 Er war Musiker, Talent Scout, A&R-Manager. Nur 44 Jahre alt wurde Ike Quebec und ist heute fast vergessen. Doch die Geschichte des Labels Blue Note wäre ohne ihn wohl völlig anders verlaufen.
Ike Quebec (1918-1963)
Wie ein Saxofonist einer Plattenfirma den Weg zeigte
(2022)
Von Hans-Jürgen Schaal
Alfred Lion, der Gründer der Plattenfirma Blue Note, mochte die amerikanischen Bigbands nicht. Gelegentlich schimpfte er auf „die sensationsheischende und kommerzielle Ausstaffierung“ der großen Swing-Orchester und ihrer maßlos populären Stars. Er, der geborene Berliner, sah den Jazz lieber als eine authentische Kunstform und sich selbst als eine Art Mäzen. Den Jazzmusikern begegnete er mit Respekt, er bot ihnen seine Freundschaft an. Ende des Jahres 1938 hatte Lion die große Konzertveranstaltung „Spirituals to Swing“ in der New Yorker Carnegie Hall besucht, begeistert hörte er die dort auftretenden Boogie-Pianisten. Nur zwei Hände und ein Klavier – das war für ihn das Echte und Authentische. Dieses Konzert wurde zur Initialzündung für seine Produzentenkarriere. Wenige Tage danach mietete er ein Tonstudio und lud zwei der Boogie-Helden aus der Carnegie Hall ein, für ihn Aufnahmen zu machen: Albert Ammons und Meade Lux Lewis. Die Geschichte des Labels Blue Note, das später für seine Hardbop- und Souljazz-Platten weltberühmt werden sollte, begann Anfang 1939 mit Boogie-Woogie-Klavier.
Der Produzent von Blue Note bewies dabei ein gutes Näschen fürs Kommende. Im Lauf des Zweiten Weltkriegs sollten die kommerziellen Bigbands tatsächlich Schritt um Schritt an Popularität verlieren. Desto beliebter wurden bei den Jazzfans die kleinen Besetzungen, die mit den Errungenschaften des Swing-Stils experimentierten und ausgiebig jammten. Immer mehr Bigbandmusiker fanden sich nach Feierabend oder an ihrem freien Tag in den Clubs zusammen, um neue Ideen zu erproben, fern von den großen Tanzsälen. Auch die erfolgreichsten Bigband-Chefs wie Benny Goodman und Artie Shaw kultivierten nebenher ihre kleinen, abenteuerlustigen Besetzungen, in denen spontan und authentisch improvisiert wurde. Die Lokale auf der Fifty-Second Street in New York – der „Swing Street“ – brummten vor Leben und Kreativität. Alfred Lion war davon begeistert – und begann, diesen Spirit auch auf seinem Label einzufangen. Er nannte die kleinen Besetzungen „Swingtets“.
Der Sound spricht zu dir
Einer der Musiker, die ein solches „Swingtet“ für Blue Note ins Studio führten, war der junge Tenorsaxofonist Ike Quebec [sprich: Kjubeck]. Ursprünglich war das Klavier sein Instrument gewesen – aber angesichts von Tastenvirtuosen wie Teddy Wilson war Quebec klar geworden, dass er nicht das Zeug zum großen Pianisten hatte. Deshalb wechselte er aufs Tenorsaxofon, das um 1940 schwer in Mode kam. Solisten wie Coleman Hawkins, Ben Webster oder Lester Young waren Vorbilder für die ganze Szene. Vor allem Hawkins und Webster hatten es Quebec angetan. Zwar konnte er sich nicht mit Hawkins’ Spieltechnik und Improvisationsstrategie messen – aber wer konnte das schon? Was ihn an Hawkins und Webster am meisten beeindruckte, das war ohnehin ihr schwerer, vitaler, kraftvoller Sound – und einen solchen versuchte er selbst am Saxofon zu entwickeln. „Der Sound wurde für mich sehr wichtig“, erzählte Quebec später. „Egal was für verrückte Ideen einer auch hat: Wenn ihm der Sound fehlt, spricht er nicht zu mir.“
Quebec besaß das Talent, dem Saxofon tatsächlich das Entscheidende zu entlocken: Sound, Kraft, eine eigene Stimme. Nach kürzester Zeit wurde er von einigen berühmten Bandleadern als Solist engagiert. Als er dann für Blue Note erstmals mit einem eigenen Quintett ins Studio ging, spielte er das Tenor gerade erst seit zwei Jahren. „Er hatte einen großen, rauchigen Ton, der markant und leicht wiederzuerkennen war“, schreibt der Journalist Alex Henderson. „Und in langsamen Bluestiteln, in sexy Balladen und aggressiven Uptempo-Stücken war sein Spiel ziemlich überzeugend.“ Einer dieser langsamen Blues hieß „Blue Harlem“ und wurde 1944 ein kleiner Schellack-Hit für das Label Blue Note. Quebecs kräftiges Saxofon und Tiny Grimes’ heulende elektrische Gitarre geben dabei den Ton an, und das Ganze ist schon nahe beim Rhythm’n’Blues. Mindestens fünfmal ging Quebec zwischen 1944 und 1946 für Blue Note ins Studio. Alfred Lion nannte ihn bald einen seiner besten Freunde.
Aus den Smallband-Experimenten der Kriegszeit ging auch der Bebop hervor. Eine kleine Gruppe junger Virtuosen hatte in einem Musikerlokal in Harlem so etwas wie einen gemeinsamen Stil entwickelt – es war der Beginn des modernen Jazz. Ike Quebec fand, dass sich sein Freund Alfred Lion dieser Sache widmen sollte. Als ehemaliger Pianist hatte Quebec besonders für die Klaviertalente ein offenes Ohr. Drei der führenden Bebop-Pianisten – allesamt Pioniere des neuen Stils – hat er zwischen 1947 und 1949 an das Label Blue Note vermittelt: Thelonious Monk, Tadd Dameron und Bud Powell. Zur ersten Blue-Note-Session von Monk (Oktober 1947) steuerte Quebec sogar zwei eigene Stücke bei: „Evonce“ und „Suburban Eyes“. Es gelang ihm bei dieser Session auch, seinen Neffen Danny Quebec West als Altsaxofonisten in die Studioband einzubringen. Für Alfred Lion war Ike Quebec mehr als nur eine Vertrauensperson. Er war Talent Scout, A&R-Berater, Studio-Arrangeur und Produktionsassistent. Für die Entwicklung des Labels Blue Note sollte die Begegnung mit den Bebop-Pianisten richtungsweisend werden.
Auszeit und Comeback
Neben den Solisten des Bebop hatte ein spät berufener „Blues-Swinger“ wie Ike Quebec als Saxofonist wenig Chancen. Ihm fehlte die Virtuosität, die Spieltechnik für diesen komplizierten modernen Jazz. „His style was out of style“, schreibt der Blue-Note-Historiker Richard Cook. In den folgenden Jahren verlor Quebec daher ein wenig den Boden unter den Füßen. Er bekam vorübergehend Drogenprobleme, musste seine Club-Auftrittserlaubnis („Cabaret Card“) abgeben, jobbte als Taxifahrer. Doch sein Gespür für Trends verlor er nie. Als der Hardbop-Stil, für den Blue Note in den späten Fünfzigern bekannt war, immer erdiger, elementarer und souliger wurde, witterte Quebec Morgenluft: Starke, ungekünstelte Saxofonstimmen schienen im Souljazz wieder gefragt zu sein. Alfred Lion wollte seinem alten Freund eine Chance geben und lud ihn 1959 ein, ein paar Singles aufzunehmen – als eine Art Versuchsballon. Mit Erfolg: „Ich freute mich festzustellen, dass sich nicht nur viele Leute noch an Ike erinnerten, sondern dass auch die, die ihn nicht kannten, von seinem Spiel verblüfft und begeistert waren“, schrieb Lion.
1961 entstand Ike Quebecs Comeback-Album für Blue Note – es hieß „Heavy Soul“. Richard Cook nennt die Platte „eine hervorragende Rehabilitierung“: „Der fette, teils schläfrige Ton suggeriert Kraftreserven hinter der beherzten Improvisation.“ Statt eines Pianisten hat Quebec hier einen Orgelspieler in der Band, Freddie Roach – auch ihn hatte er für das Label entdeckt. Ike Quebec, Blue Notes heimlicher Talentsucher, galt bald als der ideale Saxofonist für Orgelcombos. Unter den Hammondspielern, mit denen er arbeitete, waren auch Edwin Swanston, Sir Charles Thompson und Earl Van Dyke. Auf zwei Platten des Hammond-Übervaters Jimmy Smith war Quebecs erdiges, direktes Spiel ebenfalls zu hören. Auch als A&R-Manager war er erfolgreich: 1960 brachte er den Saxofonisten Dexter Gordon nach dessen langer Auszeit zum Label Blue Note. Doch Ike Quebecs zweite Karriere endete ganz plötzlich. Anfang 1963 starb er an Lungenkrebs. Ein Schlag, der dazu beitrug, dass Alfred Lion bald danach die Freude am Produzieren verlor.
© 2022, 2025 Hans-Jürgen Schaal
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