hatte. Übrigens wollte Stitt den jungen Trompeter ein Jahr später für eben diese Band gewinnen, doch der erst 16-jährige Miles erhielt nicht die Erlaubnis seiner Mutter. Wieder einige Jahre danach wollte umgekehrt Miles den Saxophonisten für seine Capitol Band engagieren, doch da stellte sich Gerry Mulligan quer, der fürs Altsaxophon einen Cool Jazzer vorsah und keinen Bebopper. Erst 1960 kamen Miles und Sonny zusammen, und zwar in Miles’ Quintett, wo Stitt John Coltrane ersetzte. Die Kooperation zwischen dem ständigen Innovator Miles und dem Bop-Perfektionisten Stitt war jedoch kein Erfolg. Als der Bandleader im Folgejahr eine Gagen-Erhöhung verweigerte, antwortete Stitt knapp: „No money, no Sonny“ – und kündigte.

So lakonisch war Sonny Stitt gerne. Er gehörte nicht zu den Paradiesvögeln und Traumtänzern, er war ein nüchterner Mensch, manchmal auch streng und streitsüchtig. In einer Plattenaufnahme sah er kein Statement für die Ewigkeit, sondern einfach den nächsten Job: rein ins Studio, raus aus dem Studio. Die Schätzungen liegen bei 70 bis über 100 Platten unter eigenem Namen. Einmal spielte er sogar das gleiche Programm zweimal hintereinander für zwei verschiedene Labels ein. Künstlerische Visionen waren nicht seine Sache. Er verließ sich nur auf eines: sein Können am Saxophon. Der Spross einer musikverrückten Familie – der Vater Musikprofessor, die Mutter Klavierlehrerin, der Bruder Pianist, die Schwester Sängerin – war der perfekte Techniker an den Saxophontasten. Was Virtuosität anging, hatte ihm Charlie Parker nichts voraus.

In den Jahren 1945 und 1946 gehörte Stitt zu einigen der Schlüssel-Formationen des Bebop: Billy Eckstines Orchester, Kenny Clarkes Bebop Boys, Dizzy Gillespies Sextett. Er kassierte 1947 den New Star Award des Esquire-Magazins, verschwand dann aber für zwei Jahre zwecks Drogenentzug von der Szene. In dieser Zeit wurde ihm klar, dass er einen Weg aus dem Schatten Charlie Parkers finden musste. „Wir waren uns einig: Wir klangen beide wie der andere, aber daran können wir nichts ändern, oder?“ Als Stitt 1949 zurückkehrte, hatte er aufs Tenorsaxophon gewechselt. Nach Parkers Tod 1955 allerdings spielte er Alt und Tenor gleichberechtigt und nahm gerne an Parker-Tributes teil. „Er ist ein neuer Bird in dem Sinne, dass er das Wesen Parkers verkörpert“, meinte der Bebop-Pionier Kenny Clarke. Sogar „Bird“ selbst hatte kurz vor seinem Tod zu Stitt gesagt: „Mann, ich werde nicht lange hier sein. Du machst weiter. Ich hinterlasse dir den Schlüssel zum Königreich.“ So ähnlich sprach Jesus einst zu Petrus.

Stitt beherrschte alle Stilmittel Parkers: seine eigenwillige Intervallsprache, seine scheinbar endlosen Sechzehntelläufe, seine Blues-Phrasierung. Und doch konnte man Stitt immer identifizieren: am gedeckteren Ton, an der geradlinigeren Rhythmik, an der Forcierung des Swing. Als er aufs Tenor wechselte, traten diese individuellen Elemente noch deutlicher hervor. Ohne die melodische Geste des gelernten Altisten zu verlieren, suchte Stitt auf dem Tenor den direkten, swingenden, harten Offensiv-Ritt. Hier entfaltete er Wirkung: Für die jüngeren Tenoristen – ob Coltrane, Rollins, Henderson, Lateef, Mobley, Ervin, Moody, George Coleman oder Charles Lloyd – wurde er ein prägender Einfluss. Im Zwei-Tenor-Team mit Gene Ammons erneuerte Stitt von 1949 bis 1951 die Kampfmoral der Tenor-Battles und bereitete den Boden für die zupackende, erdige Ästhetik des Hardbop.

Schlank und groß gewachsen, entwickelte sich Stitt in den folgenden Jahrzehnten zum einsamen Revolverhelden und verbissenen Präriewolf. Er zog von Tenor-Kampf zu Tenor-Kampf und vertraute darauf, beim Showdown der Schnellere zu sein. Die Duelle mit Gene Ammons waren dafür ein gutes Training gewesen: Ammons galt, wie der Produzent Joel Dorn schreibt, als „Chef-Attentäter des Genres. Die beiden hinterließen eine Spur von Leichen.“ Stitt kämpfte gegen die Besten – gegen Coleman Hawkins und Lester Young, Dexter Gordon und Wardell Gray, Illinois Jacquet und Eddie „Lockjaw“ Davis – und lief bei den JATP-Jams zu Höchstform auf. Im Dezember 1957 engagierte Dizzy Gillespie ihn und Sonny Rollins für die Platte „Sonny Side Up“ und versäumte nicht, die beiden Sonnys vorher richtig scharf aufeinander zu machen. Es wurde mit harten Bandagen gestritten – besonders in Stitts Stück „The Eternal Triangle“, dessen Ruhm auf diese Aufnahme zurückgeht. Wer letztlich Sieger blieb? Der Musikautor und -biograph David Ritz beteuert, dass die Platte „Sonny Side Up“ ihn vom Rollins-Fan zum Stitt-Fan gemacht habe.

Sonny Stitt hatte fast nie eine feste Band, fast nie ein festes Label. Er zog als Loner durch die Staaten und suchte sich vor Ort seine Musiker. Keiner reiste so viel, spielte in so vielen Clubs, kannte so viele Stücke. Eine Zeit lang versuchte er sich in Souljazz mit Orgel, aber ein Innovator war er nicht. Seine Originals schrieb er spontan im Studio, meist auf der Basis des Blues oder der „Rhythm Changes“, denn er fürchtete das Komponieren im stillen Kämmerlein: „Du kannst dich hinsetzen und machen und machen und kommst nie zu einem Ende.“ Stitt war ein Session-Kämpfer, ein Langstreckenläufer: Im 15. Solochorus auf der Live-Bühne fühlte er sich am wohlsten. „Man hat mich manchmal einen Langweiler genannt, weil ich an nichts anderes denken kann als daran, Jazz zu spielen. Ich spiele schon mal Schach oder Monopoly oder gehe ins Kino, aber ich lebe ein ruhiges Leben – bis auf den Jazz.“ Auch am amerikanischen Unabhängigkeitstag 1982 stand Sonny Stitt auf der Bühne. Da gab es noch keine Diagnose. Keine drei Wochen später war er tot. Er war es gewohnt, rasch abzureisen.

© 2004, 2025 Hans-Jürgen Schaal


Bild

16.09.2025
JAZZ-Themen: JOHN McLAUGHLINs "Electric Guitarist" (Fidelity), JAHRGANG 1925: ZOOT SIMS, GIGI GRYCE, BENNY BAILEY (Image Hifi)

15.09.2025
KLASSIK-Themen: HARMONIEMUSIK (Fidelity), SINFONISCHES BLASORCHESTER (Neue Musikzeitung), TODESKULTIGES UM 1900 - RACHMANINOV, MAHLER, SAINT-SAENS (Fidelity), WAGNER, GLASUNOV, TSCHAIKOVSKY (Bochumer Symphoniker). Rezensionen: KLAVIERMUSIK CHINESISCH-STÄMMIGER KOMPONISTEN, GOFFREDO PETRASSI (beide: Fidelity)

07.09.2025
ROCK-Themen: JETHRO TULL - Rockband mit Flöte (Brawoo), GUNS N' ROSES & Richard Cheese (Fidelity), EMERSON LAKE & PALMER & Prokofiew (Image Hifi), PINK FLOYD - 50 Jahre "Wish You Were Here" (Fidelity)

28.08.2025
Neue JAZZ-Rezensionen: MAJID BEKKAS, OZMA, KRISTINA 4, RENNER (alle: Fidelity), FABIA MANTWILL, VINCENT MEISSNER, MARK MASTERS, GISELA HORAT, ANDREAS HADDELAND, ARBENZ & SHEPPARD, OLESCH & KONERTZ, MATTEO PAGGI (alle: Jazzthetik), SCHWARZ-BART & PRIVAT, PETER HEDRICH, BAUER & KALIMA (alle: Jazz thing bzw. jazzthing.de)

mehr News

© '02-'25 hjs-jazz.de