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"Hätte er nicht dieses überragende musikalische Talent gehabt, wäre er vielleicht zum Selbstmörder geworden. 'Leiden gebiert Schönheit': Dies könnte die innerste Wahrheit von Stan Getz sein."
- Spike Milligan, ein Freund

Das sanfteste Saxophon der Jazzgeschichte war nur eine Maske. Hinter den blauen Augen und dem blendenden Erfolg von Stan Getz (1927-1991) verbarg sich ein tief depressiver, alkoholkranker und gewalttätiger Mensch. Mister Cool? Von Coolness keine Spur.

SAX UND SUCHT
Über den Saxophonisten Stan Getz und die seelischen Abgründe seiner Kunst

Mit leichtem Ton und blühender Melodik segelte Stan Getz ein halbes Jahrhundert lang durch die Chorusse, verzauberte Cool Jazz und Bossa Nova in klingende Träume für ein Weltpublikum. Improvisierend verband er einen hohen, beinahe kompositorischen Anspruch mit einer immensen kommerziellen Eingängigkeit. Darin war Stan Getz Perfektionist: So emotional seine stille Musik wirkte, so wenig sprach sie von seinen eigenen Gefühlen. Er inszenierte Emotionalität. Stans beste Soli erinnern an kristalline Gebilde, die organische Formen nachahmen und sie womöglich noch übertreffen.

Sein kompetentester Kritiker, Michael James, verglich die Schönheit von Stans Musik mit derjenigen von Asteroiden im leeren Weltall: Schon 1957 sah er in dem Saxophonisten ein extremes Beispiel für "das gleichzeitige Bedürfnis nach Verheimlichung und Darstellung von Gefühlen". Denn Stan beherrschte sein Innenleben nicht, es beherrschte ihn. Die Musik war seine Rettung: Hier konnte er beredt von seinen Gefühlen schweigen.

Wie hellsichtig Michael James' Worte waren, bestätigt die neueste Stan-Getz-Biographie des Amerikaners Donald L. Maggin. Zum ersten Mal blicken wir tief in die seelischen Abgründe einer Musik, die immer nur sanft, ausgeglichen und gewinnend daherkam. Zum ersten Mal erhalten die vielen Gerüchte und Anekdoten über Drogenkonsum, Gewalttätigkeit, Depressionen und schizophrene Anwandlungen eine Basis. Autor Maggin hat mit einem ganzen Stab von Mitarbeitern kräftig in Stan Getz' Privatleben gestöbert und Details zu Tage gebracht, die auch auf den, der es immer schon geahnt hat, schockierend wirken.

Die Mutter und die Bronx (1927-1944)

Der Vater war russisch-jüdischer Immigrant in der zweiten Generation, meist arbeitslos und unfähig, die Familie zu ernähren. Man zog aus einer schlimmen Gegend der Bronx in die schlimmste, im sozialen Umfeld blühte die Kriminalität, weiterer gesellschaftlicher Abstieg drohte. Schon bei seiner Geburt im Jahr 1927 war der erste Sohn der Familie Getz daher zum Hoffnungsträger bestimmt: Die Mutter, als Braut eine Schönheit, bald aber von Leben und Ehe enttäuscht, projizierte alle ihre Glücks-Erwartungen in den kleinen Stanley. Der Junge, fand sie, sollte zumindest Arzt werden, er sollte in der Schule immer der Beste sein und sich stets peinlich ordentlich kleiden. Bei den wilden Straßenkindern der Bronx hatte Stan damit einen schweren Stand, aber er lernte es, sich zu wehren, zu lügen, andere einzuschüchtern.

Wer will, kann in dieser Vorprägung schon den späteren Künstler Stan Getz erkennen. Was der Junge an höchsten Maßstäben und Erwartungsdruck auf sich nahm, legte er nie mehr ab: Er wollte der Beste sein. Da die Mutter ihren "Kronprinzen" stets bevorzugt und verwöhnt hatte, entwickelte Stan ein Leben lang Schuldgefühle, wann immer er zu versagen glaubte, und war zugleich gegen Kritik von außen überempfindlich bis zur Gewaltanwendung. Noch als 60jähriger übte Stan harscheste Selbstkritik; sein letzter Produzent Jean-Philippe Allard berichtet: "Es war immer die gleiche Leier. Er war immer unzufrieden mit seinen eigenen Aufnahmen, er klagte immer, er sei nicht gut genug." Sein europäischer Touragent Billy Hoogstraaten erzählt: "Stan konnte nach dem wunderbarsten Konzert von der Bühne kommen und sagen: 'This was shit tonight. I was nothing. Ihr Jungs habt großartig gespielt. Ich habe nicht eine einzige Note richtig hingekriegt." Ein beinahe pathologischer Perfektionstrieb ließ ihn, unabhängig von Erfolg oder Mißerfolg, immer wieder in schwere Depressionen fallen: "Ich bin nichts wert, ich kann nur ein bißchen Musik machen". Eine Zeitlang wurde Stan Lithium verordnet, ein Standard-Medikament für Manisch-Depressive.

Kritik von außen empfand er hingegen als Angriff auf seinen guten Willen, seine lauteren Absichten, seine hohen, von der Mutter eingeimpften Vorgaben. In anderen Menschen witterte er stets Feindschaft, Aggression und Abneigung, und er begegnete ihnen vorsorglich mit Kälte und Distanz oder Bosheit und Handgreiflichkeiten. Daß er Kellner verprügelte, weil ihm die Speisekarte nicht gefiel, gehört zu den alltäglichen Anekdoten aus Stans Leben. Da er sich auf diese Weise keine Freunde machte, hatte er auch immer öfter guten Grund, bei anderen Menschen Vorbehalte gegenüber seiner Person zu vermuten. Allard erzählt von einer der letzten Plattenaufnahmen Stans in Paris: "Alle hatten Respekt und Angst vor ihm, weil er diesen schlechten Ruf hatte. Mit seinen blauen Augen konnte er einen ziemlich einschüchtern, er konnte sehr kalt sein. Er wußte, wie er diese Waffe einzusetzen hatte. Es war eine Art Selbstschutz. Er ging immer davon aus, daß du etwas gegen ihn hättest. Und er war ein guter Lügner." Ein Freund bestätigt: "Es fiel ihm schwer, enge Bekanntschaften zu schließen, weil er immer Angst hatte, verletzt zu werden." Ehefrau Monica: "Außerhalb seiner Welt der Musik fühlte er sich verletzbar und verloren."

An seinem 14. Geburtstag kaufte sich Stan sein erstes Tenorsaxophon. Danach gab es nur noch die Musik, die nicht nur ihn, sondern tatsächlich auch seine Eltern ernährte. Mit 16 verdingte sich das Ausnahmetalent in Jack Teagardens Big Band und fuhr mit diesen abgebrühten Jazzmusikern ein Jahr lang von Auftritt zu Auftritt. In kürzester Zeit war Stan dem Alkohol verfallen, der ihm half, den Tourstreß wegzustecken und wachzubleiben. Viele meinen, er sei zur Sucht prädestiniert gewesen: Mit Alkohol verdrängte er seine Schuldgefühle und Ängste, öffnete ihnen ein Ventil in Zornausbrüchen und konnte die Schuld auf andere projizieren. Danach packte ihn meist die Reue, er fiel in Depressionen und neue Schuldgefühle und griff erneut zur Flasche: ein Teufelskreis. Der Alkoholkonsum nahm besonders schlimme Ausmaße an, wenn Stan mit seiner Mutter konfrontiert war: Da überwältigten ihn die Depressionen. Beim ihrem Tod 1961 war er zehn Tage lang betrunken und schlug sich während der jüdischen Trauerzeit mit Verwandten die Köpfe ein.

Junkie-Elend (1944-1956)

Mit 16 Jahren war Stan jeden Abend bis zur Bewußtlosigkeit alkoholisiert. Während er in Los Angeles auf seine Union Card warten mußte, betätigte er sich vor allem als betrunkener Randalierer. Auch die Nikotinsucht begann damals: Bis kurz vor seinem Tod sollte Stan Getz täglich eine Schachtel Zigaretten rauchen, das macht in fast 50 Jahren mehr als 17.000 Päckchen. In der Band von Stan Kenton, 1945, kam das Heroin hinzu und dämpfte die stetige Angst vor dem Publikum, vor dem Versagen. Unvergeßlich war Stan sein erster öffentlicher Auftritt geblieben, als er 12jährig mit der Mundharmonika in der Schulaula spielte: Da hatte er sich buchstäblich in die Hose gemacht. Stan haßte es ein Leben lang, vor Publikum zu sprechen, die Nervosität vor Konzerten legte er nie ab. Heroin gab ihm ein Gefühl der Unangreifbarkeit und Allmacht, das die Gedanken ans Publikum ausblendete. "Wenn ich Heroin nahm, schien es alle anderen auszusperren, und ich konnte mich besser auf meine Musik konzentrieren."

In der Band von Woody Herman schließlich wurde die Heroinsucht zur modisch-kühlen Attitüde. Die blutjungen Musiker der "Four Brothers"-Band gaben sich unbeteiligt, arrogant und kommunikationsfaul. Der Kritiker Barry Ulanov beschrieb 1950, wie er den "kühlen Jazz" - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst - empfand: "Seine Komponenten waren eine Entspannung des ganzen Körpers, die die Zurückhaltung im Ton begleiten sollte, und ein gleichgültiger Gesichtsausdruck, der schon an Apathie grenzte. Die phlegmatischen Figuren der Woody-Herman-Band von vor zwei Jahren ließen erwarten, daß die Coolness bald zur Frigidität würde, so blasiert schienen diese Musiker, wenn sie sich bewegten oder eher umherschlichen, um ihre Arbeit zu tun." Ulanov beschrieb - wissentlich oder nicht - eine Versammlung von Junkies.

In der Big Band war die Versorgung noch gesichert. Doch als Stan Getz sein eigener Bandleader wurde und selbständig durch die Klubs tourte, sah er sich täglich drei Notwendigkeiten gegenüber: Er brauchte Stoff, er brauchte Geld, und er brauchte eine Gelegenheit, die Spritze zu setzen. Das hieß: Angst vor der Polizei, lebensgefährliche Konfrontationen mit Dealern, stundenlanges Suchen nach sicheren Orten und Verstecken. Die Droge bestimmte sein ganzes Handeln und Denken, und Täuschung und Lüge waren lebensnotwendig. Jimmy Raney verließ deshalb die Band, später Bob Brookmeyer. Stans Ehe mit der Sängerin Beverly Byrne wurde zusehends zur Notgemeinschaft zweier haltloser Junkies. Mehr als 1.000 Dollar in der Woche verdiente der gefeierte Jazz-Star 1952 (in heutigen Dollars das Dreifache), davon gab er die Hälfte für Heroin aus. Er war ständig pleite, und seine junge, bereits dreiköpfige Familie lebte unter miserablen Bedingungen.

Der Bassist Bill Crow berichtet, wie Stan 1952 auf einer Party in der Bronx nach einem Heroinschuß kollabierte und nur mit Mühe ins Leben zurückgeholt wurde. "Heroin wirkte bei Stan anders als bei den meisten Junkies, die ich kannte. Die anderen wurden einfach passiv und abwesend, wenn sie high waren. Stan hatte ein angenehmes Wesen, solange er nüchtern war, aber wenn er Drogen nahm, konnte er im einen Augenblick vor Rührseligkeit zerfließen und im nächsten kalt, mißtrauisch und grausam sein." Im Jahr darauf wurde Stan tatsächlich von der Drogenpolizei erwischt. Kurz vor dem angesetzten Prozeßtermin im Februar 1954 und der zu erwartenden Haftstrafe versuchte er den Selbstentzug: Schlaftabletten sollten ihm helfen, sein Tour-Manager durfte ihm kein Geld auszahlen. Der Versuch schlug gründlich fehl: Stan beschimpfte seine Mitmusiker, wußte nicht mehr ein noch aus und überfiel schließlich einen Drugstore, um an Morphium zu kommen. Er wurde festgenommen, unternahm einen Selbstmordversuch und wurde nur durch einen schweren chirurgischen Eingriff gerettet. Während der sechs Monate Gefängnis reichte Ehefrau Beverly die Scheidung ein. Sie kam vom Heroin nie mehr los und starb mit 45 Jahren.

Kriegsjahre im Hause Getz (1956-1981)

Stan schien mehr Glück zu haben: Er verliebte sich in ein schwedisches Mädchen aus reicher Familie, eine blonde Schönheit, und heiratete sie 1956. Monica schien sein Engel zu sein: "Würde es sie nicht geben, wäre ich heute tot", so Stan, der brave Ehemann. Als er 1956 nach einer schweren Infektion Morphium erhielt, war es Monica, die für eine medizinisch überwachte Suchtbehandlung eintrat. Als er wegen Steuernachzahlungen und Krankenhauskosten 1957 pleite ging, nahm sie es in die Hand, Familienleben und Business zu ordnen, und schuf die Grundlagen für eine bürgerlich geregelte Existenz. Doch hinter den Kulissen sah es anders aus: Schon vor der Heirat mußte Monica erfahren, daß der Alkohol Stan unerbittlich im Griff hatte und seinen Charakter völlig umkrempeln konnte. Den Eindruck, Stan besäße verschiedene Persönlichkeiten, teilten viele: "Stan ist ein ganzes Sortiment von Menschen", meinte sein Kollege Zoot Sims. Bassist Bill Crow: "Ich wußte nie, was ich von ihm persönlich zu gewärtigen hatte." Produzent Allard: "Er hatte ein mentales Problem, das an Schizophrenie und Paranoia grenzte. Seine Persönlichkeit veränderte sich immer wieder. Er konnte gemein sein, er konnte sogar gewalttätig werden."

Die Geschichte von Stans zweiter Ehe ist auch eine Chronik der Gewalt: Regelmäßig ertränkte Stan seine Depressionen in Alkohol und rastete dann völlig aus. Schon vor der Verlobung zerschnitt er in einem solchen Anfall Monicas sämtliche Kleider. Am nächsten Tag kam es zur Versöhnung, aber kurze Zeit später suchte sein Zorn ein neues Objekt: Er zerschlug sein Lieblingssaxophon an einem Baum. Als Monica Alkohol und Pillen wegschüttete, wurde er auch gegen sie selbst handgreiflich. Einmal zerschlägt er alle Fenster und das Porzellan, Monica ruft die Polizei. Kurz nach der Grammy-Verleihung 1963 für sein Solo in "Desafinado" schlägt er Monica im Schlafzimmer blutig; sie verteidigt ihn vor den Kindern: Nur der böse Alkohol sei schuld. Kurze Zeit später greift er Monica sogar vor Gästen tätlich an, zerstört Lampen und Fenster. Als er sich im Gasofen das Leben nehmen will, rettet ihn sein Sohn Steve.

In der Familiengeschichte der Getz' heißen die 60er Jahre die "war years": Mit den Depressionen wuchs der Alkoholkonsum, mit dem Alkoholkonsum der Grad an Gewalt. Jeden Abend mußten Stans Söhne den Silberkrug voll Scotch bereitstellen: ein gefürchtetes Ritual, dessen Auswirkungen unabsehbar waren. Im Dezember 1965 verletzt sich Stan im Kampf mit Monica, vier Zehen bleiben bewegungslos. Einmal schleift er seine Frau an den Haaren durchs Haus, ein anderes Mal wird er von Tochter Beverly zur Besinnung gebracht, als er Monica im Bett würgt. Zwischendurch schlägt er sich auch mal mit seinem Schwager: Viermal muß die Polizei anrücken, ehe Stan in eine psychiatrische Abteilung gebracht wird. Als Monica ihn mit den Kindern vorübergehend verläßt, zieht er sich mit seinen Depressionen nach Spanien zurück und verwahrlost in kürzester Zeit.

Vergebens versuchte Monica immer wieder, ihn durch Entziehungskuren zu heilen. Er wurde nach vier Wochen als "nicht therapierbar" entlassen oder hielt sich an Kokain und Opiaten schadlos, die er in die Anstalt schmuggelte. Eine "intervention", zu der seine Freunde kamen, um offen über sein Alkoholproblem zu sprechen, endete als Fiasko: Stan begann zu trinken, randalierte und beschimpfte seine Gäste. In ihrer Verzweiflung begann Monica, ihm heimlich ein Mittel namens "Antabuse" ins Getränk zu geben, das zusammen mit Alkohol ein hochwirksames Gift bildet. Entgegen der Vorschriften setzte sie Antabuse ohne ärztliche Aufsicht und ohne Wissen des Patienten ein. Die davon ausgelösten Reaktionen wie Hautrötung, Herzrasen, Erbrechen, Schwäche und manchmal lebensgefährliche Zusammenbrüche ließen Stan schließlich daran glauben, er leide an einer "Alkohol-Allergie". Er mied den Whisky und kam zum Heroin zurück.

Die 70er Jahre gelten in der Chronik der Getz-Familie als die "golden years". Die Highlights: Beverly findet ihren Vater bewußtlos auf dem Tisch mit einer Spritze im Arm. Vor Gästen schlägt er seinen Hund, Tochter Pamela protestiert, erhält dieselbe Behandlung und verzeiht ihrem Vater erst nach seinem Tod. Oder er hat eine geladene Pistole und Munition bei sich, erfindet Lügengeschichten darüber, bedroht Monica mit der Waffe, setzt sie ihr an den Kopf. Als er mehrfach auf der Bühne zusammenbricht, schiebt er es auf seine "Schlafpillen", Dilaudid - in Wahrheit ein Morphium-Derivat.

1980 entdeckte Stan die heimliche Antabuse-Therapie: Er warf Monica Mordabsichten vor und begann wieder zu trinken. Im Mai feuerte er nach ein paar Gläsern alle Musiker und verletzte Monica mit einem Telefonhörer, den er an der Schnur wie ein Lasso schwang: Sie zeigte ihn an. Auf einer Europatournee warf er nach einem Streit ihren Paß weg. Im September griff er im Suff seinen Sohn Nicky an, der damals nach einem Unfall an Krücken ging: Er packte ihn am Hals und schlug ihn gegen eine Tür. Und in all dieser Zeit machte er sanfte, berückende, verzaubernde Musik: "Er sah so fit aus wie er spielte", schrieb ein Kritiker im Januar 1981. "Getz' glatter, heller Bernsteinton, an den Kanten zart gefedert, läßt alles, was er spielt, wie einen Song klingen, dessen Worte nur gerade nicht hörbar sind." Im Sommer 1981 reichte Stan die Scheidung ein.

Die Jahre der Scheidung (1981-1993)

Die Fronten waren klar: Stan fühlte sich als Opfer einer heimlichen und lebensgefährlichen "Therapie". Monica war überzeugt davon, daß Antabuse Stans Alkoholkonsum gedrosselt und Schlimmeres verhindert hatte. Nach allem, was hinter ihr lag, wollte sie die Scheidung keineswegs akzeptieren. Wie sie jahrelang gegen Stans Alkoholproblem gekämpft hatte, kämpfte sie nun - sogar mit Fernsehauftritten - gegen das amerikanische Scheidungsrecht. Als Stan ihr im Scheidungs-Krieg Ehebruch vorwarf, war die Grenze zur Absurdität erreicht: Schließlich war er es, der über Jahrzehnte hinweg vor den Augen seiner Ehefrau(en) seine Affären gehabt hatte. Erst zwei Jahre nach Stans Tod wurde der Scheidungsprozeß beendet, an dem die Anwälte etwa 1 Million Dollar verdienten.

Kaum hatte Stan die Scheidung eingereicht, als eine junge Frau bei ihm einzog: Schockiert erlebte sie seine Depressionen, seine Alkoholsucht, seine Kontakte zur Drogenszene hautnah. Jane, die selbst einmal dem Alkohol verfallen war, brachte Stan zu den Anonymen Alkoholikern: "Es kam bei ihm immer stoßweise. Man wußte nie, was passieren würde - ein rätselhaftes Verhalten. Manchmal nahm er Koks, aber er war nicht wirklich süchtig danach, es war sehr sporadisch. Der Alkohol veränderte ihn wirklich." Anders als Monica wurde Jane von Stan in ihrem Bemühen ernst genommen und auch nie physisch angegriffen. Er ließ sich auf neue Entziehungskuren ein und zeigte den ehrlichen Willen, trocken zu werden. 1983 platzte eine Europatournee mit Chet Baker, weil Baker soff und Stan auf Entzug war.

Nur ein paarmal noch wurde er rückfällig. Einmal, im August 1984, wurde sein lebenslanger Angsttraum wahr, als er an der Stanford University einen Vortrag halten mußte: Er blamierte sich vor Publikum. Selbsthaß, Selbstmitleid und Wut riefen nach Alkohol: Stan verwüstete das Haus seines Gastgebers, riß Gemälde von den Wänden, beschädigte sie, warf einen Mikrowellenherd durchs Fenster. Er trank zehn Tage lang am Stück. Danach war er vier Monate abstinent, ehe ein Streit mit Jane ihn wieder zur Flasche greifen ließ. Er war neun Monate abstinent, ehe ihn eine gescheiterte Aufnahme-Session wieder umwarf. Dann aber rührte er bis zu seinem Tod keinen Alkohol mehr an. Die Aufnahme wurde neu angesetzt, ihr Ergebnis war "Voyage", die erste Platte in Stans Leben, die ohne Alkohol- oder Drogeneinfluß entstand - und die bis dahin anstrengendste, weil kein Hilfsmittel den Fluß der Gedanken stoppte und die Konzentration erleichterte.

Mit der Abstinenz kamen die Depressionen wieder. Als im Mai 1987 Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert wurde, haderte Stan voller Selbstmitleid mit seinem Schicksal. Der Tumor wurde operativ entfernt, der Patient mit Morphium behandelt, und noch einmal meldete sich die Vergangenheit: "Er war wieder der alte Dämon und schmiß mit Aschenbechern um sich." Im Juni 1988 fand man Krebs in der durch Zirrhose geschädigten Leber und gab Stan noch maximal 12 Monate zu leben. Doch der hatte durch den Entzug gelernt, schwere Wege zu gehen und zu kämpfen: Statt der empfohlenen Operation, Strahlen- und Chemotherapie wählte er eine asiatische Behandlungsmethode mit Akupunktur, makrobiotischer Ernährung, Heilkräutern und Shiatsu-Massagen. Nach zwei Jahren war Stan noch immer am Leben, der Krebs schien besiegt, und er wollte noch einmal heiraten.

Der unter Kollegen meistgehaßte Saxophonist des Jazz wurde erst nach dem Entzug er selber. Was der 16jährige nicht entwickeln konnte, weil er in die Jazz-Szene schlitterte und über Nacht zum Star aufstieg, fand der 60jährige: Persönlichkeit. "Er war danach ein völlig anderer Mensch", sagte die Sängerin Diane Schuur. Stans letzter Förderer Herb Alpert bestätigt: "Ich habe den wahren Kerl kennengelernt." Am Ende seines Lebens nahm sich Stan vor, alle Menschen um Verzeihung zu bitten, die er jemals wie ein "asshole" behandelt hatte. Unter Musikern kursierte daraufhin der Witz, um dieses Vorhaben auszuführen, müßte Stan wohl ewig leben. Sein Sterben paßte zu ihm, denn es war begleitet von den Spannungen und Streitereien der anwesenden Verwandten und Freunde. Der erste Satz nach Stans Tod kam von Sohn Nicky: "Vergessen wir nicht, daß er nicht immer so ganz nett zu uns war."

© 2003 Hans-Jürgen Schaal

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