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Die Kritiker haben diese Band nie gemocht. In ihren Klangabenteuern vermissten sie Sinn, Ziel, Zweck und tiefere Bedeutung. Doch das sollte humorvollere Menschen nicht davon abhalten, ins Land Utopia zu reisen. Man kann sich dort prächtig amüsieren.

Disneyland des Rock’n’Roll
Über Todd Rundgrens Prog-Projekt Utopia
(2017)

Von Hans-Jürgen Schaal

Als ich zum ersten Mal das Wort „Eklektizismus“ hörte, war das im Zusammenhang mit Todd Rundgren. Der Begriff wurde praktisch für ihn erfunden – einen Musiker, den die Presse einmal einen „Alles- und Nichtskönner“ nannte. Der Amerikaner aus Pennsylvania ist ein Multi-Multitalent zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen Superstar und Nerd. Er hat Größen wie Meat Loaf und Patti Smith produziert, er ist Studiotüftler, Toningenieur und Technikpionier, ein Multimedia-Crack und Computer-Programmierer. Er ist außerdem Sänger und Gitarrist, beherrscht auch sämtliche (!) anderen Instrumente, ist Komponist, Songschreiber, Texter, Bandleader. Doch wer ihn musikalisch einordnen will, muss scheitern. Denn Todd Rundgren macht alles – Funk und Punk, Britpop und Progrock, Songwriter-Stoff und Instrumentalmusik –, und er macht nichts auf Dauer. „Sobald die Leute anfangen, etwas Bestimmtes von mir zu erwarten“, sagt der heute 69-Jährige, „fühle ich mich genötigt, etwas anderes zu tun. Sobald ich einen Hit habe, kann ich dasselbe nicht noch einmal machen.“

Viele vermissen bei ihm das Rückgrat hinter der Fassade – eine gewisse Ernsthaftigkeit, eine Überzeugung. Vielen gilt er als Heuchler und Scharlatan. Denn Rundgren ist ein musikalisches Chamäleon, das sich durch alle Trends hangelt – eine kreative Musik-Recycling-Maschine, ein Bündel von Widersprüchen. Selten klingt seine Musik wirklich originär – er ist ein genialer Plagiator, Abkupferer und Parodist. Das Spiel ist das Ziel. Schrill und unberechenbar – ein Talmi-Zappa, ein Glam-Sakamoto, eine Kunstfigur des Pop, schwer zu fassen. Dieser Künstler steht für nichts als für sich selbst. Er ist ein dauerhaft Verrückter, der auf jeden Zug aufspringt und jede Mode adaptiert. Einfach geschmacklos, einfach kultig.

Als zu Beginn der 1970er Jahre das Komplexe in der Rockmusik angesagt war – Progressive Rock, Rock-Jazz, Fusion –, sprang Todd Rundgren natürlich auch auf diesen Zug auf. Er erinnert sich: „Es wurde deutlich, dass John McLaughlins Mahavishnu Orchestra die Musik war, die jedermanns Aufmerksamkeit zu fesseln begann. Dieses ganze Fusion-Ding wurde damals charakteristisch für die gesamte Musikszene.“ Also ging auch Rundgren hin und startete sein eigenes Fusion-Prog-Projekt: Utopia. Den Kern der Band bildeten Musiker, mit denen er ohnehin gerade arbeitete – die beiden Keyboarder Mark „Moogy“ Klingman und Ralph Schuckett, der Bassist John Siegler, der Drummer Kevin Ellman. Später wurden der Keyboarder Roger Powell, der Drummer John Wilcox und der Bassist Kasim Sulton Mitglieder der Band. Die Utopia-Musiker begleiteten Rundgren auch auf seinen Soloplatten: „A Wizard, A True Star“ (1973), „Todd“ (1974), „Initiation“ (1975), „Faithful“ (1976). Bei Konzerten spielte die Band einen Repertoire-Mix aus Utopia-Stücken, Rundgren-solo-Songs und diversen Coverversionen.

Utopia war eine echte Band, ein kollektives Unternehmen. Klar: Rundgren hatte das Sagen. Er stellte seinen Namen voran, um die Formation auf die Beine zu stellen, er schrieb die Songtexte, gab den Stücken ihre Titel, machte das Editing und die technische Finalisierung. Aber alle Musiker steuerten fürs Debütalbum ihre Ideen bei, und das Studio war jederzeit zugänglich – es befand sich in der Loft-Wohnung des Band-Keyboarders „Moogy“ Klingman in der 24th Street, an der Grenze zwischen Midtown und Downtown Manhattan. Der Bassist John Siegler erinnert sich: „Jeder, der Musik parat hatte, konnte sie einbringen. Todd war total offen dafür.“ Rundgren selbst sagt: „Wir konnten jederzeit ins Studio gehen. Dann hieß es: Hat irgendwer irgendwas? Einer hatte eine kleine Idee, an der er gerade arbeitete, ein anderer einen ganzen Song, und dann probierten wir aus, ob das eine vielleicht als Teilstück ins andere passte.“

Das schillernde Debütalbum Todd Rundgren’s Utopia erschien im Oktober 1974 und enthielt vier Stücke – drei davon waren allerdings über 10 Minuten lang. Den Rekord stellt „The Ikon“ (30:24) auf, eine der längsten Nummern, die jemals auf eine LP-Seite gepresst wurden. (Rundgren übertraf die Marke im Folgejahr mit „A Treatise On Cosmic Fire“ auf dem Soloalbum „Initiation“.) Die Musik – mit drei Keyboardern! – bietet ein Wechselbad aus Pathos und Parodie, Space-Funk und Ragtime, virtuosen Riffs und ausgedehnten Improvisationen im Jazzrock-Stil. Ständig wechseln Rhythmus und Stilistik – es ist ein atemberaubendes, schrillbuntes Prog-Fusion-Theater. Von Klingman und Siegler stammte das Stück „Freak Parade“ (10:18): „Todd hatte uns ermutigt, bizarre, wilde Musik zu schreiben“ – der Bandleader selbst steuerte hier nur die Lyrics bei. Einer kollektiven Bastelarbeit ähnelt „The Ikon“, das aus fünf oder sechs Stückfragmenten der Band zusammengesetzt wurde. „Im Konzert wuchs der Titel bis auf 90 Minuten an“, verrät Rundgren. Von den ausgedehnten Improvisationen in den Konzerten gibt der Opener „Utopia Theme“ eine Vorstellung – er wurde live in Atlanta aufgenommen.

Das Debütalbum kam in den USA zwar in die Top 50, wurde von den Kritikern aber in Grund und Boden verdammt. Für die verspielte, leichtsinnige, poppige und fast parodistische Art, wie Rundgren und seine Band hier mit Versatzstücken des Prog- und Fusion-Rock umgingen, besaßen viele Profi-Hörer nicht genug Humor. Rundgren prägte den kultigen Satz: „Wir sind das Disneyland des Rock’n’Roll.“ Und mit dem nächsten Utopia-Album setzte er sogar noch eins drauf: Rock-Virtuosen machen Disco-Musik! Ein Arrangement der Erkennungsmelodie von „Star Trek“ („Raumschiff Enterprise“), das Rundgren spaßeshalber angefertigt hatte, bildete die Initialzündung zum Album Disco Jets. Innerhalb weniger Tage entwickelte die Band (nun ein Quartett) neun weitere Nummern im spacigen Disco-Sound von 1976 – mit experimentellen Synthesizern und rockenden Improvisationen. Die Stücke heißen „Cosmic Convoy“, „Space War“ oder „Black Hole“ – Science Fiction ist Trumpf. Ein großer, eklektizistischer Spaß, wie der Keyboarder Roger Powell berichtet: „Ich musste so viel lachen, dass mir die Tränen kamen“. Doch Rundgrens Plattenfirma verstand den Witz nicht. Sie verweigerte die Veröffentlichung, und „Disco Jets“ erschien erstmals im Jahr 2001.

Stattdessen kam Anfang 1977 das Album Ra auf den Markt, das noch einmal ausgeprägt proggige Elemente enthielt. Bombast und Satire, Hardrock und Chorgesang, Glamour und Theatralik: Dieses Album ist ein übermütiger Grenzgang zwischen Queen und Zappa. Den Anfang macht übrigens ein Thema aus Bernard Herrmanns Filmmusik zum Streifen „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, übersetzt in die Klangwelt der Siebzigerjahre-Synthesizer. Am Schluss des Albums wartet sogar ein abwechslungsreicher Longtrack (18:24) mit dem schönen Titel „Singring And The Glass Guitar (An Electrified Fairytale)“. Diverse Minisongs und eine verfremdete Sprechstimme erzählen hier eine groteske Geschichte – inklusive bizarrer Choreinsätze, schräger Keyboardfarben und raffiniert chromatischer Instrumentalstellen. Ein echter Rundgren also: kreatives Musik-Recycling, schrill, witzig und trashig. Ausgedehnte Solostellen für alle vier Instrumentalisten gibt es außerdem. „Ra“ war bei weitem nicht das letzte Utopia-Album, aber das letzte mit progressivem Einschlag. Die Band durchlief danach diverse Stil-Metamorphosen – wie sollte es bei Todd Rundgren anders sein? – und machte 1985 ihr zehntes und letztes Studioalbum. Die jüngste Reunion von Utopia fand 2011 statt.

© 2017, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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